Wie habt ihr beide euch kennengelernt?

Elena Malisowa: Ich habe seit meiner frühen Kindheit Geschichten geschrieben. Als ich Studentin war, fing das russische Internet an, sich aktiv zu entwickeln. Es entstanden Webseiten, auf denen Menschen ihre eigenen Werke veröffentlichen konnten. Ich las diese Geschichten sehr gerne und fing an, selbst welche zu veröffentlichen. In einer solchen Community habe ich Katerina kennengelernt.

Euer Roman „Du und ich und der Sommer“ handelt von der Liebesgeschichte zweier junger homosexueller Männer in der Ukraine. Warum habt ihr gerade darüber geschrieben?

Katerina Silwanowa: Ich habe schon früh festgestellt, dass mir sowohl Jungs als auch Mädchen gefallen. Doch in der Literatur, die gedruckt wurde, fand ich mich nicht wieder. Eines Tages entdeckte ich die Selfpublishing-Plattform Ficbook und fing an, Geschichten zum Themenbereich LGBT zu lesen und dann auch darüber zu schreiben.

Elena Malisowa: Als Studentin hatte ich einen Nebenjob in einem Unternehmen und dort einen guten Freund. Er war schwul. Eines Tages erzählte er mir, dass er an HIV erkrankt sei. Damals kannte ich den Unterschied zwischen HIV und Aids nicht und bekam große Angst um ihn. Ich hatte dazu viele Fragen und wollte auch gerne mehr darüber erfahren, wie Schwule in Russland leben. Aber aus Angst, ihn mit meinen Fragen zu verletzen, suchte ich im Internet nach Informationen. Später habe ich dann auch mit meinem Freund selbst gesprochen, weil mir klar wurde, dass es ein Fehler gewesen wäre, es nicht zu tun. Seine und andere Geschichten haben einen sehr starken Eindruck auf mich hinterlassen. Ich verstand, dass ich nicht gleichgültig gegenüber ihrer Situation bleiben kann in einem Land, in dem der Schwulenhass immer größer wird. Deswegen schreibe ich darüber.

„Für uns war es nichts Ungewöhnliches,
dass eine Ukrainerin und eine Russin zusammenarbeiten“

Der Großteil eurer Geschichte spielt in einem ukrainischen Ferienlager im Sommer 1986. Hier lernen sich die Protagonisten Jura und Wolodja kennen und verlieben sich ineinander. Warum gerade dort?

Katerina Silwanowa: Als ich noch klein war, Anfang der 2000er, gab es bei Charkiw ein verlassenes Ferienlager aus der Sowjetzeit. Meine Eltern und ich bekamen von Bekannten den Schlüssel zu einem der Häuschen und verbrachten dort eine sehr schöne Zeit. Die Erinnerungen an das, was ich dort gesehen habe, habe ich niedergeschrieben und mir vorgestellt, wie es wohl gewesen ist, als es noch nicht verlassen war.

Elena Malisowa: Als das Thema Ferienlager für uns feststand, wurde uns schnell klar, dass es besser wäre, über ein Pionierlager zu schreiben. Wir wollten eine Geschichte über die Erziehung zu Sowjetzeiten schreiben und über diesen inneren Konflikt zwischen den eigenen Gefühlen und dem Menschenbild, das im Ferienlager vorgegeben wurde. Denn darin gab es keinen Platz für Homosexualität.

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„Du und ich und der Sommer“ ist im Blanvalet Verlag erschienen

War euch klar, dass die Tatsache, dass eine Ukrainerin und eine Russin zusammen ein Buch schreiben, irgendwann mal zum politischen Statement werden könnte?

Katerina Silwanowa: Wir haben mit der Geschichte 2016 angefangen. Zu diesem Zeitpunkt lebte ich schon in Russland. Damals haben wir die Schärfe dieses Konflikts gar nicht wahrgenommen. Für uns war es nichts Ungewöhnliches, dass eine Ukrainerin und eine Russin zusammenarbeiten. Erst jetzt, wegen des Krieges, wird das zu einem politischen Statement.

Elena Malisowa: Ich möchte noch aus meiner Sicht als Russin etwas hinzufügen. Bevor wir das Buch schrieben, war ich schon seit einigen Jahren gegen die Handlungen der russischen Regierung. Als ich nach der Annexion der Krim sah, wie viele Russen diese Annexion unterstützten, war ich sehr enttäuscht. Mir wurde klar, dass ich nun wahrscheinlich längere Zeit die Ukraine nicht mehr als Touristin besuchen kann, obwohl ich das fest vorhatte und Katerina mich schon mal eingeladen hatte. Deswegen wollte ich wenigstens eine Geschichte über die Ukraine schreiben.

Ihr sprecht in eurem Buch durchaus kritische Themen an: Der 16-jährige Jura und insbesondere der etwas ältere Wolodja haben große Angst, dass ihre Beziehung auffliegt. Für Wolodja hätte das zu Sowjetzeiten womöglich den Ausschluss von der Universität und eine Haftstrafe bedeutet. Habt ihr auch einen Aufklärungsanspruch?

Elena Malisowa: Ja, den haben wir. Wir beide interessieren uns sehr für Geschichte. Uns wurde schnell klar, dass die Wurzeln der heutigen Homophobie zum Teil schon in der Sowjetunion liegen. Wir wollten den jungen Leuten zeigen: Seht, wie das, was damals war, heute wieder anfängt, präsent zu sein. 2016 war das nur eine Vorahnung. Es ist sehr bitter zu sehen, dass unsere Prophezeiung wahr geworden ist.

Als euer Buch 2021 veröffentlicht wurde, schlug es hohe Wellen. Es war lange ein Top-Titel auf einer wichtigen russischen Belletristik-Bestsellerliste und wurde bis Ende 2022 über 300.000-mal verkauft. Hattet ihr damit gerechnet?

Katerina Silwanowa: Wir hatten niemals mit dieser großen Leserschaft und mit dieser Menge an Liebe gerechnet, die uns entgegengebracht wurde. Wir wollten die Geschichte ursprünglich nicht mal als Buch veröffentlichen, wir haben sie ja nur für uns geschrieben und dann auf einer Selfpublishing-Plattform veröffentlicht. Wir konnten uns auch überhaupt nicht vorstellen, dass es in Russland zu der Zeit möglich wäre, ein gedrucktes Buch zu einem LGBT-Thema zu veröffentlichen. Damals waren die Gesetze noch weniger streng als jetzt, aber die Stimmung innerhalb der Gesellschaft war trotzdem schon so, dass es unmöglich schien. Unsere Leser haben uns schließlich dazu überredet, es doch mal bei dem Verlag Popcorn Books zu versuchen. Und die boten uns an, das Buch herauszubringen.

Elena Malisowa: Das Schönste waren für uns die Reaktionen von Menschen aus der Generation unserer Eltern: Manche erzählten, dass sie, nachdem sie unseren Text gelesen hatten, ihre Einstellung gegenüber LGBT-Themen geändert haben und sie jetzt besser verstehen.

Es gab allerdings auch viele negative Stimmen. Nicht nur in Form von inhaltlicher Kritik, ihr wurdet auch massiv bedroht.

Elena Malisowa: Ja, aber nicht sofort. Das Buch erschien im Oktober 2021, doch erst im Mai 2022 ging die Hetze los. Ich denke, das hatte einen direkten Bezug zum Krieg. Wir haben Drohungen von dem Duma-Abgeordneten Vitalij Milonow bekommen, der in einer Fernsehsendung sagte, wir sollten im Fluss Moskwa ertränkt werden. Der bekannte Filmemacher Nikita Michalkow zeigte auf seinem YouTube-Kanal unsere Fotos und nannte uns Verräterinnen. Was mich aber am meisten geschockt hat, war, dass er TikTok-Videos von unseren Leserinnen und Lesern gezeigt hat. Wir hatten dann auf einmal auch Angst um sie.

„Als wir die vielen negativen Publikationen über uns lasen, auch in großen Telegram-Kanälen mit insgesamt über zwei Millionen Abonnenten, wurde uns klar: Es wird gefährlich für uns“

Was ist dann passiert?

Elena Malisowa: Als wir die vielen negativen Publikationen über uns lasen, auch in großen Telegram-Kanälen mit insgesamt über zwei Millionen Abonnenten, wurde uns klar: Es wird gefährlich für uns. Deshalb sind wir beide Ende Mai 2022 aus Russland ausgereist, zunächst nach Armenien. Mittlerweile bin ich in Rostock gelandet, und Katerina ist zurück in die Ukraine gegangen.

Katerina Silwanowa: Für mich stand nach Ausbruch des Krieges sowieso die Frage nach einer Ausreise aus Russland auf der Agenda. Ich war nur in den ersten Monaten zu geschockt und damit beschäftigt, meinen Freunden und meinen Eltern zu helfen, die in der Ukraine waren. Aber die Drohungen haben mich noch einmal bestärkt auszureisen.

Hattet ihr solch heftige Reaktionen erwartet?

Elena Malisowa: Nein, das haben wir nicht. Ich werde jetzt wieder politisch: Russland ist eine Diktatur. Und jede Diktatur braucht Feinde. Der äußere Feind sind die Ukraine und die Länder, die die Ukraine unterstützen. Zum inneren Feind ist die LGBT-Community geworden. Der Erfolg unseres Buches wurde als Anlass genutzt, um sie als Feindbild zu propagieren. Wir hätten nicht gedacht, dass unser Buch in der Art ausgenutzt wird. Aber wir haben auch nicht mit dem Krieg gerechnet.

Eine weitere Reaktion war die Verschärfung der Gesetzgebung.

Elena Malisowa: Schon seit 2013 gab es ein Verbot von „LGBT-Propaganda“ gegenüber Kindern. Niemand wusste, was genau damit gemeint war, der Begriff war sehr verschwommen. Man nimmt an, dass die russische Regierung darunter jede Form von positiver Darstellung von Sexualität versteht, die von der „traditionellen“, wie sie es nennen, abweicht. Dieses Anti-Propaganda-Gesetz wurde im Dezember 2022 noch mal verschärft. Jetzt ist „LGBT-Propaganda“ nicht nur bei Kindern, sondern in allen Altersgruppen verboten.

Mit diesem Gesetz wurde die Verbreitung von Büchern oder Filmen, die vermeintlich „LGBT-Propaganda“ enthalten, unter hohe Geldstrafen gestellt.

Elena Malisowa: Zensur ist in Russland weiterhin offiziell verboten. Aber die Regierung verabschiedet Gesetze, die ihrem Wesen nach Zensurgesetze sind. Unser Verlag stellte den Verkauf unseres Buches Ende 2022 ein, weil er sonst eine hohe Geldstrafe bekommen hätte. Wir sind nun auf einer Art schwarzen Liste. Es kursieren in Russland Listen von Büchern, die aus Buchhandlungen verbannt werden sollen. Ein bekannter Journalist, Alexander Pljuschtschew, hat zum Beispiel solche Listen veröffentlicht, er hat sie von einem großen Online-Buchhändler. Ich selbst habe keine Beweise dafür, dass solche Listen von der Regierung kommen. Aber es gibt einen Konsens in der russischen Gesellschaft, dass sie letzten Endes auf die russische Regierung zurückzuführen sind.

„Wir wünschen uns weiterhin, dass auch russischsprachige Menschen unsere Bücher lesen können“

Wie geht es für euch beide jetzt weiter? Werdet ihr weiter über LGBT-Themen schreiben?

Katerina Silwanowa: Es gibt eine Fortsetzung unseres Buches, die auch schon in Russland erschienen war. Der zweite Teil soll demnächst in Deutschland, aber auch in Polen, Italien und Brasilien veröffentlicht werden. Und dann wird es noch einen dritten Teil geben. Wir wünschen uns weiterhin, dass auch russischsprachige Menschen unsere Bücher lesen können. Vielleicht gibt es ja irgendwann die Möglichkeit, unsere Bücher auf Russisch als E-Books zu vertreiben.

Hashtags zu eurem Buch haben mittlerweile Aufrufe im dreistelligen Millionenbereich auf TikTok erreicht. Wie wichtig ist der Einfluss der BookTok-Community in Russland?

Katerina Silwanowa: Durch das Internet und TikTok ist unser Bekanntheitsgrad und der des Buches sehr gewachsen. Die Leute haben sehr viele Videos zum Buch gemacht, Cosplay-Geschichten kreiert, Musik geschrieben oder Gedichte. Das zeigt, dass dieses Buch bei den Menschen immer noch sehr beliebt ist und somit auch einen Einfluss hat.

Elena Malisowa: Ich wünsche mir sehr, dass unser Buch noch bekannter wird und noch mehr Einfluss gewinnt. Es geht in diesem Buch um Liebe, Freundschaft und Standhaftigkeit. Das ist genau das, was wir in diesen dunklen Zeiten brauchen.

 

Elena Malisowa wurde 1988 in der russischen Stadt Kirow geboren. Sie studierte Management und arbeitete danach im IT-Support eines Handelsunternehmens. Ende Mai 2022 reiste sie gemeinsam mit Silwanowa aus Russland aus. Seit Anfang 2023 lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Katern in Rostock.

Portrait: Ira Guzova

 

Katerina Silwanowa wurde 1992 im ukrainischen Charkiw geboren. Nach ihrem Studium der Forstwirtschaft zog sie in die russische Stadt Nowgorod und arbeitete im Einzelhandel. Heute wohnt sie wieder in Charkiw, wo sie als Autorin arbeitet.

Das Interview wurde mithilfe eines Übersetzers aus dem Russischen geführt.

 

 

März 2024 | In Arbeit | Kommentieren

PfadfinderMutproben ebneten Weg für sexualisierte Gewalt

Eine Studie hat erstmals Fälle von sexualisierter Gewalt unter deutschen Pfadfindern zusammengetragen. Das Ergebnis: Betroffene Kinder und Jugendliche werden oft allein gelassen und Täter erfahren nur selten Konsequenzen.

29.02.2024

Der sogenannte Knoten der Pfadfinder: Ein Jugendlicher zieht an seinem blau-gelben Halstuch.
Sexualisierte Gewalt ist ein stukturelles Problem bei den Pfadfindern. (picture-alliance / dpa / Fredrik von Erichsen)
Pfadfinder sind die größte Jugendorganisation der Welt. Auch in Deutschland haben sich viele junge Menschen den Pfadfindern angeschlossen. Bei den „Pfadis“ können Kinder und Jugendliche Abenteuer und Gemeinschaft erleben. Zehntausende von ihnen fahren regelmäßig in Zeltlager und lernen, wie sie sich in der Natur und der Gesellschaft zurechtfinden.
Der sogenannte Knoten der Pfadfinder: Ein Jugendlicher zieht an seinem blau-gelben Halstuch.

Pfadfinder Mutproben ebneten Weg für sexualisierte Gewalt

18:59 Minuten29.02.2024
Der Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) hat als erster deutscher Pfadfinderverband eine Studie über das Ausmaß sexualisierter Gewalt unter Pfadfindern in Auftrag gegeben. Nun liegen die Ergebnisse vor.

Inhalt

Wie viele Fälle sexualisierte Gewalt gibt es bei den Pfadfindern in Deutschland?

Der Bund der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) wurde 1976 gegründet, hat aktuell rund 30.000 Mitglieder und gliedert sich in zwölf Landesverbände. Es ist einer von mehreren deutschen Pfadfinderzusammenschlüssen Es gibt allein fünf große Verbände in Deutschland, die wiederum aus unzähligen Ortsgruppen, sogenannten Stämmen, bestehen.
2021 hat der BdP eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, die das Ausmaß sexualisierter Gewalt unter Pfadfindern ermitteln soll. Zwischen 1976 und 2006 erlebten der Studie zufolge 123 Pfadfinderinnen und Pfadfinder sexualisierte Gewalt. Auch nach 2006 sollen weitere Fälle hinzugekommen sein.
Für die Studie hat das unabhängige Münchner Institut für Praxisforschung und Projektberatung betroffene Jungen und Mädchen, Zeitzeugen und Schlüsselpersonen des Verbands interviewt und Akten analysiert.
Die Fälle von sexualisierter Gewalt reichen von verbalen Grenzverletzungen bis hin zu Vergewaltigungen. „Es wurde viel berichtet von Fummeln, also durchaus Hands-on-Handlungen, das heißt mit Berührung. Es wurde viel davon gesprochen, dass Spiele sexualisiert wurden, dass es darum ging, sich auszuziehen, Schamgrenzen zu überschreiten. Bis hin dazu, dass Kinder wirklich sexuell missbraucht wurden und auch Gewalt dazu angewendet wurde“, sagt Studienleiterin Helga Dill.
„Die Täter, die uns beschrieben wurden, sind männlich, in der Regel sehr charismatische Personen, attraktiv auch in dem Sinn, dass sie als Pfadfinder ganz besonders sind, viel organisieren können, geschickt sind, kräftig sind, mutig“, so Dill.
Podcast: Religionen

Katholischer Pfadfinder-VerbandEx-Pfadfinderin über spirituellen Missbrauch

10:54 Minuten09.07.2023
Eine Hand steckt eine Kerze für ein Abendgebet an

Ökumenischer MännerordenSexualisierte Gewalt in der Gemeinschaft von Taizé

22:53 Minuten13.12.2022
Kardinal Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln, geht nach einer Pressekonferenz zur Vorstellung eines Gutachtens zum Umgang des Erzbistums Köln mit sexuellem Missbrauch

Sexualisierte Gewalt im Erzbistum Köln Kardinal Woelki bleibt im Amt

Existieren bei den Pfadfindern Strukturen, die Missbrauch begünstigen?

Zum Pfadfinderleben gehören gemeinsame Ausflüge mit Übernachtung, Zeltlager ohne Eltern, manchmal wochenlang und teilweise ohne erwachsene Begleitpersonen. In einigen Stämmen, so heißen die Ortsgruppen der Pfadfinder, herrsche eine Kultur der Grenzverletzung. Kinder würden nachts allein und nackt in den Wald geschickt, berichtet Studienleiterin Helga Dill.
Gruppendruck, Aufnahmerituale und Mutproben würden es den Kindern und Jugendlichen erschweren, ihre persönlichen Grenzen zu erkennen und zu wahren. „Mutproben erfordern eine Grenzüberschreitung. Damit ist dieses Empfinden, jetzt muss ich Stopp sagen, dann ein bisschen außer Kraft gesetzt.“
Die Soziologin Dill spricht von einer Parallelstruktur: Die Pfadfinder und Pfadfinderinnen verstehen sich als eingeschworene Gemeinschaft und pflegen besondere Regeln und Bräuche wie zum Beispiel das Prinzip „Jugend-führt-Jugend“, bei dem Jugendliche Kindergruppen leiten.
DLRG-Flaggen wehen im Wind.

Sexualisierte GewaltÜbergriffe bei DLRG-Ferienfreizeit

08:07 Minuten12.11.2022
Schwestern und Kinder stehen auf diesem Schwarzweiß-Foto im Außenbereich eines Kinderheims in Frankfurt Oder.

Sexualisierte Gewalt in der DDRMissbrauch in Heimen und Kliniken

07:44 Minuten15.08.2023
Illustration einer Frau, die vor Händen, die aus einem Smartphone kommen davon rennt.

Folgen der Corona-PandemieStudie: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder im Netz hat stark zugenommen

06:41 Minuten18.09.2023
Manche verbringen so viel Zeit bei den Pfadfindern, dass die Gruppe zur Ersatzfamilie werde. Dadurch entstehe eine enge Bindung zu den Tätern. Betroffene könnten von ihrem Stamm als Verräter diffamiert werden, wenn die Täter die respektierten Gruppenleiter sind.
„Wo wir dran zu knabbern haben werden, ist, dass viele unserer pädagogischen Methoden, von denen wir selber sagen, dass sie uns abheben von anderen Jugendverbänden und anderen Pfadfinderbünden, die Dinge sind, die den Weg für sexualisierte Gewalt geebnet haben“, sagt die Vorsitzende des Pfadfinderbunds BdP, Annika Schulz, selbstkritisch.
Pfadfinder suchen sich auf dem Bundeslager am Mittwoch (27.07.2005) in Almke bei Wolfsburg ihren Lagerplatz. Zwei Jungen studieren eine Karte, im Hintergrund stehen aufgebaute Zelte.
Pfadfinder organisieren sich in so genannten Stämmen, fahren gemeinsam in Zeltlager und verbringen viel Zeit miteinander. picture-alliance

Wie ging der BdP in der Vergangenheit mit Missbrauchsvorwürfen um?

Schon lange ist bekannt, dass es unter den Pfadfindern sexualisierte Gewalt gibt und gab. Seit 2001 bemüht sich beim BdP ein Arbeitskreis um Prävention. Allerdings seien viele Fälle nicht vernünftig dokumentiert worden. Das ist ein weiteres Ergebnis der nun vorliegenden Studie. In der Vergangenheit sei über Missbrauchsfälle eher geschwiegen worden, statt sie aufzudecken und Täter zur Verantwortung zu ziehen.
Betroffene seien zudem meist allein gelassen worden, wie die Studie zeigt. Das geschah selbst dann, wenn sie den Vorfall beim Pfadfinderbund meldeten. Täter mussten in der Regel keine Konsequenzen fürchten und konnten, wenn sie ihren Stamm verlassen mussten, einfach einen neuen gründen oder den Landesverband wechseln.
Ein Jugendlicher schaut auf sein Smartphone (Symbolbild)

Sexuelle Gewalt Zahl der Fälle gegen Kinder und Jugendliche weiter hoch

04:15 Minuten23.05.2023
Grafik von zwei Menschen, die vor einer übergroßen Banane stehen, über die ein Kondom gestülpt wurde.

Pädagoge SielertMit Bildung gegen sexualisierte Gewalt

36:47 Minuten11.10.2023

Was ändert sich durch die Studie? Welche Präventionsmaßnahmen gibt es?

Missbrauchsstudien sind wichtig, um Betroffenen eine Stimme zu geben. Außerdem schaffen sie ein Bewusstsein für strukturelle Probleme. Das hilft dabei, Präventionsmaßnahmen zum besseren Schutz von Kindern und Jugendlichen zu entwickeln.
Inzwischen bietet der Pfadfinderbund seinen Mitgliedern regelmäßig Schulungen an, in denen über Machtmissbrauch aufgeklärt wird. Es gibt einen Verhaltenskodex für Pfadfinder sowie Vertrauenspersonen, an die sich Betroffene wenden können.
Abhängig vom gemeldeten Vorfall ist nun vorgesehen, dass ein Interventionsteam gebildet wird, dem eine externe Beratungsstelle angehört. Mutmaßliche Täter werden mit ihren Vergehen konfrontiert. Außerdem muss mittlerweile jeder Vorfall dokumentiert werden.

Kulturwandel bei den Pfadfindern notwendig

Problematisch ist nach wie vor, dass die einzelnen Stämme und Landesverbände ganz unterschiedlich mit Missbrauchsvorwürfen umgehen. Häufig seien die Pfadfindergruppen, die meist von Ehrenamtlichen getragen werden, schlichtweg überfordert im Umgang mit Missbrauchsvorwürfen.
„Wir denken oft, wir können die Sachen alleine. Aber das können wir nicht“, räumt BdP-Vorsitzende Annika Schulz ein. „Man kann so einen großen Konflikt in vielen, vielen Fällen nicht alleine klären.“
Darüber hinaus fordert Schulz einen Kulturwandel innerhalb ihrer Organisation. Es dürfe nicht sein, dass frühere Stammesgründer, die sexuell übergriffig waren, auf Internetseiten gewürdigt werden.

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März 2024 | In Arbeit | Kommentieren
Eine Apokalypse braucht überraschend viel oder wenig Energie – je nachdem, womit man es vergleicht. Wirklich spannend ist aber die Mathematik hinter der Zerstörung.

Will man die Erde zerstören, hat man – das zu tun – viele Möglichkeiten. Zumindest, wenn es nur um die Auslöschung der Menschheit geht. Atomkrieg, Klimakrise oder Artensterben: Wir haben im Lauf der Zeit leider jede Menge Möglichkeiten gefunden, uns selbst zu vernichten. Aber dem Planeten ist das alles relativ egal.

Um die Erde tatsächlich richtig zu zerstören, muss man sich schon etwas mehr anstrengen. Eine Kollision mit einem großen Asteroiden könnte den Planeten beispielsweise unbewohnbar machen und die Erdkruste aufschmelzen, aber auch das würde die Erde nicht zerstören. Will man sie komplett pulverisieren, so dass nichts mehr übrig bleibt, muss man sich mit folgender Formel beschäftigen –

Diese Gleichung beschreibt die gravitative Bindungsenergie:

Formel zur gravitativen Bindungsenergie

Diese Formel entspricht der Energie, die nötig ist, wenn man die durch Gravitationskraft zusammengehaltenen Bestandteile eines Körpers unendlich weit voneinander entfernen will, sie stellt den Spezialfall für eine homogene Kugel dar. Die Erde ist zwar keine Kugel und auch nicht homogen, aber die Gleichung reicht aus, um zumindest die richtige Größenordnung ihrer Bindungsenergie zu berechnen. Tut man das, erhält man ein Ergebnis von zirka 200 Quintillionen Joule. Das entspricht in etwa der Energie, die man erhält, wenn man die Masse des kompletten Asteroiden Eros (der immerhin einen mittleren Durchmesser von fast 17 Kilometern hat) direkt in Energie umwandeln könnte. Andererseits aber entspricht es nur einem Sechzigstel der Energie, die die Sonne in einem Jahr produziert.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Wenn man nicht gerade an der kompletten Zerstörung eines Planeten interessiert ist, dann ist die gravitative Bindungsenergie aus einem anderen Blickwinkel viel interessanter. Denn sie entspricht nicht nur der benötigten Energie, um den Zusammenhalt durch Gravitation aufzulösen. Die gleiche Energiemenge wird auch frei, wenn sich beispielsweise ein Stern bildet. Fängt eine der großen Gaswolken im interstellaren Raum durch äußere Einflüsse an zu kollabieren, wird sie immer kompakter. Sie fällt in sich zusammen, die Materie kommt sich immer näher und wird immer stärker aneinander gebunden. Durch den Kollaps wird die Menge an Energie frei, die durch die Formel für die Bindungsenergie gegeben ist.

Hinweise auf die Dunkle Materie

Diese Energie sorgt dafür, dass sich die Gaswolke, aus der später ein Stern entsteht, immer weiter aufheizt. Früher, bevor man wusste, wie alt die Sterne sind (und die Kernfusion noch nicht verstanden hatte), dachte man sogar, dass die gesamte Energie der Sonne aus ihrem ursprünglichen Kollaps stammt. Das hat sich zwar als falsch herausgestellt, aber man darf diese Energie trotzdem nicht vernachlässigen. Jupiter strahlt beispielsweise mehr Energie ins All ab, als er von der Sonne aufnimmt. Ein Teil dieser zusätzlichen Energie stammt von der langsamen Kontraktion des Gasplaneten, der unter seiner eigenen Anziehungskraft ein paar Zentimeter pro Jahr schrumpft.

Zu wissen, wie viel Energie nötig ist, um etwas zu binden, ist in der Astronomie generell wichtig. In den 1930er Jahren berechnete Fritz Zwicky, wie schnell sich Galaxien in einem Galaxienhaufen höchstens bewegen können, um sich nicht aus ihrer wechselseitigen gravitativen Bindung zu lösen. Das Ergebnis war deutlich geringer als die tatsächlich beobachtete Bewegung. Die gravitative Bindung musste also größer sein als erwartet. Zwicky folgerte daraus, dass eine »Dunkle Materie« die zusätzliche Gravitationskraft ausübt, die nötig ist, um den Galaxienhaufen zusammenzuhalten.

März 2024 | In Arbeit | Kommentieren

Beschleunigter Alterungsprozess: Bei der Krankheit Progerie werden Kinder und junge Erwachsene zu Greisen.Vergrößern des Bildes

Beschleunigter Alterungsprozess: (Quelle: Globallmagens/imago-images-bilder)

Seltene Erkrankungen sind meist nicht heilbar und oft tödlich: Eine davon ist das Werner-Syndrom, bei dem Patienten deutlich älter aussehen, als sie sind.

Es ist ein medizinisches Phänomen, das kaum zu begreifen ist: Menschen im Kindes- oder Teenageralter, die wie Greise aussehen. Bei dieser seltenen genetischen Krankheit handelt sich um eine Form der Progerie, genauer gesagt um das sogenannte Werner-Syndrom. Betroffene altern deutlich schneller als normal – und sterben deutlich früher. Wie sich die Erkrankung bemerkbar macht und was zu den Ursachen bekannt ist, lesen Sie hier.

Zwei Formen der Progerie

Der Begriff Progerie stammt aus dem Griechischen und bedeutet „vorzeitiges Altern“. Dabei werden zwei Typen unterschieden:
– Progerie Typ I: Hutchinson-Guilford-Progerie-Syndrom (HGPS); das schnelle Altern setzt ab dem ersten Lebensjahr ein
– Progerie Typ II: Werner-Syndrom; das schnelle Altern setzt im Jugendalter ein

Werner-Syndrom – wenn Menschen vorzeitig altern

Das Werner-Syndrom ist eine genetische Störung, die dazu führt, dass Menschen fünf- bis zehnmal schneller altern. Für die Patienten und das Umfeld ist dies extrem belastend. Der stark verfrühte Alterungsprozess setzt meist in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter ein. In den Kinderjahren durchlaufen die Betroffenen eine normale Entwicklung. Zu den ersten Symptomen zählen vor allem Wachstumsstillstand sowie faltige Haut. Mit etwa 20 Jahren zeigen viele bereits graue Haare oder eine Glatze.

Hinzu kommen bei vielen Patienten altersbedingte Krankheiten, wie etwa:

Menschen mit dieser Störung haben aufgrund des großen Krankheitsrisikos eine geringere Lebenserwartung. Die meisten sterben mit etwa 50 Jahren.

Ursachen des Werner-Syndroms nicht völlig erforscht

Der Prozess des Alterns ist komplex, daher ist die Entstehung der Progerie noch nicht vollständig geklärt. Wissenschaftler nehmen an, dass beide Progerie-Typen auf Fehler in der Erbinformation (Mutationen) zurückzuführen sind, die jeweils in verschiedenen Genen entstehen. Beim Werner-Syndrom gehen sie von einer autosomal-rezessiven Vererbung aus: Das bedeutet, beide Eltern müssen eine defekte Genkopie an das Kind weitergeben, damit die Krankheit ausbricht. Der Gendefekt beeinträchtigt demnach die Reparaturmechanismen im Körper.

Wie häufig ist die Diagnose Werner-Syndrom?

Die seltene Krankheit tritt weltweit mit einer Häufigkeit von 1:1.000.000 auf.

Progerie Typ I und Typ II sind unheilbar

Beide Formen der Progerie sind nicht heilbar. Die Behandlung zielt ausschließlich darauf ab, die Symptome der betroffenen Menschen zu lindern, Folgeerkrankungen zu behandeln und Komplikationen wie Herzinfarkten oder Schlaganfällen vorzubeugen.

  • Trimethylaminurie: Fischgeruch-Syndrom: Ursachen und Behandlung
  • Nekrotisierende Fasziitis: Nekrotisierende Fasziitis: Was steckt dahinter?
  • „Bahnbrechende“ Studienergebnisse: Durchbruch in der Rheuma-Forschung

Wissenschaftler sind auf der Suche nach neuen Behandlungsmethoden. Seit 2022 steht Patienten mit Typ-I-Progerie ein Medikament namens Lonafarnib zur Verfügung. Es kann ab einem Lebensalter von zwölf Monaten verabreicht werden. Studiendaten zeigen bisher, dass das Medikament das Leben der Betroffenen deutlich verlängern kann. Für Patienten des Werner-Syndroms ist solch ein Mittel noch nicht verfügbar.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
März 2024 | In Arbeit | Kommentieren

Die Mittelschicht weiß derzeit nicht, wie sie sich in Sachen Klimaschutz verhalten soll.

© Illustration: WZ, Bildquelle: Stable Diffusion

Keine Partei erreicht derzeit die neue Mitte, also den jüngeren Anteil der Mittelschicht – und damit auch nicht ihre Ängste.

Anna ist 39 Jahre alt, angestellt, hat zwei kleine Kinder. Beim Einkaufen im Supermarkt steht sie vor den Regalen und weiß oft nicht, ob sie an die Geldbörse oder an die Umwelt denken soll. Bringt es wirklich etwas, wenn ich die Bio-Butter kaufe? Sie weiß es nicht und entscheidet mal so, mal so. Nachrichten schaut sie kaum. Die ewigen Streitereien in der Politik gehen ihr auf die Nerven. Und über all dem schwebt etwas, das ihr große Angst macht: die Klimakrise.

„Die einheitliche Mitte gibt es nicht mehr“

Anna steht für die Mitte der Gesellschaft. Sie ist verunsichert, hat keine Antworten auf die großen Klima-Fragen und findet keine Partei, die ihr klare Antworten liefert. Bei Klima-Debatten hält sie sich raus. Zu festgefahren sind ihr die Einstellungen. Doch ohne die Mitte der Gesellschaft kann wenig bewegt werden. „Ohne die Mitte ist die Klimakrise nicht bewältigbar“, sagt Christian Kdolsky von der Bürgerinitiative „Zukunftsallianz“, die gemeinsam mit dem Marktforschungsinstitut Integral die Bevölkerung auf diese Fragen abgeklopft hat.

Die Mitte der Gesellschaft hat sich sehr lang sehr homogen präsentiert: Mittelschicht, mittleres bis hohes Einkommen, soziale Werte und Tugenden. Doch diese einheitliche Mitte gibt es nicht mehr. Das Marktforschungsinstitut hat eine Gruppe definiert, die sich „adaptiv-pragmatisch“ nennt. Sie sind mit 14 Prozent die größte Gruppe der gesellschaftlichen Mitte. Diese Gruppe hat die „alte“ Mitte überholt, die „nostalgisch-bürgerlichen“, die jetzt bei zwölf Prozent liegen. Als dritte Gruppe tummeln sich die „postmateriellen“ mit elf Prozent in der Mitte.

  • Die aktuelle Mitte „Adaptiv-Pragmatisch“: Der flexible und nutzenorientierte Mainstream

  • Die ehemalige Mitte: „Nostalgisch-Bürgerlich“: Die systemkritische ehemalige Mitte

  • Postmaterielle: Die weltoffenen Kritiker:innen von Gesellschaft und Zeitgeist

Das Sinus-Milieu-Modell bezeichnet die neue, moderne Mitte als „adaptiv-pragmatisch“; sprich (Situations-)angepasst, praktisch denkend. „Die neue Mitte ist bereit, etwas zu tun, weiß aber nicht genau wie“, erklärt Marktforscher Barth im WZ-Interview. Sie wisse nur, dass sie die Augen nicht mehr verschließen kann. Sie hält laut Barth wenig von Ideologien und verlangt nach konkreten Angeboten. Sie sei pragmatisch im Ansatz und frage „was habe ich davon?“

Man kann sie mit Klimaschutzmaßnahmen erreichen, wenn sie Nutzen und Sinnhaftigkeit erkennen.Bertram Barth, Integral-Geschäftsführer

„Diese Menschen haben sich ihren Wohlstand erarbeitet und haben Angst, diesen wieder zu verlieren. Man kann sie mit Klimaschutzmaßnahmen erreichen, wenn sie Nutzen und Sinnhaftigkeit erkennen.“ So schätzen sie zum Beispiel den Reparaturbonus. Auch die Systematik der CO2-Besteuerung mit dem Rückfluss des Klimabonus würden sie gut akzeptieren, „leider verstehen viele das Prinzip aber nur unzureichend“.

-> Die 10 Sinus-Milieus der Gesellschaft

Das Problem sei, dass die Politik die neue Mitte nicht erreicht, sagt Barth. Die FPÖ bediene nur das nostalgisch-bürgerliche Klientel, geprägt von Klimawandel-Leugner:innen. „Diese Menschen haben das System getragen und sind heute empfänglich für Rechtspopulisten. Sie wollen zurück in eine Zeit, in der angeblich die Welt noch in Ordnung war, in der es nur zwei Geschlechter gab, die Grenzen geschlossen waren und niemand von der Klimakrise redete.“ Die ÖVP schaue neidisch auf die Freiheitlichen und hechle hinterher. Die Grünen würden in erster Linie die Postmateriellen bedienen, moralisch und gut situiert. „Sie kommen aus diesem Cluster nicht heraus“, sagt Barth. Und die SPD sei orientierungslos und matche sich mit den Grünen.

„Aktuell redet die Politik kaum mit der modernen Mitte, ihre Bedürfnisse und Interessen werden nicht angesprochen.“ Wenn man sie ansprechen will, muss man laut Barth auch ihre Sprache sprechen und ihre Erwartungen an Bildgestaltung und Veranschaulichung treffen. Es müsste klar vermittelt werden, ja, es gehe auch um Verzicht, allerdings bringe dieser auch etwas. „Diese Gruppe hat ein hohes Sicherheitsbedürfnis und wünscht sich eine sichere Zukunft für alle.“

Klare Klimaschutz-Angebote seitens der Politik fehlen demnach. Auch die Erklärung, warum man überhaupt das Klima schützen sollte und die Einigung darüber, mit welchen gemeinsamen Maßnahmen. Eine aktuelle Umfrage von Kontext, Institut für Klimafragen, bestätigt diesen Gap. In der Altersgruppe der 20- bis 29-Jährigen sagen 81,8 Prozent, dass, obwohl viel darüber gesprochen wird, zu wenige Maßnahmen gegen die Klimakrise gesetzt werden. 71,7 Prozent wünschen sich, dass jemand ihnen die Klimakrise neutral erklärt. 76,1 Prozent in dieser Gruppe sagen sogar, dass sie das Gefühl haben, dass manche Lösungen aktiv verhindert werden. Gleichzeitig fühlen sich 73,6 Prozent von der Klimakrise bedroht.

  • 81,8 Prozent der 20- bis 29-Jährigen finden, dass zu wenige Klimaschutz-Maßnahmen gesetzt werden

  • 71,7 Prozent wünschen sich eine neutrale Erklärung der Klimakrise

  • 76,1 Prozent haben das Gefühl, dass Lösungen verhindert werden

Eine Bedrohung und keine klaren politischen Konzepte dagegen bringt Verunsicherung und schafft Raum für andere Interessen. „In der Öffentlichkeit ist die derzeitige Debatte rund um den Klimawandel sehr stark von der FPÖ und dem nostalgisch-bürgerlichen Milieu geprägt“, erklärt der Marktforscher. „Diese Gruppe fühlt sich von der sogenannten Elite vergessen und verraten. Sie fühlt sich nicht ernst genommen, leugnet den Klimawandel und spürt, dass die Welt komplizierter geworden ist.“

Viele junge Menschen sind völlig desinteressiert am Thema Nachhaltigkeit.Bertram Barth, Integral-Geschäftsführer

Und wer glaubt, dass all die Jungen für das Klima auf die Straße gehen würden, der täuscht sich laut Barth. „Ja die FFF-Bewegung ist laut und man sieht in der Öffentlichkeit ein aktives jüngeres Milieu, aber viele junge Menschen sind völlig desinteressiert am Thema Nachhaltigkeit“, sagt er. Im Durchschnitt sind etwa die unter 30-Jährigen nicht stärker an Nachhaltigkeit interessiert als die Gesamtbevölkerung. Dennoch dominiert bei allen Altersgruppen eine diffuse Angst vor dem möglichen Klima-Kollaps.

Eine große Bedrohung, deren Bewältigung keine Mehrheiten findet? Auch wenn sie derzeit in der Debatte übersehen wird, die neue Mitte der Gesellschaft ist wichtig. „Sie sind Brückenbauer in andere Wertebereiche. Mehrheiten für politische und gesellschaftliche Entwicklungen sind gegen dieses Milieu nicht möglich“, sagt Barth. Brückenbauer können prinzipiell mit jedem, sind bereit, etwas zu tun.

Anna ist auch bereit, etwas zu tun. Doch es fehlt ihr an Klarheit und konkreten Maßnahmen, die nicht nur ihr, sondern auch der Umwelt helfen würden.

 

März 2024 | In Arbeit | Kommentieren

Als Armin Laschet auf der Bühne steht, verstummt die Menge. Ungewöhnlich – ist der CDU-Politiker doch für seine humorige Art bekannt. Beim Aachener Karneval brachte er bereits den Saal zum Grölen. Und als er mitten im Wahlkampf die Flutgebiete des Ahrtals besuchte, scheint ihn ein Witz derart zu belustigen, dass ihm ein breites Grinsen über die Lippen fährt.
Ein Wendepunkt im Rennen um die Kanzlerschaft, wie der damalige Generalsekretär Paul Ziemiak später eingestand. Und eine Situation, die den CDU-Politiker zur tragischen Figur des deutschen Politikbetriebes machte. Bei der Wahl zum nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten hatte er sich noch gegen seine sozialdemokratische Konkurrentin durchgesetzt. Sein Wahlkampf ums Kanzleramt scheiterte an zahlreichen Patzern.

Heute ist Olaf Scholz Bundeskanzler, Markus Söder bayrischer Ministerpräsident – und Laschet? Der muss sich mit der Position eines einfachen Abgeordneten zufriedengeben. Doch in dieser scheint er neuerdings zu glänzen. Denn bei einer Rede in Aachen wird er bejubelt und darf sich im Nachhinein sogar am Applaus des politischen Mitbewerbers erfreuen.

Armin Laschet: Demonstration zählte 20.000 Menschen

Am Wochenende waren deutschlandweit Hunderttausende gegen Rechtsextremismus und die in Teilen rechtsextreme AfD auf die Straße gegangen. Große Demonstrationen gab es unter anderem in Berlin (150.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer) und Düsseldorf (100.000).

Immerhin 20.000 kamen im deutlich kleineren Aachen (NRW) zusammen. In der Stadt, in der einst schon Karl der Große residierte, nahmen mehrere bekannte Politiker als Redner an der Kundgebung teil. Neben Laschet waren auch Bundeswirtschaftsminister Christian Lindner (FDP), CDU-Politikerin Julia Klöckner und der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) zugegen.

Auch interessant: Selbst Europas Scharfmachern ist die AfD zu radikal

Armin Laschet warnt: Gefahr der AfD nicht kleinreden

Der Ex-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen erinnerte in seiner Rede daran, dass die Errichtung der nationalsozialistischen Terrorherrschaft 1933 nur zwei Monate in Anspruch genommen habe. „Man kann sagen: Naja, so schlimm wird das nicht werden“, so Laschet. Aber das hätten die Menschen 1932 auch gedacht, als die NSDAP bei der letzten freien Wahl vor der Machtergreifung 33 Prozent erreicht habe.

„Und deshalb dürfen Antidemokraten in keine staatlichen Funktionen kommen“, sagte Laschet unter dem Beifall der Demonstranten. „Sie werden sie nutzen, um die Demokratie zu beseitigen und das werden wir nicht zulassen.“

SPD-Politikerin Chebli lobt die Rede in höchsten Tönen

Worte, die auch im Nachhinein auf Zustimmung stießen. Ulrich Schneider etwa, Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands und ehemaliges Linken-Mitglied, schrieb auf „X“: „Hört auf @ArminLaschet! “, und teilte die Rede des CDU-Politikers. „Was die Geschichte lehrt: Faschisten wie in der #noAfD kann im Zweifel nur eine einzige gewonnene Wahl reichen, um die Macht zu ergreifen und dafür zu sorgen, dass wir unser Deutschland nicht mehr wiedererkennen“, so Schneider weiter

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Auch die im linken Spektrum der SPD verortete Sawsan Chebli fällt ein eindeutiges Urteil über den politischen Mitbewerber: „Die beste Rede kommt von @ArminLaschet!“, schrieb sie ebenfalls auf „X.“

Mehr dazu: AfD: Gründung, Mitglieder, Fakten – Die AfD im Steckbrief

 

März 2024 | In Arbeit | Kommentieren
Die Übermacht der Invasoren ist gewaltig. 4.500 Kriegsschiffe und 140.000 Soldaten nehmen Kurs auf die Südküste Japans. Schon sieben Jahre zuvor hatten die Mongolen unter Kublai Khan vergeblich versucht, das Inselreich zu erobern. Jetzt, im Sommer 1281, wähnen sie sich endlich am Ziel. Die mongolische Flotte landet außerhalb der Verteidigungswälle in der Hakata-Bucht im Süden Japans.

Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die gigantische Eroberungsarmee das Inselreich überrollt. Im Schutz der Dunkelheit aber klettern japanische Samurai von kleinen Booten auf die mongolischen Schiffe. Lautlos töten sie die feindlichen Soldaten. Noch vor Anbruch des Tages ziehen sie sich wieder zurück. Und plötzlich scheinen auch die Götter den japanischen Verteidigern zu Hilfe zu eilen.

Am 15. August wütet ein Taifun über dem Meer, wie ihn Japan selten zuvor erlebt hat. Wenige Tage später ist Kublai Khans Flotte vernichtet. Fast alle mongolischen Soldaten sind ertrunken oder von den Samurai getötet worden. Der hilfreiche Sturm ging als „göttlicher Wind“ oder „Kamikaze“ in die japanische Geschichte ein, die siegreichen Samurai gelten bis heute als Sinnbild für fernöstliche Tapferkeit und Tugend.

Ein Samurai auf Hokkaido nimmt Tributzahlungen von unterworfenen Einheimischen entgegen.

Ein Samurai auf Hokkaido nimmt Tributzahlungen von unterworfenen Einheimischen entgegen.

Foto von Gemeinfrei

Wer waren die Samurai?

Gut 700 Jahre lang prägten die Samurai als adlige Kriegerkaste das feudale Japan. Ihre ruhmreiche Zeit begann im späten 8. Jahrhundert. Damals gab es in Japan zunächst noch eine allgemeine Wehrpflicht. Allerdings waren die meisten Soldaten eigentlich Bauern und deshalb schlechte Kämpfer. Im Jahr 792 ließ der Tenno, der japanische Kaiser, seine Armee deshalb zum Freiwilligenheer umgebaut. Doch die Verteidigungsmittel waren begrenzt.

Vor allem in den abgelegenen Provinzen mussten die Bauern und Familienklans lernen, sich selbst zu schützen. Viele taten dies so erfolgreich, dass ihre Kampfkünste auch fernab der Heimatdörfer für Aufsehen sorgten. So spezialisierten sich einige Klans darauf, ihre militärischen Dienste dem Kaiserhaus oder den Provinzfürsten, den Daimyos, anzubieten.

Es war die Geburtsstunde der Samurai oder Bushi, wie sie in Japan zumeist genannt werden. Als Soldaten kämpften sie nicht nur gegen feindliche Invasoren aus dem Ausland. Zugleich sollten sie die Ländereien des Adels schützen. Als Verwalter in den Provinzen gewannen die Samurai zunehmend an Einfluss. Mit der Zeit etablierten sie sich als Schwertadel (Buke) fest neben dem traditionellen Hofadel (Kuge).

Galerie: Japans Samurai

Von Dienern zu Herrschern: Aufstieg der Samurai 

Im Laufe der Jahrhunderte wurden die Samurai immer mächtiger. Die Einführung des Shogunats als neue Regierungsform ab 1192 spielte hierbei eine entscheidende Rolle. Schon in früheren Zeiten hatte es Anführer aus dem Kriegeradel der Samurai gegeben, die auf kaiserliches Geheiß den Titel des Shoguns trugen. Für eine begrenzte Zeit hatten sie damit militärische Befugnisse, die denen eines europäischen Herzog entsprachen.

Nun aber hatte der einflussreiche Klanchef Minamoto no Yoritomo durchsetzen können, dass aus dem Shogunat ein erbliches Amt wurde. Als Shogun war Yoritomo auf diese Weise zum unumschränkten Oberbefehlshaber und damit zum mächtigsten Mann im Land geworden. Der Tenno blieb zwar offizielles Staatsoberhaupt, hatte faktisch allerdings nur noch wenig Einfluss.

Durch die neue Militäraristokratie des Shogunats waren die Samurai zur herrschenden Gesellschaftsschicht aufgestiegen. Und es gab viel zu tun für die Kriegsadligen: Bis ins 16. Jahrhundert wurde das politisch zersplitterte Japan laufend von politischen Kämpfen, Aufständen und Bürgerkriegen heimgesucht. Die absolute Loyalität eines Samurai galt Shogun und Daimyo. Unterstand ein Samurai keinem Herrn, bezeichnete man ihn als Ronin.

Die letzten ihres Standes: Samurai in den 1860-er Jahren

Die letzten ihres Standes: Samurai in den 1860-er Jahren

 

Katana, Wakizashi, Tanto: Die Waffen der Samurai

Ein neues Gesetz im Jahr 1586 gab den Samurai weitere Machtfülle. Die Zugehörigkeit zum Stand wurde als erblich festgeschrieben. Außerdem erhielten die Samurai ein Waffenmonopol. Niemand sonst durfte nun Kriegsgeräte tragen.

Zu den charakteristischen Kampfgeräten gehörte das Daisho – ein Schwertpaar aus Langschwert (Katana) und Kurzschwert (Wakizashi). Weitere typische Waffen waren das Nahkampfmesser Tanto sowie ein riesiger Langbogen. Ein geübter Bogenschütze brachte es auf Reichweiten von bis zu 300 Metern.

Die Krieger folgten einem strengen Verhaltenskodex – dem Bushido. Tugenden wie Aufrichtigkeit, Höflichkeit, Ehrhaftigkeit, Reinheit, Mut und Loyalität waren Leitlinien ihres Handelns. Zugleich hatte ein Samurai das Recht, einen einfachen Bauern mit einem Schwerthieb zu töten, wenn dieser sich ihm gegenüber respektlos verhielt.

Die japanische Kunst des einen Pinselstrichs
Hitofude-Ryuu ist eine traditionelle japanische Maltechnik. Dabei wird der Körper eines Drachen mit nur einem Pinselstrich gemalt.

Seppuku: Das Selbstmordritual der Samurai

Darüber hinaus war eine ritualisierte Form des männlichen Selbstmords fester Bestandteil der Samurai-Kultur. Beim Seppuku, im Westen als Harakiri bekannt, schlitzte ein Samurai sich eigenhändig den Bauch auf. Die Gründe dafür waren vielfältig und für viele westliche Beobachter schwer nachzuvollziehen. Eine Leben in Schande durch persönlichen Ehrverlust gehörte ebenso dazu wie der Tod des Herrn, der einen Samurai zum Ronin machte.

Mit Beginn des 17. Jahrhunderts begann sich das Leben der Samurai allmählich zu wandeln. Die gut 250 Jahre der Edo-Zeit (1603-1868) gelten heute als längste Friedenszeit in der Geschichte Japans. Für die Samurai waren dies keine guten Vorzeichen. Ihr Geschäft war der Kampf. Von nun an mussten sich zahlreiche Kriegsadlige als Beamte oder Gelehrte verdingen.

Zu jener Zeit wurde auch erstmals ein Europäer zum Samurai ernannt. William Adams war ein englischer Seefahrer, der im April 1600 Japan erreichte. Der Shogun verbot ihm, das Inselreich wieder zu verlassen. Stattdessen wurde Adams in den Samurai-Stand erhoben. Bis zu seinem Tod lebte er in Japan.

Das Schicksal des William Adams ist Vorbild für die Figur des John Blackthorne in der bildgewaltigen neuen Historienserie „Shogun“ auf Disney+, basierend auf dem gleichnamigen Roman von James Clavell.

Meiji-Restauration: Untergang der Samurai im 19. Jahrhundert

Jahrhundertelang hatte Japan versucht, sich vom Westen abzuschotten. Das änderte sich, als Kaiser Meiji (1852–1912) die Gesellschaft ab 1868 nach westlichem Vorbild umgestalten ließ. Mit strengen Reformen versetzte er dem Kriegsadel den Todesstoß. Das Shogunat wurde abgeschafft und mit ihm die Macht der Samurai gebrochen. Der Tenno erlangte eine Machtfülle wie seit 700 Jahren nicht mehr.

Meiji führte wieder die Wehrpflicht ein. Damit waren die Samurai ihres Waffenmonopols beraubt. Das Tragen von Daisho und traditionellen Kriegsgewändern war nun in der Öffentlichkeit untersagt. Selbst der traditionelle Haarknoten der Samurai wurde verboten. Viele der einst so stolzen Krieger versanken in Armut.

Im Zuge dessen kam es immer wieder zu Revolten. Die Niederschlagung der letzten Samurai-Rebellion im Jahr 1877 markierte schließlich das endgültige Ende der Ära. Am 29. November 1890 trat die neue Verfassung des Kaiserreichs Groß-Japan in Kraft.

Wenn ihr noch tiefer in die Welt der Samurai eintauchen wollt, könnt ihr ab 27. Februar die neue Serie „Shogun“ exklusiv auf Disney+ streamen

Feb. 2024 | In Arbeit | Kommentieren
Eine historische Stadtwohnung, ein luxuriöses Apartment oder ein geschichtsträchtiges Penthouse – diese außergewöhnlichen Airbnbs sind Geheimtipps für Ihre nächste Reise nach Rom – ich werde Rom – schluchz – leider nicht nochmal wiedersehen.  Schauen aber nun Sie – Rundschauverwöhnte Leser doch mal rein …

(mehr …)

Feb. 2024 | In Arbeit | Kommentieren

Der Begriff Eschatologie wurde im 17. Jahrhundert für das Lehrstück der Dogmatik geprägt, das auch „Lehre von den Letzten Dingen“ hieß und das sich mit der Zukunft und der Vollendung der einzelnen Menschen und der Schöpfung im ganzen befasst. In diesem Sinn spricht auch die Religionsgeschichte von Eschatologie. In der soziologischen, politologischen und philosophischen Futurologie wird der Begriff Eschatologie gelegentlich ebenfalls verwendet; er meint dann die Erforschung der wissenschaftlich prognostizierbaren Möglichkeiten der Geschichte, ohne eine Vollendung in Betracht zu ziehen. In den Glaubensbekenntnissen wird die christliche Erwartungs- und Hoffnungshaltung ausgesprochen im Hinblick auf das (Wieder-)Kommen Jesu als Richter über Lebende und Tote (Parusie), auf die Auferstehung der Toten und das Ewige Leben. In der alten Kirche wurden die einzelnen biblischen Aussagen, außer denen über die genannten Themen auch diejenigen über Tod, Himmel, Hölle, Seele, Leib, Ewigkeit und die über das katastrophische Ende der Welt eingehend – aber isoliert – behandelt.

Einige wenige Theologen brachten ihre geschichtstheologischen Überlegungen in eine systematische Gestalt (Irenäus von Lyon † um 202: Anakephalaiosis; Origenes † 253: Origenismus; Augustinus †430: Augustinismus). Da die biblischen Zeugnisse vielfach als relativ dürftig empfunden wurden, fanden außerbiblische Texte über Jenseitsreisen und Visionen große Aufmerksamkeit. Die Beschäftigung mit den Einzelthemen der Eschatologie geschah im Horizont des als selbstverständlich hingenommenen antiken Weltbildes, das mit dem „Himmel“ oben als der Wohnstätte Gottes und dem Versammlungsraum der Seligen sowie mit der Unterwelt als der unterirdischen Strafhölle rechnete. Diese „Jenseitsgeographie“ erleichterte die Auffassung, die Zukunft bestehe aus letzten „Dingen“. Die biblische Naherwartung verband sich mit der bei Kirchenvätern geläufigen Theorie, der Kosmos sei alt und erschöpft und stehe deshalb vor seinem Ende, eine Meinung, die Weltflucht und -verachtung begünstigte und dazu beitrug, dass die Geschichte nur als Ort der Prüfung und Bewährung, um in den Himmel zu kommen, aufgefasst wurde. Die mittelalterliche Theologie kam über die Sammlung und Kommentierung biblischer Einzelthemen zur Eschatologie kaum hinaus. Kirchenamtliche Stellungnahmen betrafen den Chiliasmus und das Schicksal der menschlichen Seele sofort nach ihrem Tod. Eine katholische Sonderlehre wurde beim Thema des Fegfeuers entwickelt.

Auch die Theologie der Reformatoren fand noch nicht zu einem systematischen Traktat der Eschatologie. Die Anfänge eines solchen finden sich in der evangelischen Theologie bei Friedrich Schleiermacher († 1834), in der katholischen Theologie vor allem in der Tübinger Schule des 19. Jahrhundert, wobei die Einflüsse Georg Wilhelm Friedrich Hegels († 1831) mit seinem Bedenken des zielgerichteten Geschichtsprozesses und seiner Vollendung nicht zu verkennen sind; von da an wurde das Zentralthema Jesu, die Herrschaft Gottes, das durch Jahrhunderte von der Himmelssehnsucht verdrängt worden war, wieder theologisch relevant. Allerdings blieb der Traktat „De novissimis“ (über die letzten Dinge) in der katholischen neuscholastischen Eschatologie bis in die 2. Hälfte des 20. Jahrhundert eine jenseitsorientierte Sammlung einzelner Lehrstücke, bei der Bibeltexte als Informationsmaterial benützt wurden.

Erneuerung der Eschatologie

Entscheidende Veränderungen der katholischen Eschatologie sind Hans Urs von Balthasar († 1988) und Karl Rahner († 1984) zu verdanken. Bei den Bibeltexten unterschied von Balthasar zwei nicht miteinander vereinbare Aussagereihen, die mit Drohungen einer ewigen Verwerfung arbeitende und die Hoffnung stiftende. Dementsprechend teilte sich für ihn die Eschatologie in eine solche der Hoffenden (mit Origenes als großem Impulsgeber) un. in eine solche der Wissenden (angeführt von Augustinus). In seiner Geschichtstheologie kam von Balthasar, christologisch u. soteriologisch begründet, einer Apokatastasis sehr nahe. Die Redeweise von den „letzten Dingen“ wollte er verändert sehen in das Bedenken der „letzten Begegnungen“, nämlich mit dem erbarmungsvoll richtenden, läuternden und rettenden Gott. Rahner verwies auf die Notwendigkeit einer Hermeneutik biblisch-eschatologischer Aussagen, bei denen es sich nicht um vorausschauende Reportagen des noch ausständigen Kommenden handle, sondern um Ansagen der „je jetzt“ gegebenen Situation und der in ihnen liegenden, auf die Zukunft gerichteten Möglichkeiten. Die humanisierende Arbeit an der innerweltlichen Zukunft wird, im Zeichen der Einheit von Gottes- und Menschenliebe, als eigentlich religiöse Aufgabe verstanden, bei der in der fortschreitenden Befreiung (Emanzipation) von Menschen eine glaubend-hoffende Offenheit für das Ankommen einer anderen, der endgültigen, „absoluten“ Zukunft, die Gott selber ist, verwirklicht wird. Die Arbeit an der innerweltlichen Zukunft ist so unabdingbare Voraussetzung der Vollendung, führt diese von sich aus aber nicht herbei. Die Vollendung (das Eintreten der Menschen und des von ihnen Erwirkten in den Zustand der Endgültigkeit) bleibt unter dem „eschatologischen Vorbehalt“ Gottes.

Die neuere Politische Theologie stellt die Fragen, ob die Menschheitsgeschichte tatsächlich unter dem Vorzeichen eines evolutiven Fortschritts stehe oder ob die Menschheit nicht imstand sei, Gottes Absichten mit der Schöpfung zerstörerisch zu durchkreuzen. Jedes theologische Nachdenken über die Zukunft muss ihrer Meinung nach die Erinnerung an die Opfer der Geschichte und die Leidenden einbeziehen; die christliche Verantwortung für eine rettende Zukunft soll im Zeichen apokalyptischer Naherwartung unter Handlungsdruck gesetzt werden. In der evangelischen Theologie ist außer dem konstanten Nachwirken Schleiermachers ein Neuansatz der Eschatologie bei Karl Barth († 1968) zu registrieren, in dem allein die Begegnung des Menschen mit dem „ganz anderen“, transzendenten Gott von Bedeutung ist und die biblischen Ansagen sowohl zum Reich Gottes als auch zum Weltuntergang nur noch zum Protest gegen den Kulturprotestantismus taugen. Rudolf Bultmann († 1976) war derjenige, der die „präsentische“ johanneische Eschatologie wieder zur Geltung brachte und die zeitliche Zukunft für unerheblich erachtete. Jeden Augenblick könne das Kerygma den Sünder treffen, so dass er für ihn zum eschatologischen Augenblick werde, den es wahrzunehmen gelte.

Die evangelische Politische Theologie protestierte
gegen diese extrem individualisierende,
sich der Welt- und Zukunftsverantwortung verweigernde Sicht

Ungeachtet der Beobachtung, dass die Verheißungen des Alten Testaments durch Jesus Christus keineswegs völlig und universal „erfüllt“ sind, sondern jede teilhafte Erfüllung einen Verheißungsüberschuss zutage treten lässt, stellt sich ein Teil der evangelischen Eschatologie unter das Vorzeichen einer radikalen Christozentrik. Das führt zum Beispiel bei Wolfhart Pannenberg dazu, von einer Antizipation der verheißenen Zukunft in Jesus Christus zu sprechen und das Geschichtsgeschehen von da her verstehen zu wollen, ungeachtet dessen, dass ein vorweg ereignetes Ende ein Widerspruch in sich ist. – Das in vielfachen Bedeutungen auftretende Eigenschaftswort eschatologisch ist dann eindeutig, wenn es nicht für Voraussagen der Zukunft oder für apokalyptische Endzeit steht, sondern ein Verhältnis Gottes zu Schöpfung und Menschheit und die Offenbarung dieses Gottesverhältnisses als „endgültig“ und „unüberholbar“ charakterisiert.

Quelle: Herbert Vorgrimler: Neues Theologisches Wörterbuch, Neuausgabe 2008 (6. Aufl. des Gesamtwerkes), Verlag Herder

Bücher zum Thema

 

Feb. 2024 | In Arbeit | Kommentieren

Wie weit wird Wladimir Putin gehen? Diese Frage stellen sich Politiker und Experten überall in Europa. Denn noch kämpfen Russlands Truppen in der Ukraine, aber die Pläne des russischen Regimes könnten umfassender sein. Droht den baltischen Staaten – Mitgliedern der Nato – in der Zukunft Gefahr durch Russland? Die Bedrohung ist konkret und näher, als uns lieb sein kann: Diese Warnung spricht der ehemalige russischer Diplomat Boris Bondarew aus, der aus Protest gegen die Invasion der Ukraine 2022 den Staatsdienst verlassen hat.

Gerade hat Bondarew sein Buch „Im Ministerium der Lügen. Ein russischer Diplomat über Moskaus Machtspiele, seinen Bruch mit dem Putin-Regime und die Zukunft Russlands“ veröffentlicht. Wie der Exilant die Gefahrenlage einschätzt, was die westlichen Staaten zur Abschreckung Russland tun können und welches Ende Putin am meisten fürchtet, erklärt Bondarew im Gespräch mit unserer Redaktion:

Herr Bondarew, Sie haben sich 2022 öffentlich von Putins Regime losgesagt und den russischen Staatsdienst quittiert. Haben Sie Angst vor Putins Rache?

Boris Bondarew: Niemand kann sich mehr sicher fühlen, dafür hat Putin gesorgt. Die Gefahr wächst rasant und dramatisch, Europa muss dringend seine Sicherheit verstärken, bevor es zu spät ist. Um mich selbst mache ich mir keine großen Sorgen. Es gibt prominentere Leute, die dem Kreml ein Dorn im Auge sind.

Als Sie 2002 Ihre Tätigkeit im russischen Staatsdienst aufgenommen haben, betrachteten die westlichen Staaten Russland noch als Partner. Wie haben sich Putin und sein Regime im Laufe der Zeit verändert?

Das Regime hat sich gar nicht stark verändert. Mittlerweile zeigt Putin aber sein wahres Gesicht. Die ganze Welt kann nun sehen, wie Russlands Führung wirklich ist und was sie erreichen will.

Was will Putin denn – neben der ganzen Ukraine auch das Baltikum oder gar die Zerstörung der westlich geprägten liberalen Weltordnung?

Putin hat ein einfaches Ziel: Er will bis ans Ende seiner Tage an der Macht bleiben und im Überfluss leben. Nicht mehr und nicht weniger. Ganz sicher will er nicht vorzeitig im Grab enden oder seine letzten Jahre im Bunker fristen. Putin wird im Westen oft überschätzt, er ist weder Revolutionär noch Fanatiker und erst recht kein Visionär. Nein, der heutige Herrscher im Kreml ist im Prinzip nichts weiter als ein sowjetischer Beamter, der es bis an die Spitze des russischen Staates gebracht hat.

Zur Person

Boris Bondarew, 1980 in Moskau geboren, arbeitete zwei Jahrzehnte für das Außenministerium der Russischen Föderation. Der Diplomat war an den russischen Botschaften in Kambodscha und der Mongolei tätig, zuletzt war Bondarew als Gesandter beim Büro der Vereinten in Nationen in Genf. Am 23. Mai 2022 erklärte Bondarew seinen Rücktritt – aus Protest gegen den russischen Angriff auf die Ukraine. Jetzt lebt er in der Schweiz im Exil.

Aber Kriege sind riskant, man kann sie verlieren. Setzen Putin und seine Gefolgsleute mit der Aggression gegen die Ukraine nicht alles Erreichte aufs Spiel?

Zum Teil schon, aber um Putins Handlungen zu verstehen, müssen wir seine Gedankenwelt verstehen. Er hält die Europäer für zu bequem, um für ihre eigenen Ideale einzustehen. Der Westen spricht ständig über ukrainische Grenzen und den Rückzug der russischen Truppen. Worüber der Westen aber nichts sagt, ist, wie die ukrainische Sicherheit langfristig gewährleistet werden soll und was er mit der Quelle der Bedrohung – Putins Russland – zu tun gedenkt. Wie will er dieses Problem angehen? Das erfordert Antworten.

Selbst wenn Putin die westlichen Staaten als schwach und konfliktscheu betrachtet, erklärt das noch nicht seinen Entschluss zur Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022.

Damit kommen wir zur zweiten Ebene in Putins Denken: Er benutzt außenpolitische Krisen und Konflikte, um seine Machtposition abzusichern. 2011 kam es in Russland nach den Parlamentswahlen zu massiven Demonstrationen, es waren die größten während der gesamten Ära Putin …

… zu dieser Zeit war Putin Ministerpräsident, sein Komplize Dmitri Medwedew hatte das Präsidentenamt inne.

Richtig, Medwedew diente Putin als Platzhalter. Im März 2012 wurde dann erneut Putin in den Kreml gewählt. Weder bei den Wahlen zur Duma noch zum Präsidentenamt ging es ehrlich zu, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wuchs. Putin musste damals einen Volksaufstand fürchten. Also besetzte er im Jahr 2014 die ukrainische Krim und setzte voll auf Nationalismus. Das hat ihm sehr geholfen, er erlebte einen Popularitätsschub.

Warum wollte Putin dann 2022 noch mehr?

Das ist in der Logik seines Systems begründet. Ein paar Jahre nach der Krim-Besetzung sanken Putins Popularität und damit auch seine Legitimität erneut, sodass er ein anderes Instrument finden musste, um sie wieder zu steigern. Also beschloss er, das Krim-Szenario zu wiederholen. Aber dann in größerem Maßstab.

Sie meinen, mit der Invasion der Ukraine vor zwei Jahren wollte Putin einfach erneut dem innenpolitischen Druck ausweichen?

Warum sollte 2022 nicht wieder funktionieren, was schon 2014 reibungslos funktioniert hatte? Die Krim war damals schnell und ohne Blutvergießen eingenommen worden, der Westen verzichtete auf eine angemessene Reaktion. Allerdings war Putin zu verblendet, um einen entscheidenden Unterschied zu erkennen: Die Ukraine von 2022 war nicht mehr die Ukraine von 2014. Sie war nun aufgerüstet und kampferprobt. Dabei hat sie möglicherweise auch von der Corona-Pandemie profitiert.

Wieso das?

Covid-19 war etwas Unvorhersehbares und brachte auch in Russland alles zum Stillstand. Vielleicht hätte das Regime die Ukraine ohne die Pandemie schon früher angegriffen. So musste es warten, und die Ukrainer bekamen mehr Zeit. Aber dass Putin wieder zündeln würde, stand fest. Putin klammert sich um jeden Preis an die Macht, er nimmt auf nichts und niemanden Rücksicht und wird niemals freiwillig gehen. Die beabsichtigte Eroberung Kiews wäre die erwünschte Ablenkung gewesen, um die Macht seines Regimes weiterhin zu sichern.

Nun ist Russland weit von einer Unterwerfung der Ukraine entfernt, stattdessen verschleißt es Menschen und Material an der Front. Noch mal die Frage: Was will Putin jetzt noch erreichen?

Wenn man einen solchen Prozess startet, verliert man zwangsläufig die Kontrolle. Zumindest in einem gewissen Ausmaß. Putin kann nicht alles kontrollieren, er kann die Zeit nicht zurückdrehen. Nun macht das Regime eben das Beste aus der Situation: Putin will möglichst viel Territorium von der Ukraine einnehmen und sich als großer Eroberer präsentieren, der die „russischen“ Länder wieder „vereinigt“. Nebenbei kann er den Westen als egoistisch und prinzipienlos vorführen, besonders die USA will Putin demütigen.

Zeigt sich Putin an diesem Punkt als eine Art „Sowjetmensch“, der die Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg nicht verwunden hat?

Ja, schon. Die Amerikaner haben ihren Platz an der Spitze der globalen Ordnung nicht verdient – davon ist Putin überzeugt. Weder seien die USA so stark noch so zuverlässig, wie sie selbst behaupten. Putin duldet keinerlei Einmischung oder gar Bevormundung, die ihn in seinen Handlungsmöglichkeiten einschränkt.

Wie etwa das geltende Völkerrecht?

Das Völkerrecht ist Putin völlig egal. Er wird jeden Vertrag, jedes Abkommen, jede Zusage genau in dem Moment brechen, in dem es ihm nützlich erscheint. Er ist ein Lügner, dem man keine Sekunde lang glauben darf. Wer das nicht versteht, lebt gefährlich.

Haben Sie deshalb dem russischen Staatsdienst den Rücken gekehrt?

Der Krieg ist sowohl ein Verbrechen gegen die Ukraine als auch gegen die Menschen in Russland. 20 Jahre lang habe ich für das russische Außenministerium gearbeitet, die Zahl der Lügen und das Ausmaß der Unprofessionalität hat in diesem Zeitraum unfassbar zugenommen. Ich wollte das nicht mehr mitmachen, ich habe es nicht mehr ertragen. Mit Putin kann man keinen langfristigen Frieden schließen.

Jetzt mehren sich aber auch im Westen die Stimmen, die auf Verhandlungen mit dem Kreml drängen, um den Krieg zu beenden.

Diese Leute haben den zentralen Punkt nicht verstanden oder sie wollen ihn nicht verstehen: Man kann mit Putin nicht verhandeln. Aus dem einfachen Grund, weil man ihm nicht vertrauen kann. Niemals. Wir können diesen Krieg auch nicht einfach aussitzen, denn Putin hat ihn mit Bedacht entfacht. Er ist auch ein Kampf der Ideologien, so etwas lässt sich nicht durch Beschwichtigung beilegen. 1938 machten die Westmächte Adolf Hitler im Münchner Abkommen große Zugeständnisse. Hat das Hitler etwa friedfertiger gemacht? Putin ist nicht Hitler, aber in diesem Punkt verhält er sich genauso: Entgegenkommen betrachtet er als Schwäche und nutzt sie gnadenlos aus. Friedensangebote würden ihn nur noch gieriger machen. Er würde zwar taktisch verhandeln, aber dann auf die nächste Gelegenheit zum Losschlagen lauern.

Wie weit will Putin seinen Herrschaftsbereich ausdehnen?

Putin denkt in den geografischen Dimensionen des untergegangenen sowjetischen Imperiums. Er will bestimmen, wie die Menschen leben: in Russland und Belarus, aber auch in der Ukraine, Kasachstan oder dem Baltikum.

Die drei baltischen Staaten sind Mitglieder der Nato. Würde Putin die direkte Konfrontation mit dem Verteidigungsbündnis suchen?

Ein Angriff auf die Nato ist Putin absolut zuzutrauen. Mit jeder schwachen Reaktion des Westens angesichts einer russischen Provokation wird dieses Szenario wahrscheinlicher. Der Krieg mit der Nato steht heute noch nicht auf der Tagesordnung, könnte aber schon bald zur Tagesordnung von morgen werden. Im Idealfall möchte Putin seine Herrschaft über alle Länder des alten Warschauer Pakts ausdehnen. So ist zumindest das Ultimatum zu verstehen, das der Kreml am 15. Dezember 2021 vor dem Angriff auf die Ukraine stellte.

Die DDR gehörte ebenfalls dem Warschauer Pakt an. Müssen wir Deutsche uns Sorgen machen?

Vielleicht würde Putin Deutschland verschonen, wer weiß? Aber niemand in Deutschland sollte die Gefahr unterschätzen. An der Nato-Grenze ist Putins Regime eine ständige Bedrohung.

Wie können die westlichen Staaten Russland effektiv abschrecken?
Putins Krieg gegen die Ukraine ist der beste Beweis,
wie wenig er den Westen ernst nimmt
.

Der Westen muss sich endlich dazu aufraffen, seine eigenen Werte zu verteidigen. Blut und Mühsal, Tränen und Schweiß – das braucht es, wie Winston Churchill im Zweiten Weltkrieg gesagt hat. Auch Deutschland wird es eine Menge kosten, wenn es die Herausforderung ernst nimmt.Wladimir Putin:

BILD: Russlands Machthaber will das Imperium in alter Größe sehen. (Quelle: Mikhail Metzel/POOL/TASS/dpa)

Im Augenblick kostet der Krieg Russland zahlreiche Soldatenleben,
ohne dass größere Erfolge zu verbuchen sind.
Wie lange sind die Russen bereit zu leiden?

Die Russen können sehr lange leiden, diese Fähigkeit haben sie in ihrer Geschichte viel zu oft beweisen müssen. Wer einen Großteil seines Tages und seiner Ressourcen für die Sicherung seiner eigenen Existenz aufwenden muss, kann nicht allzu viel Zeit für das Nachdenken über die Politik aufwenden. Der durchschnittliche russische Bürger interessiert sich nur für sein eigenes Leben: Auch das ist eine Lektion, die meine Landsleute aus historischer Erfahrung verinnerlicht haben. Putin ist diese Haltung nicht nur recht, er fördert sie.

Was würde – aus welchem Grund auch immer –
passieren, wenn Putin ausfiele, ?

Niemand kann Putin einfach ersetzen, er bekleidet eine einzigartige Funktion an der Spitze des russischen Staates. Sein Abgang würde eine gewaltige Lücke hinterlassen, denn es gibt zahlreiche Clans und Gruppen, die miteinander streiten. Putin hält sie alle im Zaum, aber ein Nachfolger müsste sich diese Stellung erst hart erarbeiten. Immerhin ist Putin mittlerweile fast 25 Jahre an der Macht.

Für wie stabil halten Sie Putins Herrschaft nach zwei Jahren Krieg noch?

Putins Regime wankt nicht. Es besteht aus Gangstern, ist durch und durch korrupt und nicht sonderlich effektiv, aber es ist stabil. Weil es an den entscheidenden Stellen eben doch überaus effizient agiert: Die gesamte Struktur ist strikt hierarchisch von oben nach unten angelegt, sodass Befehle die gesamte Kette durchlaufen – ohne von irgendwelchen Diskussionen oder anderen Meinungen gebremst zu werden. Putins Russland ist ein Führerstaat.

Glauben Putin und seine Entourage wirklich daran, dass der Westen Russland „einkreisen“ und „schwach halten“ will?

Niemand weiß, was Putin wirklich denkt. Aber die Anzeichen sprechen tatsächlich dafür, dass er seine eigene Propaganda für bare Münze nimmt. Denn Putin glaubt an die Überlegenheit Russlands und die Böswilligkeit der USA. Nehmen wir die Orangefarbene Revolution 2004 in der Ukraine: Putin hielt sie für eine Verschwörung des Westens gegen Russland. In seiner Welt ist es nicht vorstellbar, dass politischer Protest aus sich selbst heraus entsteht. Ich persönlich denke, dass vor allem das Jahr 2011 und die damaligen Ereignisse in Libyen wichtig sind, um Putins Politik zu verstehen.

Wladimir Putin mit Muammar al-Gaddafi: Russlands Präsident will nicht enden wie der libysche Diktator.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin mit Muammar al-Gaddafi: Russlands Präsident will nicht enden wie der libysche Diktator. (Quelle: ITAR-TASS/imago-images-bilder)

Im „Arabischen Frühling“ stürzten Aufständische damals den libyschen Langzeitdiktator Muammar al-Gaddafi, unterstützt durch westliche Luftangriffe.

Gaddafis elender Tod in einem Straßengraben hat Putin schwer beeindruckt, ein solches Ende ist sein größter Albtraum. Auf keinen Fall soll sich Vergleichbares in Russland wiederholen; eher würde er alles anzünden.

Würde er im Notfall also auch zur Atombombe greifen? Der Kreml droht dem Westen immer wieder mit Nuklearschlägen.

Putins atomare Drohungen sind furchtbar, aber sie haben sich bislang als leer erwiesen. Er spielt mit dem Schrecken. So hält er die Nato-Staaten von einem direkteren Engagement in der Ukraine ab und bremst das Tempo der Waffenlieferungen. Im Ernstfall ist Putin aber alles zuzutrauen – auch wenn befreundete Staaten wie Indien und China einen Nuklearwaffeneinsatz zutiefst missbilligen würden. Im Augenblick wartet der Kreml aber sicherlich erst einmal den Ausgang der Präsidentschaftswahl in den USA ab.

Ist Ihre Heimat Russland endgültig für die Demokratie verloren – oder hegen Sie noch Hoffnung?

Ich bin zuversichtlich. In den Neunzigerjahren waren die Russen gewissermaßen nicht von dieser Welt: Was wussten Menschen, die in der Sowjetunion aufgewachsen waren, von Demokratie, Zivilgesellschaft und Rechtsstaat? So gut wie nichts. Heute hingegen gibt es viele junge Russinnen und Russen, die im Ausland waren und etwas von der Welt gesehen haben. Sobald der Krieg vorbei ist, wird sich hoffentlich etwas ändern.

Und Sie selbst, werden Sie irgendwann in Ihre Heimat zurückkehren können?

Ich liebe mein Land und seine Menschen. Eines Tages werde ich dorthin zurückkehren.

Feb. 2024 | In Arbeit | Kommentieren

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