Am 13. März 2002 starb der große Philosoph. Wir erinnern uns vieler Stunden (meist wenn seine Frau Bridge-spielend unterwegs war) mit ihm in Heidelberg in der Grabengasse 9 mit von ihm mitgebrachtem, bereits dekandiertem Bordeaux und gedenken seiner, indem wir sein Hauptwerk in Kurzfassung (versuchen) in Erinnerung bringen:
Hans-Georg Gadamer, der sich selbst als unpolitischen Denker sah, hat die Philosophie stets vor politischer Anmaßung gewarnt.
Er unterließ kaum eine Gelegenheit, aus der Berufung der Philosophie jederzeit die entschiedensten Konsequenzen aus allem zu ziehen, die Rolle des Propheten hingegen oder des Besserwissers stehe ihr schlecht.
Gefragt, was ihm Rechtfertigung von Philosopie heute bedeute, war seine Antwort, sie stärke die Urteilskraft. Etwas, um das es in unserer von gemachten Meinungen umdröhnten Welt nicht zum Besten steht. Urteilen, für ihn war dies die Fähigkeit, ein gegebenes Besonderes so auf ein Allgemeines hin zu reflektieren, dass sich vertiefte Einsicht in beides einstellt.
Dafür gibt es keine Regel. Urteilskraft als Frucht freien Denkens kann nicht gelehrt, sondern nur geweckt werden, indem man sie von Fall zu Fall übt. Am besten im Gespräch, in der Spontaneität unvorbedachten Fragens und Antwortens.
Weltsinn statt Schulsinn, der schönste Ertrag von Erfahrung, auch wenn er nicht ohne Desillusionierung zu gewinnen ist. Denn Erfahrung macht nur der, dessen Erwartung durchkreuzt, der aus dem Immergleichen von Routine und Gewohnheit herausgestoßen wird. Das Unerwartete führt zu neuer Einsicht.
Gadamers Philosophie ist eine Philosophie des Gesprächs. Wie keine zweite in der neueren Philosophiegeschichte ist sie durch und durch sokratischen Wesens. Gadamer ist darin nicht nur ein exzellenter Praktiker, sondern auch der überragende Theoretiker.
Nirgend sonst findet man so zur verborgenen Wahrheit sich vorarbeitende Sätze über gesprochene Sprache und Gespräch wie bei ihm. Oft haben wir von ihm gleichsam als Stoßseufzer gehört über das Mit-sich-allein-Sein dessen, der zum Schreiben verdammt ist. „Es ist wahr, dass es etwa für mich eine fürchterliche Qual ist, schreiben zu sollen. Wo ist das Gegenüber, diese schweigende und dennoch beständig antwortende Anwesenheit des Anderen, mit dem man das Gespräch sucht, um das Gespräch mit sich selbst fortzusetzen, das man Denken nennt?“
Gespräch, für Gadamer war dies immer eine Art Gegenüberglück. Das Glück eines auf Verstehen bedachten, wechselseitig mitreißenden, denkend in die Tiefe der Sache vordringenden Miteinanders von Menschen, die nicht darauf aus sind, Recht zu haben, sondern Wahrheit und Gemeinsamkeit suchen.
Gibt es denn einen gesprächsunfähigeren als den, der beweisen will, dass, was er sagt, das Wahre sein müsse?
Unfähigkeit zum Gespräch ist Angst vor dem Gegenwort.
Ihre modernste Form ist die Flucht ins Selberreden, weil niemand mehr zuhören will – oder kann. Jener teils argumentative, teils affektive Rigorismus, der nur darauf zielt, das vom andern Gesagte mit Gegengründen stillzustellen, statt voranzubringen. Miteinander sprechen ist ein Nehmen und Geben und führt zur „Verwandlung ins Gemeinsame hin, in der man nicht bleibt, was man war“.
1960 veröffentlichte der Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer sein Hauptwerk Wahrheit und Methode, den großangelegten Versuch einer „philosophischen Hermeneutik“. Darin geht es ihm um „Wahrheit“ statt „Methode“ (verstanden als Verfahrensweise, die sachliche oder symbolische Zusammenhänge nach intersubjektiv kontrollierten Regeln, also nach dem Vorbild der mathematisch-naturwissenschaftlichen „Methode“ zu analysieren sucht). Dieses Werk löste in der Folgezeit auch eine verstärkte hermeneutische Reflexion in der deutschen Literaturwissenschaft aus.
Hermeneutik ist für Gadamer mehr Geschehen als Verstehen
Sie ist die besondere Art und Weise, in der ein kulturell gewachsener Überlieferungs-, Traditions- und Normzusammenhang aufrechterhalten beziehungsweise weiterentwickelt wird. Dabei akzentuiert Gadamer die Sprachlichkeit des hermeneutischen Geschehens, das meint, er betont die Vorgegebenheit eines Sprachsystems und die Teilhabe der Individuen daran. Durch das Lesen, Auslegen und Weitervermitteln von überlieferten Texten, vor allem auch durch ihre Neuinterpretation, schließen wir unsere Gegenwart immer aufs Neue an die soziokulturelle Tradition an.
Wahrheit und Methode (1960)
Eine entscheidende Frage für die Hermeneutik ist ihr Umgang mit der sogenannten hermeneutischen Distanz, also etwa der historischen Differenz zwischen Text und Leser. Hans-Georg Gadamer diskutierte diese Frage unter dem Begriff des Zeitabstands:
Die hermeneutische Bedeutung des Zeitabstandes
Die Hermeneutik müsse davon ausgehen, dass, wer verstehen wolle, mit der Sache, die mit der Überlieferung zur Sprache kommt, verbunden und an die Tradition Anschluss habe oder Anschluss gewinne, aus der die Überlieferung spreche. Auf der anderen Seite wisse das hermeneutische Bewusstsein, dass es mit dieser Sache nicht in der Weise einer fraglos selbstverständlichen Einigkeit verbunden sein könne, wie sie für das ungbrochene Fortleben einer Tradition gilt. Es bestehe wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf die sich die Aufgabe der Hermeneutik gründe, nur, dass diese nicht mit Schleiermacher psychologisch als die Spannweite, die das Geheimnis der Individualität berge, zu verstehen sei, sondern wahrhaft hermeneutisch, das heiße im Hinblick auf ein Gesagtes: die Sprache, mit der die Überlieferung uns anredet, die Sage, die sie uns sagt. Auch hier sei eine Spannung gegeben. Die Stellung zwischen Fremdheit und Vertrautheit, welche die Überlieferung für uns habe, sei das Zwischen zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Traditon. In diesem Zwischen sei der wahre Ort der Hermeneutik. […]
„Nun ist die Zeit nicht mehr primär ein Abgrund, der überbrückt werden muss, weil er trennt und fernhält, sie ist in Wahrheit der tragende Grund des Geschehens, in dem das Gegenwärtige wurzelt“.
(Fotos ©: Pilipp Rothe, Hans-Georg Gadamer am 13. Juli 99 in seinem Arbeitszimmer)
Der Zeitabstand ist daher nicht etwas, was überwunden werden muss. Das war vielmehr die naive Voraussetzung des Historismus, dass man sich nämlich in den Geist der Zeit versetzen, dass man in deren Begriffen und Vorstellungen denken solle und nicht in seinen eigenen und auf diese Weise zur historischen Objektivität vordringen könne. In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist nicht ein gähnender Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt. Hier ist es nicht zuviel, von einer echten Produktivität des Geschehens zu sprechen. Jedermann kennt die eigentümliche Ohnmacht unseres Urteils dort, wo uns nicht der Abstand der Zeiten sichere Maßstäbe anvertraut hat. So ist das Urteil über gegenwärtige Kunst für das wissenschaftliche Bewusstsein von verzweifelter Unsicherheit. Offenbar sind es unkontrollierbare Vorurteile, unter denen wir an solche Schöpfungen herangehen, Voraussetzungen, die uns viel zu sehr einnehmen, als daß wir sie wissen könnten und die der zeitgenössischen Schöpfung eine Überresonanz zu verleihen vermögen, die ihrem wahren Gehalt, ihrer wahren Bedeutung nicht entspricht. Erst das Absterben aller aktuellen Bezüge lässt ihre eigene Gestalt sichtbar werden und ermöglicht damit ein Verständnis des in ihnen Gesagten, das verbindliche Allgemeinheit beanspruchen kann.
Diese Erfahrung ist es, die in der historischen Forschung zu der Vorstellung geführt hat, dass erst aus einem gewissen geschichtlichen Abstande heraus objektive Erkenntnis erreichbar werde. Es ist wahr, dass, was an einer Sache ist, der ihr selbst innewohnende Gehalt, sich erst im Abstand von der aus flüchtigen Umständen entstandenen Aktualität scheidet. […] Gewisse Fehlerquellen sind da von selbst ausgeschaltet. Aber es fragt sich, ob das hermeneutische Problem sich damit erschöpft. Der zeitliche Abstand hat offenbar noch einen anderen Sinn als den der Abtötung des eigenen Interesses am Gegenstand. Er läßt den wahren Sinn, der in einer Sache liegt, erst voll herauskommen. Die Ausschöpfung des wahren Sinnes aber, der in einem Text oder in einer künstlerischen Schöpfung gelegen ist, kommt nicht irgendwo zum Abschluß, sondern ist in Wahrheit ein unendlicher Prozeß.“
Daran, dass Gadamer aber auch ein begnadeter Redner war, erinnern wir uns gern; seine von ihm handschriftlich redigierte Rede zur 600 Jahrfeier der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg fanden wir in unserem Archiv.
Antoine Mechler & got