Obgleich als weltweites Problem mittlerweile erkannt und bekämpft, scheint der Jihad-Terrorismus an Fahrt zu gewinnen. Anschläge wie jene von Paris tragen dazu bei, dass der Rhetorik mahnender Politiker zum Trotz ist die allgemeine Entwicklung eher auf  Clash eingestimmt ist.

islam_dominateEs zählt zu den wertvollen Errungenschaften aufgeklärter Zivilisationen, dass selbst Ereignisse, die durch ihre Schrecklichkeit den Ausnahmezustand begünstigen, in der Regel mit ruhigem Blick und Augenmass beurteilt werden. So gesagt, das Klima der Hysterie, dem die Attentäter von Paris einen Nährboden verschaffen wollten, ist bisher nicht und nirgends aufgezogen. Man weiss zum Beispiel noch immer: Was den Islam für Geschichte und Gegenwart definiert, liesse sich keinesfalls fugenlos verschweissen mit dem furchtbaren Blutbad, das gefährliche und zu allem entschlossene Fanatiker als genau studierte und präzise abgewickelte Inszenierung der Weltöffentlichkeit präsentierten. Mögen sich die Mörder zwar ausdrücklich als Gotteskrieger verstanden und damit eine unüberbietbare Legitimation für ihr Handeln angestrebt haben, so bilden sie in ihrer Randständigkeit doch weiterhin eine klare Minorität innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaft.

Globalität des Gespensts

Gleichwohl trifft zugleich zu, dass der Jihad deutlich an Fahrt gewinnt, seit Syrien und der Irak im Bürgerkrieg versinken und das Terrorregime des Islamischen Staats die schwarzen Fahnen von Mord und Unterdrückung hisst. Wer siegt oder zu siegen scheint und jedenfalls eine Macht demonstriert, die tendenziell überall zuschlagen kann, findet leichter Rekruten und Proselyten – zumal unter jenen, die sozial frustriert sind oder ein Geltungsbedürfnis hegen, das von den trockenen Realitäten des Alltags nie befriedigt werden kann, oder die schlicht wieder Übersicht zwischen den Rollen von Mann und Frau anstreben. Frankreich ist dafür besonders exponiert. Staat und Bürokratie und eine argwöhnisch gewordene Gesellschaft haben es während Jahrzehnten versäumt, den Prozess der Integration im Umgang mit dem Erbe des Kolonialismus fruchtbar zu gestalten. Parallelkulturen mit enormem Sprengpotenzial zumal unter Jugendlichen sind das Resultat. Man spricht nicht zu Unrecht von den «verlorenen Kindern» der Republik.

Doch dies alles macht nur einen Teil der Realitäten aus. Denn das Phänomen einer völlig entfesselten Bereitschaft zu Vergeltung und Terror trägt längst globale Züge. Die Verweltlichung des Islamismus mitsamt den Rivalitäten und Kämpfen zwischen den Lagern der Ideologie ist zum Produkt geworden. An dessen Verfertigung arbeiten zahllose Agenten mit sehr viel Geld und erfolgreicher Teilung der Funktionen, und über allem wachen und steuern ein paar bärtige Grossinquisitoren, deren Träume von Herrschaft und Unterjochung weit reichen – von Emiraten zu Kalifaten unter dem Prärogativ, westlich-moderner Lebensart alle Einfallstore zu sperren. Befohlen ist eine Rückkehr ins Mittelalter, doch die Instrumente hierfür haben sich aus Äxten und Schwertern in Sturmgewehre und Bomben verwandelt – es sei denn, die fanatisierten Glaubensknechte beweisen sich vor laufenden Kameras «historisch» tatgerecht als Kopfabschneider. Dass Allah auch dafür noch gross sein soll, bleibt ihr Geheimnis wie leider zugleich ihre feste Überzeugung – das gute Gewissen hat mancherlei Väter.

Die Diskussion darüber, ob der Koran solche Aktionen fördert oder umgekehrt relativiert, ist – das sei eingeräumt – vor dem Hintergrund der Wirklichkeit zu einem weitgehend müssigen Geschäft geworden. Zwar weiss inzwischen jedes Kind, dass sich aus dieser heiligen Schrift gar vieles und Kontroverses und selbst Widersprüchliches herauslesen lässt. Doch zwischen dem, was in gelehrten Stuben und Seminarräumen über den vielfachen Schriftsinn gebrütet wird, mitunter mit der triumphierenden Einsicht, dass die Gewalttäter alles ganz falsch verstünden, und jenem, was Letztere aus einer Reihe von handgreiflichen Zitaten zur tödlich endenden Rezeptur führen, klafft ein Abgrund. Er ist auf absehbare Zeit hinaus nicht zu überbrücken, so nützlich Korrekturen und Verstehenshilfen auch sein mögen, wenn es um die mögliche Humanisierung von Dogma, Lehre und Praxis geht.

Offenbarungsreligion Islam – wie das frühe Christentum

Denn als Offenbarungsreligion ist der Islam – wie einst das kirchliche Christentum – auch und noch immer eine ecclesia militans: eine kämpferisch missionierende, ein- und ausgrenzende Bastion und Doktrin. Da er aber kein «Rom» vergleichbares Zentrum hat, sondern sich in eine Vielfalt von Autoritäten, Sprechern und Chören verteilt, befördert er auch Unsicherheiten unter den Glaubenden, was rechtens und was Unrecht sei. Die Macht lokaler Imame ist beträchtlich und kann sich nach gegebenen Mustern hinaufschwingen bis ins Geheul der Prediger von Rache und Hass. Die mancherorts geforderte Erneuerung im Sinne einer Versöhnung mit den Werten der Moderne wäre mehr als wünschenswert. Dass sie jedoch von einem Grossteil aller Muslime geteilt würde, ist keineswegs verbürgt. Sogar gibt es Indizien, dass zumal jüngere und junge Leute wieder vermehrt das wärmende Feuer und die Schutzgewissheiten strenger Lesarten suchen.

So ist, der Rhetorik mahnender Politiker zum Trotz, die allgemeine Entwicklung eher auf den Clash eingestimmt. Was westlichem Selbstverständnis als Erbe und Auftrag der Aufklärung mit dem Prädikat eines Universale gut und teuer ist, leuchtet in der Optik der Fundamentalisten und ihrer stillen Mitdenker als ein böses Partikulare der Dekadenz. Selbst für fortschrittlich orientierte Gläubige ist nicht nachvollziehbar, weshalb eine Zeitschrift satirischen Zuschnitts mit ermüdendem Wiederholungszwang ihren Propheten verunglimpfen können soll. Für sie, die den Islam nicht nur als Religion, sondern als Lebenslehre und damit als Lebenswirklichkeit verinnerlicht haben, ist eine Karikatur Mohammeds nicht einfach ein «Text» mit eigener ästhetisch-politischer Semantik aus den Lüften der Ironie, sondern ein Angriff auf die reale Gegenwart des Meisters gegen die explizite Vorschrift, sich keine Bilder von ihm zu machen.

Es war – wie man nachholend feststellen dürfte – ein schlimmes Erwachen aus dem Traum der Fortschrittseuphorie, als es im Jahr 1979 einem finsteren Ayatollah praktisch über Nacht gelang, den Gang der Dinge zu wenden und in Iran den Prozess der Säkularisierung rückwärts zu drehen. Henning Ritter hat auf dieses Datum hingewiesen und es in seiner Initialzündung erkannt: Was Khomeiny, ein übler Geselle von stattlichem Ausmass, der Welt vorführen wollte, ging weit über eine Bereinigung «innerer Angelegenheiten» hinaus. Zur Botschaft wurde: Modernisierung ist kein Schicksal, das einfach hinzunehmen wäre.

Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, es wurde an dieser Stelle schon mehrmals gesagt, ist deshalb mittlerweile ein prekäres Markenzeichen sowohl für die globalen Verhältnisse wie für wichtige Nationalstaaten auch Europas. Frau Merkels Satz, der Islam gehöre zu Deutschland, zeigt dies exemplarisch. Einerseits ist damit eine soziale Tatsache ausgesprochen – nur der visionär-ätzende Schriftsteller Michel Houellebecq sähe vielleicht in Sachen Zugehörigkeit für die Zukunft eine Umkehrung von Subjekt und Objekt voraus.

Kritik – oder Schweigen

Anderseits aber reiben sich dabei zwei Kulturen auf manchen Ebenen lebensweltlicher Besonderungen, ohne dass man von der einen verlangen wollte, sie möge oder könne einfach zum munter integrierten Mitmacher mutieren. Natürlich soll immerhin die rule of law der Bundesrepublik für alle gelten, die dort leben. Doch da und dort und abseits des Mainstreams treibt bereits die Scharia ihr Unwesen. Politisch Überkorrekte, die sich gewiss niemals unter deren Regime begeben würden und schon einen einfachen Fahndungsauftrag der Polizei als totalitär ansehen, ringen mit ihrem Verständnis dafür. Man könnte dies als inversen «Orientalismus» bezeichnen.

Kritik an der Islamisierung ist freilich riskant, und in Deutschland hat die Vorsicht gegenüber dem «Anderen» schon aus historischen Gründen rechtens viel Kredit. Zugleich ist allerdings wahr, dass es seit langen Jahren ein Schweigen der Lämmer von links gibt, das den zunehmenden Fanatismus politischer Theologie so übergeht, als existiere er nicht. Links schlägt das Herz. Alle Menschen haben ein Herz. Doch weiter führt der Syllogismus nicht. Die Jihadisten und ihre Einpeitscher verachten im Gegenteil das «Allgemeine», sofern es ein Ethos von Welt und Eintracht und Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen will, das quer steht zu ihrem eigenen Denken und Wollen. Sie sind auch hinreichend intelligent, sich nicht allzu sehr beeindrucken zu lassen von den gegenseitigen Solidaritätsritualen politischer Führer mit Aufmärschen und eingehängten Armen am Tag danach. Denn sie wissen: Der Krieg, den sie planvoll hineintragen in die Kerngebiete des Westens, ist ein Krieg mit besonderen Mitteln, und wenn jemand noch käme, sie als Patienten für eine Kur mit Analyse ihrer Psyche zu markieren, so wären sie ebenfalls hinreichend intelligent, darin den Narzissmus einer Therapiegesellschaft zu orten, deren Kränkung schon darin besteht, dass es solche Krieger überhaupt noch gibt.

Es gibt sie – in wachsender Zahl. Deutsche, Franzosen, vielleicht auch schon Schweizer männlichen und weiblichen Geschlechts reihen sich ein. Und keineswegs für alle gilt, dass nur ein defizienter Background der Auslöser gewesen wäre. Hinter manchen Anschlägen steckt ein ausgefeilter Mechanismus, andere folgen dem sogenannten «Nike»-Prinzip des «Just do it». Höherer Befehl und dienender Gehorsam geben sich die Hand, immer mit dem Blick auf eine Mission, die zwar Opfer verlangt, doch das Martyrium der Helden über den Tod hinaus in die Ewigkeit verklärt. Man kann schliesslich beobachten, wie sich solche Ermächtigungen um jeden Preis auch in die Kommentare der Social Media hineinfressen. Bereits wimmelt es von Hashtags, die in perverser Umkehrung des Rufs «Je suis Charlie» stolz dekretieren: «Je suis Kouachi.»

Was daraus wird, weiss niemand. Vermeintliche Sicherheiten sind löcherig geworden. In Frankreich haben die Terroristen bereits erreicht, dass die Selbstzensur zu wirken beginnt. Ein geistiger Belagerungszustand, wie ihn einst Albert Camus beschrieb, könnte um sich greifen. Und während die allgemeine Ratlosigkeit mit markigen Politikerworten in Schach gehalten werden soll, geistert ein weiterer Drohruf durch das Internet. Er lautet kurz und bündig: «Das Schlimmste kommt noch.»

Jan 2015 | Allgemein, Junge Rundschau, Kirche & Bodenpersonal, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren