Ich stehe im Badezimmer vor dem Spiegel und betrachte mich aufmerksam zu Beginn des Wasch- und Rasiervorgangs. Der Spiegel ist brauchbar und klar. Mein Gesicht strahlt gebremstes Altern, wenngleich nicht ein jünger Werden, aus. Wie denn auch? Ein paar Gesichtslinien, die sich mir im Laufe der letzten Jahre markant eingezeichnet haben, deute ich genügsam als Beleg für den Zuwachs an Denkfähigkeit und Weisheit, ja mitunter gar Glück. Glück kann anstrengend sein, heißt es. Zufrieden drehe ich den Wasserhahn auf. Das sofort einsetzende Rauschen bewirkt jedoch wieder mal einen Effekt, den ich nun schon aus täglicher Verrichtung kenne. Ich drehe den Hahn rasch ab und laufe in Richtung Toilette. Der Gang zum stillen Örtchen, das auf der anderen Seite meiner großen Wohnung liegt, wird zur kleinen Qual. Der Spiegel, der im Bad geblieben ist, würde mir die Wirkung in meinem Gesicht sichtbar machen, denke ich. Vor allem daran, dass bestimmte Wege in der Wohnung immer länger werden, merke ich, dass ich in die Jahre gekommen bin.

Aus: Die Tücken des Alltags oder: Der Teufel steckt im Detail von Fritz Feder

Sep. 2016 | Kurz-Text-Arena | Kommentieren

Ich beuge mich abendmüde zu den Schuhen an meinen Füßen. Es gilt, nach des langen Tages Werk die Schuhbändel zu lösen. Bei geschlossenen Bändeln lassen sich die Schuhe nicht abstreifen. Ich agiere eine Spur zu übereilt. Der vorhandene Knoten löst sich nicht. Im Gegenteil! Der Sinn des Knotens scheint es zu sein, sich weiter zu verknoten. Ich ziehe nun kräftig an Bändel Nummer 1. Es ist das falsche. Der Knoten zieht sich noch stärker zu. Er zieht sich so stark zu, dass ich mir nun eine Schere zur Hand wünschte, wenn dies nicht so zerstörerisch wäre. Ich versuche es mit Bändel 2. Zu spät, alles schon zu festgezurrt. Es wird nur schlimmer. Der Rest ist geduldige Arbeit am Objekt. Lösung naht, aber nur mit Ruhe. Und Fingerspitzengefühl.

Aus: Die Tücken des Alltags oder: Der Teufel steckt im Detail von Fritz Feder

Sep. 2016 | Kurz-Text-Arena | Kommentieren

Ich sitze gemütlich auf dem Balkon. Es ist mild und duftet allenthalben nach frischem Baumgrün. Der Beginn eines Sommermärchens. Seit Wochen wird das Dach des Hauses gegenüber renoviert. Man kommt langsam voran. Automatisch wende ich meinen Blick mal wieder zum Dach hin, zu den roten Ziegeln dort, die sichtlich der Erneuerung bedürfen. Ein Mann steht auf dem Dach, das sich zu 70 Grad neigt. Er steht auf den lockeren Ziegeln, sein eines Bein leicht versetzt. Er ist nicht angeschnallt. In aller Ruhe kramt er sein Pausenbrot hervor und beginnt zu essen. Man hört ihn nicht schmatzen aber man spürt: er genießt es. Der Mann ragt schräg aus dem Dach heraus wie eine Dachfigur von Marc Chagall. Nur ist er kein Fiedler, er arbeitet am Bau. Ich schieße gleich mehrere Fotos aus der Ferne. Aber das rettet ihn ja auch nicht.

Aus: Die Tücken des Alltags oder: Der Teufel steckt im Detail von Fritz Feder

Sep. 2016 | Kurz-Text-Arena | Kommentieren

Sie ist die Frau, die jeder kennt,
Der Geld und Gier und Macht hat.
Sie ist die Frau Establishment,
Die gründlich nachgedacht hat.

Sie will, dass Welt gut weitergeht:
Mit Volldampf in die Binsen.
Ihr Blick: wie kunstvoll überdreht!
Wie rund ihr falsches Grinsen!

So hat Amerika die Wahl:
Trumps Hobby ist Rassismus,
Sie steht auf Krieg und Kapital.
O Glück! O Optimismus!

Thomas Gsella

Sep. 2016 | Kurz-Text-Arena | Kommentieren

Es ist früh am Morgen. Ich erhebe mich erholt aus dem Bett und betrete die Küche. Ich schalte das Radio ein. Verkehrsmeldungen. Ich schalte sofort wieder aus. Ich will nicht hören, dass bei Köln Bocklemünd ein Stau ist. Ich weiß das schon vom Vortag. Und ich habe kein Auto. Ich ziehe mich an. Besser in der Stadt einen Kaffee und ein Croissant nehmen. Beim Bäcker. Zeitung dazu. Der Kaffee ist gut, das Hörnchen geht so. Beim Bäcker läuft im Hintergrund das Radio, laut genug: Köln Bocklemünd…Ich stürze den Kaffee hinunter und enteile. Zu Hause, in Frieden, arbeite ich am PC. Zwischendurch lese ich im Internet, dass in Italien ein Erdbeben passiert ist. Ich gehe in die Küche, um mir einen Kaffee zu kochen. Ich stelle das Radio an: Stau an der Gaisbergsteige.

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Sep. 2016 | Kurz-Text-Arena | Kommentieren

Bis genau vor einem Jahr hatte ich noch kein Handy. Ich habe längst kein Auto und keinen Fernseher mehr. Mikrowellen kenne ich nur aus Küchengesprächen bei Freunden. Ich bilde mir ein, dass meine häusliche Öko-Bilanz gar nicht so schlecht ist. Dies, obwohl ich auch zwei Festnetztelefone habe, dienstlich und privat. Und obwohl ich Emails und andere digitale Messages austausche, was ja auch viel Stromverbrauch bedeutet. Und nun also das moderne Handy, ein Smartphone. Ich war neugierig gewesen und ich habe dem Druck, eines beschaffen zu sollen, nicht standgehalten. Ich komme mit all den Kommunikationsgeräten eigentlich erstaunlich gut zurecht. Maßvolle und bedachte Anwendung ist Trumpf. Ich habe alles im Griff, denke ich stolz. Dann aber passiert es eines Tages doch! Nahezu zeitgleich gehen Sprechbegehren auf meinen beiden Festnetznummern und ein Handy-Anruf bei mir ein. Dazu meldet der PC mir die Dringlichkeit einer ankommenden Email. Da der PC, dieses Wunder an Technik, noch viel mehr  kann, meldet er mir synchron auch noch den Eingang von zwei Whats App-Messages. Es funkt, klingelt und schnurrt an allen Ecken und Enden. Ich bin eigentlich ein Mensch, der schwer aus der Ruhe zu bringen ist, aber erstmals seit langem springe ich erschrocken im Sechseck. Ich weiß nicht mehr, wo vorne und hinten, was vorher und nachher ist. Ich beschließe, mir etwas einfallen zu lassen, um der babylonischen Kommunikationsverwirrung künftig wirksam entgegen zu treten.

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Sep. 2016 | Kurz-Text-Arena | Kommentieren

Ich stehe bei herrlichem Sommerwetter auf einem der zentralen Plätze meiner Heimatstadt und warte, wie immer zu früh, auf einen Freund, der immer verspätet kommt. Und fast niemals gelingt es mir, ihn zu orten, bevor er bereits ganz nahe an mich herangetreten ist oder gar schon mit verschmitztem Blick neben mir steht. Diesmal ist der Treffpunkt die sogenannte Spaghetti-Säule, ein steil getriebenes, verwickeltes, eben säulenartiges Etwas an Kunstwerk aus Aluminium, das nun in der Sonne glitzert.
Ich vertreibe mir die Zeit des Wartens damit, anderen Passanten und Passantinnen bei ihren zumeist hektischen Besorgungsgängen zuzusehen. Das im Süden Europas bekannte, gemächliche und bisweilen laszive Schlendern scheint sich trotz der gleißenden Hitze nicht durchzusetzen. Plötzlich kommt eine kleine Gruppe dreier junger Männer ganz nah an mir vorbei. Sie mögen so um die 16 sein. Knaben in der Pubertät und doch schon mannsstark in Figur und Gestus. Aus ein paar Wortfetzen bekomme ich in Sekundenschnelle mit, dass sich diese Schüler über Zahlen, über das Rechnen unterhalten. Als die Truppe schon fast an mir vorbei ist, höre ich den aufgeregten Hinweis des einen Jungen an die anderen: Nee, hey Alder, 12×12 ist nie und nimmer 144. Plötzlich klopft mir von hinten jemand auf die Schulter. Es ist, na klar, mein Freund. Er ist nie und nimmer pünktlich, aber diesmal bloß circa 144 schlappe Sekunden zu spät.

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Sep. 2016 | Kurz-Text-Arena | Kommentieren

Jemand behauptet, man könne ein rohes Ei auf den Kopf, also auf die Spitze, stellen. Nur das Ei, außenherum nichts. Auf einer glatten Fläche. Es sei ein Geduldspiel. Ich versuche es. Es klappt nicht. Später versuche ich es nochmal. Beim dritten Mal klappt es. Das Ei steht senkrecht wie eine Eins. Ich schleiche auf leisen Sohlen aus dem Zimmer und kehre kurz danach zurück. Das Ei steht noch immer. Ich fühle mich gut. Ich erzähle es stolz der Person, die ich eingangs „jemand“ nannte. Die Person beglückwünscht mich. Ich verstünde nun etwas von Achtsamkeit. Die Person ist eine Frau. Sie hat das Geduldspiel bei der Krankenkasse gelernt.

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Sep. 2016 | Kurz-Text-Arena | Kommentieren

Ich verlasse auf einen Altstadtspaziergang das Haus, in welchem ich wohne. Das Wetter ist strahlend. Ein herrlicher Sommertag ohne Fehl und Tadel. Indem ich auf die Gasse trete, die für die meiste Zeit des Jahres den anachronistischen Namen „März“ trägt, nestle ich an einem Beutel und ziehe mir eine jener kürzeren, schlanken und sehr leichten Zigarren hervor, die ich zurzeit bei dieser Hitze bevorzuge. In der Hosentasche fingernd fahnde ich nach meinen Streichhölzern, während mir eine Frau, schon in die Jahre geraten, auf dem Gehsteig entgegen kommt. Keine Hölzchen! Ich halte die Zigarre, die erfolglos nach Feuer giert, etwas ratlos weiter in der Hand, als die Frau, die wie eine Heidelbergerin aussieht, ihren Schritt enorm beschleunigt. Und während sie mit erstarrter Miene, aber mit Tempo an mir vorbei düst, hebt sie, auf meiner Höhe angelangt, nicht ab, jedoch ihren linken Arm und fuchtelt mit ihm heftig in der Luft herum, um den widerlichen Rauch von sich fernzuhalten. Dabei stößt sie einen kleinen Schrei aus, der nach „üffz“ klingt. So nahe dies alles bei mir, dass ich einen Moment lang zusammenzucke, weil ich denke, das mündet gar in einer Backpfeife auf meiner linken Wange oder zumindest in etwas Spucke nach dem ausgestoßenen „üffz“. Ich weiß von Heidelbergerinnen, die auf dem Gehweg achtlos geparkte Autos zerkratzten, wenn sie mit dem Kinderwagen nicht, wie gewohnt, vorbei kamen. Aber das steht auf einem anderen Blatt, und zu Tätlichkeiten kommt es in der Märzgasse nicht. Schmunzelnd schlendere ich weiter und dann kommt mir doch dunkel in den Sinn: egal, ob qualmend oder nicht, Hauptsache, bäh, ein Mannsbild!

Aus: Die Tücken des Alltags oder: Der Teufel steckt im Detail von Fritz Feder

Sep. 2016 | Kurz-Text-Arena | Kommentieren

Plötzlich ist es omnipräsent, das superlativische Adjektiv: Unfassbar. Wie seit einiger Zeit auch schon das Wörtchen „genau“, das bei Denkpausen den gesuchten Gedanken antizipiert. Nach dem Motto: Warte mal, jetzt hab´ ich´s gleich! Vor allem junge Frauen, weiß der Teufel oder die Teufelin, warum, sagen, wenn sie auf der Suche nach einer Aussage sind, immer erst mal: genau. Das ist nicht unfassbar, aber ich kann mir das Phänomen nicht erklären. Bei „unfassbar“ geht es mir anders. Die unfassbare Häufung dieses Wortes in 2016, sei es Mann, sei es Frau, muss irgendwann bei der Fußballeuropameisterschaft fröhliche Urstände gefeiert haben, mit einem zusätzlichen Hype bei Olympia. Unfassbar, wie der Stürmer den Ball annimmt. Unfassbar, wie die Beachvolleyballspielerin sich aus dem Sand schraubt. Unfassbar, wie lecker die Pizza schmeckt. Unfassbar, dass Gina-Lisa Lohfink bestraft wurde. Es regnet (nicht), wie unfassbar ist das denn?! Würde ich gerade eine Bar aufmachen, ich würde sie – genau – UNFASSBAR nennen.

Fritz Feder

Sep. 2016 | Kurz-Text-Arena | Kommentieren

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