Buchcover:
Buchcover: „NEGERKÜSSE IN ZIGEUNERSOSSE“ (Bild: andrebuchverlag.de)

In seiner aktuellen Streitschrift „NEGERKÜSSE IN ZIGEUNERSOSSE“ äußert der Leipziger Autor und Liedermacher Dieter Kalka seine Skepsis und Unmut gegenüber neuen Sprachregelungen und vom Duden http://duden.de empfohlenen und zugelassenen Rechtschreib- und Sprechweisen. Am 27. Dezember erscheint die zweite Auflage des 72-seitigen Essays im AndreBuchVerlag http://bit.ly/3mpKFtP .

Kritik an Gender-Spezifizierung

Kalka kritisiert in zugespitzter Form unter anderem neuartige Gender-Spezifizierungen, die in der Sprache verwendet werden können. In der von ihm als Beispiel angeführten Variante „Kastrat_innen“ (mit Wortpause artikuliert) etwa sieht er eine „Kastration des Männlichen (…) indem man den generativen Maskulinum abschafft und mit dem Femininum ersetzt“.

Mit seinem Pamphlet sticht der Autor in eine aktuelle Debatte. Sprachliches Gendern wird kontrovers diskutiert. Die Duden-Redaktion sah sich in den vergangenen Monaten häufig der Kritik ausgesetzt, das sogenannte generische Maskulin abzuschaffen. Diese bezog sich etwa auf Erweiterungen bei Berufsbezeichnungen, wo es jetzt zum Beispiel heißt: „Arzt, der – männliche Person; Ärztin, die – weibliche Person“.

Neue Sprachregeln als Verbote

Für Dieter Kalka sind die von ihm angeprangerten Rechtschreibreformen nicht nur eine Verunstaltung seiner Muttersprache, sondern sieht er darin auch eine Einschränkung individuellen sprachlichen Ausdrucks und befürchtet, dass humanistische Werte verloren gehen. Zitat: „Gedanken müssen sich inzwischen andere Wege suchen und bei der Masse an Verbotsschildern, welche die Genderstapo an den Satzrändern aufgestellt hat, ist man immer mehr am Überlegen, was man sagen darf, als was man sagen will. Individualität abgeschafft? Das Instrument: Genderei und ‚anrüchiges‘ Vokabular. Damit gehen zwangsweise humanistische Werte verloren. Wir sind gerade mittendrin in diesen Prozessen, die von selbsternannten Kontrolleuren gesteuert werden – und die GEZ-Medien als fünfte Macht (und gut von der umzuerziehenden Mehrheit bezahlt) sind unrühmlich in der ersten Reihe.“

Dieter Kalka: Negerküsse und Zigeunersosse
Eine Streitschrift.
Edition Beulenspiegel
AndreBuchVerlag Lengenfeld (Vogtland)
2021. 72 Seiten. Mit zwölf Bildern von Werner Bernreuter Preis: 11 Euro
ISBN 978-3-949142-04-5.
Erhältlich über den Verlag und im Buchhandel.

 

Dez. 2021 | In Arbeit | Kommentieren

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Dez. 2021 | In Arbeit | Kommentieren
Als im Jahr 1804 tief unter der Erde in den Katakomben von Paris eine Leiche gefunden wurde, waren die Schlüssel an ihrem Gürtel der einzige Hinweis auf ihre Identität. Sie wiesen den Toten als Philibert Aspairt aus, den Pförtner des Val-de-Grâce-Krankenhauses, der elf Jahre zuvor spurlos verschwunden war.

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Dez. 2021 | In Arbeit | Kommentieren

 

Floren verlieren weltweit an Einzigartigkeit

Selbst weit voneinander entfernte Regionen unseres Planeten werden sich in ihren Floren immer ähnlicher. Grund ist die Ausbreitung gebietsfremder Pflanzenarten, so das Ergebnis eines globalen Forschungsprojektes unter Leitung Konstanzer Biologen

Das Indische Springkraut (Impatiens glandulifera) entlang eines Waldrandes in Deutschland. © Mark van Kleunen

Wenn gebietsfremde Pflanzen sich in ein bestehendes Ökosystem integrieren und sich dort erfolgreich ausbreiten, kann dies in seltenen Fällen zur Einzigartigkeit der regionalen Flora beitragen. Deutlich häufiger führt dieser als „Naturalisierung“ bezeichnete Vorgang jedoch zu einer Vereinheitlichung regionaler Floren und damit weltweit betrachtet zu einem Nettoverlust an Einzigartigkeit. Insbesondere sogenannte Super-Invasoren sorgen durch ihre hocheffektive Verbreitung und die Verdrängung einheimischer Pflanzenarten dafür, dass sich selbst weit voneinander entfernte Regionen mit klarer geographischer Trennung immer ähnlicher werden. Zu diesen Ergebnissen kommt ein internationales Forschungsteam unter der Leitung Konstanzer Biologen in der Fachzeitschrift Nature Communications.

Untersuchung mithilfe globaler Datenbanken
In ihrer aktuellen Studie vergleichen die Forschenden anhand globaler Datenbanken erstmalig die Zusammensetzung 658 regionaler Floren aus nahezu allen Teilen der Welt. Zusätzlich untersuchen sie den Einfluss biogeographischer und anthropogener, also menschgemachter Faktoren auf die zunehmende Vereinheitlichung der regionalen Floren. Für die Bewertung der Einzigartigkeit einzelner Regionen berücksichtigen sie sowohl die Anzahl der Pflanzenarten, die sich eine Region mit anderen Regionen teilt oder nicht teilt, als auch den Verwandtschaftsgrad der Pflanzenarten zueinander. Sie schließen dadurch auch die regionalen Evolutionsgeschichten in ihre Untersuchung ein.

Eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung gebietsfremder Pflanzen und dem Verlust der Einzigartigkeit regionaler Floren spielen verschiedene biogeographische Faktoren. Hierzu gehören laut Studie die geographische Entfernung zwischen den betrachteten Regionen und deren „klimatische Distanz“ zueinander. „Je mehr sich zwei Regionen klimatisch ähneln, desto eher gelingt es einer Pflanze aus der einen Region, sich in der Anderen als naturalisierte Art zu etablieren, wenn geographische Hürden erst einmal überwunden wurden. Pflanzen aus einer Region mit kurzer klimatischer Distanz zum neuen Lebensraum sind sozusagen ‚klimatisch vorangepasst‘“, erklärt der Erstautor der Studie, Dr. Qiang Yang, den Effekt.

Politische Faktoren als zusätzliche Triebkraft
Doch auch menschgemachte Faktoren haben einen Einfluss auf die Verbreitung gebietsfremder Pflanzen und die Vereinheitlichung der weltweiten regionalen Floren. So beschreiben die Forschenden, dass die gemeinsame Verwaltungshistorie einiger betrachteter Gebiete ebenfalls eine Rolle spielt: Regionen, die heute oder in der Vergangenheit unter derselben politischen Verwaltung stehen oder standen, weisen höhere Grade der Vereinheitlichung in der Zusammensetzung ihrer Floren auf.

Aktuelle Beispiele bieten Regionen, die Teil desselben Staatsgebietes sind, wie verschiedene Regionen innerhalb der USA. Historische Beispiele sind dagegen die Europäischen Kolonialmächte und ihre ehemaligen Kolonien. „Zwischen Regionen desselben Staatsgebietes oder Regionen mit historischen kolonialen Verbindungen besteht oder bestand zumindest in der Vergangenheit ein reger Austausch sowohl in Form von Fracht- als auch Personenverkehr. Dadurch erhöht sich gewöhnlich auch der Austausch von Pflanzen über geographische Grenzen hinweg – sei es absichtlich, als Handelsware oder Nutzpflanze, oder unabsichtlich“, erläutert Qiang Yang.

Wirksamere Maßnahmen zur Biosicherheit erforderlich
In der Summe treiben gebietsfremde Pflanzen im Falle ihrer Naturalisierung die weltweite Vereinheitlichung regionaler Pflanzengemeinschaften voran und der Mensch trägt durch die Verbreitung dieser gebietsfremden Pflanzen einen deutlichen Teil dazu bei. „Diese Effekte zeigen sich heute selbst an den entlegensten Orten der Welt“, berichtet Prof. Dr. Mark van Kleunen, Professor für Ökologie am Fachbereich Biologie der Universität Konstanz und Letztautor des Fachartikels, und schließt: „Sofern es in Zukunft keine effektiveren Schutzmaßnahmen gegen die fortschreitende Ausbreitung und Naturalisierung gebietsfremder Pflanzen geben wird, werden diese die Einzigartigkeit unserer Lebensräume zunehmend zerstören – und die Welt so zu einem eintönigeren Ort machen.“

Faktenübersicht:

  • SPERRFRIST BIS MITTWOCH, 15. DEZEMBER 2021, 11:00 UHR MEZ (10:00 UHR LONDON TIME, 05:00 UHR U.S. EASTERN TIME)
  • Originalpublikation: Qiang Yang et al. (2021) „The global loss of floristic uniqueness“, Nature Communications; DOI: 10.1038/s41467-021-27603-y
  • Untersuchung der Einzigartigkeit regionaler Floren und deren weltweiter Veränderung durch biogeographische und anthropogene Faktoren anhand globaler Datenbanken
  • Die Naturalisierung gebietsfremder Pflanzen führt weltweit zu einem Nettoverlust der Einzigartigkeit regionaler Floren.
  • Neben biogeographischen Faktoren, wie der räumlichen oder klimatischen Distanz, spielen dabei auch anthropogene Faktoren, wie administrative Beziehungen zwischen den untersuchten Regionen, eine Rolle.
  • Förderung: Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Czech Science Foundation (GACR) und Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik (AV ČR), Österreichischer Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), Stiftung zur Forschungsförderung São Paulo (FAPESP) und Nationaler Fonds für wissenschaftliche und technologische Entwicklung Chile (FONDECYT)

Hinweis an die Redaktionen:
Fotos können im Folgenden heruntergeladen werden:

https://cms.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2021/floren_echinocystis.jpg
Bildunterschrift: Die nordamerikanische Stachelgurke (Echinocystis lobata) in der russischen Republik Altai.
Foto: Elena Zykova

https://cms.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2021/floren_fallopia.jpg
Bildunterschrift: Der Japanische Staudenknöterich (Fallopia japonica) entlang eines Flusses in Österreich.
Foto: Franz Essl

https://cms.uni-konstanz.de/fileadmin/pi/fileserver/2021/floren_impatiens.jpg
Bildunterschrift: Das Indische Springkraut (Impatiens glandulifera) entlang eines Waldrandes in Deutschland. Foto: Mark van Kleunen

Dez. 2021 | In Arbeit | Kommentieren
Pressefreiheit : Regenbogen-Arena als Zeichen an Orbán? So beeinträchtigt Ungarns Anti-Homosexuellen-Politik die Medien
© picture alliance / augenklick

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Dez. 2021 | In Arbeit | Kommentieren

Über das Leben in Tibet weiß man in Europa erstaunlich wenig. Ausländische Journalisten haben so gut wie keinen Zugang. Umso bemerkenswerter ist das Buch der amerikanischen Journalistin Barbara Demick über den Alltag und die moderne Geschichte Tibets.

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Dez. 2021 | In Arbeit | Kommentieren

 

 

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Dez. 2021 | In Arbeit | Kommentieren

Alle Jahre wieder kommt nicht nur das aus der unbefleckten Maria entsprungene Jesulein aus dem Stall in unsere Wohnzimmer. Im weiteren Verlauf geben  (in allen Dritten Glotzenprogrammen)  uns die Ehre: Miss Sophie und James. Sylvester allemal lieber ohne anderes Knallzeug, denn ohne diese Beiden …Wie immer wird James sie mit der vollendeten Höflichkeit eines in ihren Diensten alt gewordenen Butlers zu Tische geleiten.Wie immmer wird Miss Sophie ihre abwesenden, aber von James galant vertretenen alten Freunde – Sir Toby, Admiral von Schneider, Mr. Pommeroy und vor allem ihren «sehr lieben» Mr. Winterbottom – zu ihrer Tafelrunde begrüssen.

James serviert und leert stellvertretend für das Quartett die Gläser:

Dazu gibts ein kleines Büchlen. In meiner Klothek leider nicht mehr

Und wie in den vergangenen Jahren wird er Mal für Mal über den ausgestopften Tigerkopf stolpern.

Wie im letzten Jahr wird James Miss Sophie immer wieder fragen, im Ganzen nicht weniger als fünfmal, ob «die Prozedur» die gleiche sein solle «wie im letzten Jahr» the same procedure as last year». – Wie im letzten Jahr wird Miss Sophie ihn korrigieren, dass «die Prozedur» die gleiche sein solle «wie jedes Jahr» («as every year») – einschliesslich ihres von James begleiteten Ganges zu Bett. Und wie jedes Jahr werden wir Fernsehzuschauer Miss Sophie alias May Warden und vor allem James alias Freddy Frinton dabei zusehen, wie es ist, wenn «die Prozedur» wie «jedes Jahr» ist.

Nonsens vom Feinsten in der Rundschau Kritik

Wie alle bedeutenden Stücke Drama, ist auch “Dinner For One”  an Facetten ungemein reich. Allein die Vielzahl unterschiedlicher Interpretationen zeigt, wie in jedem Betrachter eine Saite zum Schwingen, eine andere zum Schweigen gebracht wird.

Auf diesem 90. Geburtstag der Miss Sophie gibt es nichts Letzthinniges und nichts Ein-für-Allemaliges, und wenn die überwiegende Mehrzahl der Kunstsachverständigen, Essayisten und Liebhaber, die Interesse an einer Kategorisierung des Gesamtstückes oder an einer Analyse einzelner Komponenten haben, für ihre Varianten jeweils Alleinvertretungsansprüche geltend machen, dann ist das erschütternd-bedauerlich.

„Well – I´ll do my very best!“

"Well - I´ll do my very best!"

„Well – I´ll do my very best!“

Wiewohl wir nun im folgenden durchaus mit dem Butler (Freddie Frinton gibt ihn unnachahmlich) mitzuhalten versuchen und unsere Interpretationsansätze durchaus auch von gutem Wein begleiten lassen, wollen wir dem Betrachter weder dies mitzutun, noch ein bestimmtes Verständnis vorschreiben.

Wenn wir dabei auf einen wissenschaftlichen Anmerkungsapparat verzichten, tun wir das für diesmal der besseren Lesbarkeit wegen ebenso nicht, wie Verzicht zu üben auf die Darstellung einiger eher abseitiger Lesarten, die nur für Experten von Interesse wären. Lediglich sei hier die Polemik einiger selbsternannter Gourmets erwähnt, welche die Zusammenstellung des Menus kritisieren, vornehmlich die Kombination von Huhn und Champagner.  Ein Stück, das solche gastrosophischen Verbrechen auf die Bühne bringe, könne nichts wert sein? Diese Kritiker haben offenbar ihre Identitätsbildung so entschieden hochgezüchtet, daß sie – pardon – offenbar schon wieder auf den guten,  albernen Pawlowschen Hund gekommen zu sein scheinen.

Lehrstick oder Slapstück?

Weder noch, hier lassen sich zwei Richtungen fühlen: ein Lehrstück fast im Sinne Brechts, das, um die – oder irgendeine – Situation, Problematik oder Lösung herauszuarbeiten, die Mittel der Farce einsetzt: von Elementen des Slapstücks (Butler James trinkt Blumenwasser), bis hin zu jener Distanzierung des Schauspielers von der Rolle, die sich so fassen lässt, dass er im Verlauf deutlich sichtbar in die Rollen der vier abwesenden Personen schlüpft. Aus gestalttherapeutischer Sicht heraus betrachtet, bietet dieser 90. Geburtstag eine in sich geschlossene Realität.

Hier wird reine Form Inhalt, die Funktion der Darstellung ist hier einzig die Darstellung. Jede Frage nach einem überschreitenden Sinn würde in diesem Sinn selbst zu einer Farce.

Lachen an und für sich

Das zweifelsohne von allen Zuschauern ausgeübte Lachen mag als zeitgeistig coole Distanznahme im Sinne jener Studie über das Lachen verstanden werden, die zum Ergebnis kommt, das Lachen habe keinen größeren Feind als die Emotion. Hiernach wäre unser Lachen also nichts anderes als ein Aus-sich- und Aus-jenem-Herausgehen, das zu etwas sowohl führen will wie auch soll: zur Selbsterkenntnis oder zur Einsicht in die Dekadenz der alternden Oberschicht oder zu dem, was Eugène Ionesco dem Humor zumißt: “sich der Absurdität bewußt werden und doch in der Absurdität weiterleben”.

Auch,  dass dies Stück nicht mehr mit einer Differenz zwischen Sein und Sollen arbeitet – wohingegen ein ungenannt bleiben wollender Heidelberger Philosoph offenbar japanischer Abstammung in seiner unter dem Pseudonym “Tenno” veröffentlichten Arbeit über diesen 90. Geburtstag die Frage nach “Sein oder Haben?” vermißt, mithin ein Ideal weder propagiere noch fordere, darf wohl so verstanden werden, dass hier Lachen nur als Parodie auf das eigene Selbst gemeint sein könne – als sozusagen erkanntermaßen ritualisierter Effekt.

Arrangement mit den Herrschenden

Wir haben hier ein zutiefst klassenkämpferisches Portrait einer untergehenden Welt, einer ländlich-städtischen Mittelschicht nebst militärischem und couponschneidendem Anhang, die sich in ihrer Zukunftslosigkeit allenfalls noch an sinnentleerten Festen, am Alkohol und am Traumgebilde  einer längst vergangenen Vergangenheit festhalten kann. Dazu eine nicht minder dekadente Schicht dienender Berufe: der Butler James, entwürdigt von seiner Herrin bis hin zum “Letzten” – eine anglifizierte Variante des Woyzeck also -, der in all seiner Demütigung doch nur das Arrangement mit den Herrschenden sucht, ja nur noch suchen kann, und seinen Stolz unlöslich an die Rationalität des herrschaftlichen Wohlergehens in Börse, Tisch und Bett bindet.

Seele baumelt? Analyse?

Derweil bei etwa Goethe man sich über verschiedene analytische und psychiatrische Interpretationsweisen ja noch streiten könnte, ließe dies Dinner, solcherweise betrachtet, doch ausschließlich das klinische Lesen, Hören und Sehen insofern zu, als Madame vorgeführt werden in frei flottierender Angst mit hypochondrischen Neigungen. Es agieren hier Mischzustände von Wut, Ohnmacht und Hilflosigkeit, Angst vor Liebe ebenso, wie rasches Schwanken zwischen Idealisierung und Entwertung von Objekten. Und, wo die bedauernswerte Frau ihre Scheinwelt am Tisch nicht erkennt, verdrängt sie – was ja schlimmer ist als beinahe alles Andere.
Und Butler James, der Spiegeltrinker, der sein überhöhtes Alkoholquantum gleichsam gleichmäßig über den Abend verteilt und weitgehend ohne größere Kontrollverluste zu sich nimmt? Ein Deltatyp, der zwangweise wie zwanghaft zugleich in die Situation des Gammatyps versetzt wird, in den Alkoholexzeß. Hier erleben wir einen Menschen, der unmittelbar an der Flasche am Vollbringen eines Selbstopfers zur Befriedigung kommt: an der Überwindung nämlich des Bedürfnisses nach Versagen im oralen Bereich. Eine gefährliche Methode im Gegensatz zu der meist gelebten Form klassischen Asketentums, innerhalb welcher Lust nicht aus der Versagung körperlicher als vielmehr aus der Opferung geistig-seelischer Bedürfnisse gewonnen wird.
Auf also der Grenze zwischen Lehrstück und abgeschlossener Realität gelangen wir hier mit den Protagonisten  in die Rolle von vier vermutlich gestorbenen Personen, die erfolgreich ausgefüllt werden, um deren Welt zur Unsterblichkeit zu versteinern. Schauriger kann die apriorische Trostlosigkeit menschlicher Grundbefindlichkeit kaum deutlich gemacht werden: Kein Weg führt zum Du, keiner zu Sinn und Eigentlichkeit, es bleibt die Einzementierung ständigen Zerfließens in ein dennoch abgeschlossenes Ich in einer isolierenden Vorstellung von Welt, ein sich Überliefern an eine geronnene Aufenthaltslosigkeit.

Des  Essens philosophischer Aspekt

Betrachten wir den Text populärwissenschaftlich, so finden wir hier einen geprüften Willen zu gesellschaftlichem Sein des dem alles überhaupt keine Grenzen Setzenden. Und: Nehmen wir eine Bemerkung Ernst Blochs (Band 3, “Prinzip Hoffnung”) über die geglaubte Mechanik im Universum, die sich für ihn, gleichwohl ohne Spaß, wie auch ohne Pantheismus, aber dennoch befriedigend vollzieht, sind wir eher geneigt, in der “miss-sophischen Verstetigung“ ihrer Freunde einen so freilich nur in der Aristokratie, nicht aber dem bürgerlich geeinzelten Individuum möglichen objektiv-utopischen Vorgriff auf jene von Bloch bezeichnete So-Welt,  als Verschwinden sozusagen des Nichts im sozialistischen Bewußtsein zu sehen.
Dem unüberschreitbaren Zwiespalt durch den  selbstaktiven und eigenkontrollierten Schritt über den Tigerkopf in eine systematische Besessenheit werden wir eine künftige Arbeit widmen.

Emanzipatorische …

Das Verhalten Miss Sophies ist als selbstbewußt-folgerichtiger Schritt zu einer  –  zwar – in die Jahre gekommenen, zum Selbstbewußtsein erwachten Frau zu verstehen, die Stellung bezieht gegen die Verderbnis und das Reguläre, gegen das Leben sowohl wie auch gegen den Tod, gegen den zu-fälligen (oder haben wir den Butler je fallen gesehen?) Verlauf, all der Drohungen, die einsickernde Perfidie gegen den langsamen Fraß innen und gegen das Verschlungenwerden von draußen. Eine Frau, die alle Enttäuschungsmöglichkeiten hinter sich läßt und auf das klägliche Bild verzichtet, das jene Bindung der Seelenphantasie an die empirische Mannes- oder überhaupt Menschenform, wie sie ja in der sogenannten Wirklichkeit vorkommt, bietet. Nur mehr einer mageren Kulisse bedürftig, die ihr Butler James mit seinen vier Rollen baut, erweist Miss Sophie sich erfolgreich in dem Versuch, einen nichtreligiösen Weg der Liebe zu einem Objekt herzustellen, dem sie sich ohne Beschädigung ihres Ichs, ja gleichsam in Verwirklichung ihrer Autonomie, ganz hingeben kann und – selbst aus strengst feministischer Sicht, der wir uns ausdrücklich nicht anschließen – wohl auch möchte dürfen können!

… und komödiantische Aspekte

weg-da-du-da …

weg-da-du-da …

Gegebenen Anlasses wegen sei hier direkt im Anschluß die Verwandtschaft des “Dinner For One” mit der Commedia dell’arte behandelt. Wir sehen hier einen Entstehungszusammenhang, ja eine – allenfalls durch Konzessionen an britische Mentalität abgemilderte – große Übereinstimmung. Wenngleich das Spiel als Spiel nicht durch Masken kenntlich gemacht wird, liegt hier dennoch fast ein (hassenswert wie all solches) Plagiat vor, jedenfalls ist die Rollenverteilung eindeutig: Butler James sei Brighella, Sir Toby Pulcinella, Admiral von Schneider der Capitano, Mr. Pommeroy Tartaglia, Mr. Winterbottom der Dottore, Miss Sophie hingegen – Frau natürlich – hat einen superben Hauch von Originalität.

Das Dinner als Gesamtkunstwerk

Was nun aber das Gesamtkunstwerk angeht, meinen wir, dass – vom Autor zwar wahrscheinlich ungewollt, aber eben darum ganz besonders ernst zu nehmen – dieser Text in seiner zumal technischen Reproduzierbarkeit, vergleichbar mit Anton Bruckners Generalpause zu interpretieren sein dürfte.
Dies freilich erkennen zu können, setzt voraus jenes Stocken, das uns schwindelnd tragen soll über das Gewohnte hinweg; jener Rhythmus eines uns ureigenen Pulsierens, der nur in einer von allen Zufälligkeiten gereinigten Stille hörbar ist; der vordergründige Lärm, der hier – einem Saunagang vergleichbar – nichts anderes als sein Gegenteil herausarbeiten soll; die Bedingung der Möglichkeit zum In-Sich-Gehen also!

Dies alles dürfen wir Zusehenden  am Silvesterabend  nicht vernichten durch vulgäres Lachen, käme dies auch noch so sardonisch oder gar (in memoriam Hans-Georg Gadamer) hermeneutisch verkleidet einher. Tenno Gottsch-Ling

 

Dez 2014 | Allgemein, Feuilleton, InfoTicker aktuell, Junge Rundschau, Zeitgeschehen | 1 Kommentar | (Bearbeiten)

1 Kommentar vorhanden zu “Ritual, Philosophie? Sowohl als auch? „Dinner for one“ – „the same procedure as last year …“”

  1. Mareike Kohler sagt:
    Lese hier immer seit Jahren, habe mich dennoch schon lange nicht mehr zu Wort gemeldet, weil i c h nämlich in der Regel zu faul bin, das zu tun. Jetzt aber breche ich mein langes Schweigen und möchte zu obigem Beitrag sagen dürfen, dass ich noch selten eine so köstliche nicht nur, sondern auch aussagekräftige (und durchaus ernst zu nehmende Verhonepipelung) Version von Kritikerdeutsch gelesen habe. Darüber habe ich mindestens so fröhlich gelacht, wie alle Jahre wieder über dies „Dinner for one“. Danke dafür.

    Mit allerbesten Grüßen und Wünschen für 2015

    Mareike Kohler

Dez. 2021 | In Arbeit | Kommentieren

Die noch immer als links-alternativ geltenden Lebensreformbewegungen und die neuen Querlinge („Querdenker“) haben mehr gemeinsam als gemeinhin bekannt. Das anfängliche Erstaunen in Politik und Medien, wer ab Frühjahr 2020 die Proteste gegen die Pan­de­mie­maß­nahmen organisiert hat, überrascht. Auf der Straße versammelten sich Anhänger des alternativen Spektrums und der rechten Szene. Ihre teilweise Herkunft aus der Mitte der Gesellschaft kann aber keine Überraschung sein.

Bereits in der ersten Lebensreformbewegung war die Tendenz zu weit rechten Positionen evident. Ihre Protagonisten teilten schon vor über 150 Jahren die Sehnsucht nach einem „ganzheitlichen Dasein“ in einer „organischen Ordnung“. Ihr romantisierender Blick zurück galt der vermeintlich natürlichen, harmonischen Vormoderne. Die gegenwärtige Kritik an den staatlichen Maßnahmen gegen die Pandemie geht erneut mit einer Ablehnung der Moderne einher.

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Nov. 2021 | In Arbeit | Kommentieren

Diskriminiert die deutsche Sprache Frauen und soziale Minderheiten? Um das Gendersternchen und andere neue Formen hat ein Kulturkampf begonnen. Behörden, Firmen und auch der Duden schaffen Fakten, obgleich es für den Wandel keine Mehrheit gibt.
Manche blicken nach Karlsruhe, wo das Bundesverfassungsgericht 2017 entschied, dass die Zweiteilung der Menschen in Frauen und Männer für manche diskriminierend sei. »Divers« heißt darum inzwischen die dritte Option im Geburtsregister und in Stellenanzeigen. Um dieser Gruppe auch sprachlich gerecht zu werden, verwenden mittlerweile nicht mehr nur Aktivist(*)innen besondere Schreibweisen wie dieses Gendersternchen.

Hin und wieder schlägt die Aufregung hohe Wellen. Als Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) im September einen Gesetzentwurf zum Insolvenzrecht vorlegte, drehte sich darin alles um die Schuldnerin, die Gläubigerin, die Richterin. Männliche Personenbezeichnungen kamen kaum vor. Nach Protesten gegen den »Genderwahnsinn« und einer Ablehnung im Kabinett kämmte Lambrecht ihren Entwurf auf die juristische Standardsprache zurück, die im generischen Maskulinum formuliert. Wo vom Richter die Rede ist, muss sich von jeher auch die Richterin gemeint fühlen.
Wie jede lebendige Sprache ist das Deutsche permanent im Fluss, neue Wörter und Redewendungen tauchen auf, nicht alles gefällt allen. Seit Langem stoßen sich Sprachpuristen an Anglizismen oder am Einsickern von Jugendwörtern ins Vokabular der Erwachsenen. Doch leidenschaftlich gestritten wird darüber kaum noch.
Ganz anders geht es zu, sobald gendergerechte Sprache verwendet und propagiert wird. Ausdrücke wie »Sprachterror« und »Genderunfug« fallen regelmäßig, wenn Kritiker wie Walter Krämer, der Vorsitzende des Vereins Deutsche Sprache, auf das Thema zu sprechen kommen. Wie kompromisslos Krämer bei dem Thema ist, zeigt eine automatische Antwort auf eine Mail, in der es ums Gendern geht: »Darf ich Sie bitten, mir Ihre Post nochmals in korrektem Deutsch zu schicken? Leider lässt mein Eingangsfilter keine Nachrichten mit Gender(*) durch.« Krämer drückt aus, was offenbar viele denken.
Die Auseinandersetzung um verbale Gerechtigkeit reicht nun einmal tiefer als die Frage, wie viele Anglizismen das Deutsche verträgt. Sie ist emotional aufgeladen, denn die Anerkennung verschiedener Lebensstile wird unterschwellig mitverhandelt. Dazu kommt die Empörungsbereitschaft derer, die fürchten, von einer selbst ernannten Sprachpolizei zu »politisch korrekter« Rede gezwungen zu werden.
Im Umfeld des Streits über die Genderformen wird erkennbar, wie sehr die Sprache zu einem kulturellen Kampfplatz geworden ist. Damit stehen wir hierrzulande nicht allein. Die gesteigerte Sensibilität, mit der vor allem Jüngere auf Benachteiligungen aller Art reagieren, schlägt sich rund um die Welt in heftigen Auseinandersetzungen über angemessene Sprachformen nieder. Dass viele dieser Debatten über Diskriminierung und Rassismus in den USA beginnen, ist nicht neu. Nur greifen sie im Zeitalter der sozialen Medien noch schneller als früher auf andere Länder über.
Begriffe werden zu Reizwörtern, Bezeichnungen für Personen und Gruppen funktionieren dabei wie ein Code. Diejenigen, die sich für die Codierung zuständig fühlen, kontrollieren zumeist genau, wer sich an ihre Regeln hält und wer nicht. Aus dem Sprachgebrauch schließen sie auf die Gesinnung – wie im Übrigen auch ihre Gegner und Gegnerinnen auf der konservativen bis reaktionären Seite.
Dort ist es Usus, die eigene abwehrende Haltung durch Regelverstöße kenntlich zu machen. Die verbalen Mittel reichen von provokanten Grobheiten zu gespielter Naivität mit Sprüchen wie: »Man wird doch noch (die Soße ist noch erlaubt) – und dann kommen die N und Z-Worte – sagen dürfen die ich ja hier jetzt ängstlich hin zu schreiben mich nicht mehr traue 
Wer keinem der Lager angehört und gutwillig hofft, Wörter könnten unschuldig sein, hat schon verloren.
Der Code ist ständig in Bewegung. Wie er funktioniert, erschließt sich nicht aus den Ausdrücken selbst, sondern nur aus den Schwingungen des Mitgedachten. Ein Beispiel ist der Begriff »People of Color« oder kurz PoC. Er ist die momentan favorisierte Bezeichnung für Menschen, die persönlich mit Rassismus konfrontiert sind; eine akzeptierte Übersetzung ins Deutsche gibt es nicht.
In vielen Redaktionen wird das Thema Gendern derzeit diskutiert, natürlich auch bei uns – ich jedenfalls habe mich mit mir darauf – Antoine M. zum Trotz – geeinigt, das in der RUNDSCHAU allenfalls hin und wieder – aber eher selten – zu berücksichtigen …

Wer, wie, was, warum: Soll denn nun also die deutsche Sprache als Symbol der Gleichberechtigung fungieren – oder leidet sie via Gendern an Sprachverhunzung?
Alsdann – im Interview lassen wir den Linguisten Henning Lobin über die historischen Wurzeln der Debatte zu Wort kommen –

er ist Direktor des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt Sprachpolitik. Er sitzt auch im Rat für deutsche Rechtschreibung, der den Sprachwandel beobachtet und staatlichen Stellen auf dieser Basis gegebenenfalls neue Regeln empfiehlt. Ein strittiger Punkt, der demnächst geklärt werden soll: Wie ist das Gendersternchen zu bewerten?
?: Herr Lobin, wem gehört die deutsche Sprache?
Lobin: Uns allen gemeinsam. Allen, die sie sprechen und schreiben. Allen, die sie noch lernen oder schon gelernt haben.
?: Und wer darf entscheiden, was gutes Deutsch ist?
Lobin: Auch wir alle. Wobei unsere Vorstellung, was gutes Deutsch ist, maßgeblich im 19. Jahrhundert geprägt wurde – im Gefolge der deutschen Klassik, durch Goethe, Schiller, Wieland. Ihretwegen hat die deutsche Hochsprache im Gymnasium ihre Heimstatt gefunden, am Ort der klassischen Bildung. Bis heute ist die Vorstellung, was gutes Deutsch ist, eng verknüpft mit Bildungsmilieus, enger wahrscheinlich als in vielen anderen Ländern. Sprache ist hier auch ein Instrument, um sich sozial zu verorten.
?: Ihr neues Buch widmet sich dem »Sprachkampf«(*). Wer steht sich in diesem Kampf gegenüber?
Lobin: Auf der einen Seite steht die linke Identitätspolitik, von der in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten viele emanzipatorische Bewegungen ausgegangen sind, auch in sprachlicher Hinsicht. Dazu gehört die feministische Linguistik, die geschlechtergerechte Sprache fordert. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die einem sprachlichen Ideal folgen, das bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. In Zuschriften an unser Institut heißt es gerne: »Wo ist die Sprache Goethes geblieben?« Wahlweise kommt auch Luther ins Spiel oder Thomas Mann. Diese Seite ist gut organisiert, zum Beispiel durch den Verein Deutsche Sprache. Dessen Positionen finden sich teilweise im Parteiprogramm der AfD.
?: Woran liegt es, dass Sprachpolitik für die AfD eine so große Rolle spielt?
Lobin: Für die AfD ist Sprache ein geeignetes Mittel, um ihre Anliegen positiv zu verpacken. Im Grundsatzprogramm von 2016 steht sinngemäß, dass die deutsche Sprache das Zentrum unserer kulturellen Identität bildet. Und der Begriff der Identität ist ein hervorragender Anker für rechte Werte. Insbesondere in einer Zeit, in der Begriffe wie Volk, Nation, Heimat als belastet erscheinen.
?: Der Gedanke, dass die deutsche Sprache eine Heimat ist, hat aber auch eine große linke Geschichte – etwa bei den Exilanten der Nazizeit, für die das letzte Zuhause oft das Deutsche war.
Lobin: Absolut, Sprache ist identitätsstiftend. Das hat Tradition in Deutschland, weil es lange keinen Nationalstaat gab. Sprache war ein Ersatz dafür. Dass das so positiv konnotiert ist, nutzt heute aber auch die AfD.
?: Das Gendern stört sehr viele Menschen, beileibe nicht nur Rechte.
Lobin: Das stimmt. Linke Identitätspolitik beißt sich zum Beispiel mit der klassischen linksliberalen Position. Der ist eine Parzellierung in Gruppen mit eigenen Gruppenrechten und eigenen Vorstellungen, wie sie bezeichnet werden möchten, fremd. Deshalb ringt jetzt ja die SPD mit sich, wie sie mit den Forderungen umgehen soll.
?: Die Gesellschaft ist diverser als früher. Sind wir deshalb mit mehr Sprachkonventionen konfrontiert?
Lobin: Ja, am Beispiel von Personenbezeichnungen wird es besonders deutlich: In einer Gesellschaft, in der Minderheiten keine Stimme hatten, war es gang und gäbe, schwarze Menschen mit dem N-Wort zu bezeichnen, Sinti und Roma mit dem Z-Wort. Darüber hat sich bis in die Siebzigerjahre bei uns keiner, der das hätte ändern können, Gedanken gemacht. Heute muss sich die Gesellschaft damit auseinandersetzen.
?: Erklärt sich aus der neuen Vielfalt die Heftigkeit der Sprachdebatten?
Lobin: Die Komplexität ist enorm gewachsen. Wir haben nicht mehr nur ein Wort, mit dem wir alle eine bestimmte Menschengruppe bezeichnen, wir haben die Wahl zwischen verschiedenen Konventionen, die sich entwickeln. Teilweise stehen sie sogar im Widerspruch zueinander. Das kann dazu führen, dass sich manche Menschen weniger zu Hause fühlen in der eigenen Sprache. Sie haben Angst davor, Fehler zu machen, und sehen die Gefahr, dass identitätspolitisch aufgeladene Sprache dazu beiträgt, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet.
?: Andere Menschen fühlen sich erst jetzt in unserer Sprache zu Hause. Ist die Vielzahl der aktuellen Sprachkonflikte ein Zeichen für einen sprachlichen Fortschritt?
Lobin: So ist es, das ist eine paradoxe Situation. Ich neige dazu, das als Gewinn zu betrachten. Die Gesellschaft wird sich nach und nach an die neuen Sprachkonventionen gewöhnen. Es ist eine Realität, auf die wir uns schon mal einstellen können. Sie wird nicht einfach verschwinden.
?: Verändert sich die deutsche Sprache aktuell besonders schnell?
Lobin: Das lässt sich seriös kaum beantworten. Es gibt gegenläufige Tendenzen. Auf der einen Seite unterliegt die Sprache momentan einem großen Schub, hervorgerufen auch durch Migration und eine größere Mobilität: Wenn der Hamburger nach München zieht, hat das auch einen Einfluss auf die Sprache. Auf der anderen Seite macht sich das bislang erstaunlich wenig in der Abgrenzung der Dialekträume bemerkbar.
?: Wie divers darf eine Sprache sein, die die Kommunikation aller Mitglieder der Gesellschaft gewährleisten soll?
Lobin: Wir dürfen Sprache nicht zu sehr mit Anliegen aufladen, die über sie hinausweisen. Es darf nicht alles zeichenhaft werden. Verwende ich den Genderstern, oder verwende ich ihn nicht? Gehöre ich zu dieser Gruppe oder zu jener? Sprache ist die Grundlage des Gemeinwesens in unserem Land. Dazu bedarf es einer gewissen Homogenität.
?: Liegt eine Lösung darin, die Sprache der sozialen Situation anzupassen? Jeder Studierende spricht mit seiner Oma vermutlich ein anderes Deutsch als mit seinen Kommilitoninnen.
Lobin: In der Linguistik nennen wir das »Register«, auf die man je nach Situation zurückgreift. Wir leben sprachlich schon Diversität, wir besitzen das Handwerkszeug. Darauf wird es auch hinauslaufen bei den Fragen, die jetzt so kontrovers diskutiert werden: dass wir in bestimmten Situationen auf bestimmte Begriffe und Praktiken setzen, in anderen darauf verzichten. Sei es, weil man sonst nicht verstanden wird, oder auch nur, weil man sich sonst selbst zu sehr mit einem bestimmten Image belegt.
?: Ein Streit dreht sich seit Langem um die Frage, ob das generische Maskulinum geschlechtsneutral ist oder nicht. Können Sie da schlichten?
Lobin:
Die Sprachwissenschaft hat keine einheitliche Meinung. Die Auseinandersetzungen, die in der Öffentlichkeit ausgetragen werden, finden sich auch innerhalb des Fachs. Das liegt auch daran, dass sich das generische Maskulinum sprachhistorisch nicht klar nachweisen lässt. Wer Texte des 17. Jahrhunderts analysiert, wird feststellen, dass dort meistens nur von Bäckern, Ärzten, Richtern die Rede ist, nie von Bäckerinnen, Ärztinnen, Richterinnen. Das Problem ist aber, dass es in den Texten damals tatsächlich meistens nur um Männer ging, weil es keine Frauen in diesen Berufen gab.
?: Inzwischen hat die soziale Realität die Sprache überholt. Lesen Menschen heute ein generisches Maskulinum in einem Text anders als Menschen vor 50 oder vor 100 Jahren?
Lobin: Davon dürfte auszugehen sein. Wenn ein Wort wie Einwohner in einem Satz auftaucht, haben die allermeisten Menschen sowohl Männer als auch Frauen vor Augen. Bei einem Wort wie Kosmetiker ist das anders. Es hat ein sehr viel geringeres generisches Potenzial, weil die soziale Erfahrung lehrt, dass in einem Kosmetiksalon meist Frauen arbeiten.
?: Kritiker stellen genderneutrale Sprache immer wieder in einen Zusammenhang mit George Orwells Roman »1984«. In diesem soll durch eine regulierte Sprachvariante namens »Neusprech« das Denken der Menschen beeinflusst werden. Gibt es Belege dafür, dass sich Bewusstsein durch Sprache verändern lässt?
Lobin: Es gibt zwei Effekte, die gut belegt sind. Sprachen bieten Kategorisierungen der Welt, die unser Denken bestimmen. Und Wörter haben immer ein Umfeld, wodurch ein einzelnes Wort eine ganze Szenerie aufspannt. Wenn Sie das Wort Bus hören, stellen Sie sich eine Haltestelle vor, eine Straße, eine Gruppe von Fahrgästen. Und diese Begriffe verarbeiten Sie sehr viel schneller in Verbindung mit dem Wort Bus.
?: Wie kann ein Mensch durch solche Assoziationsketten beeinflusst werden?
Lobin: In den vergangenen Jahren war Framing ein kontrovers diskutiertes Thema. Da ging es darum, politische Begriffe in ein bestimmtes gedankliches Umfeld zu setzen und so einem Sachverhalt einen bestimmten Dreh zu verleihen. Als die SPD vor zwei Jahren Milliarden in die öffentliche Kinderbetreuung pumpte, nannte sie das öffentlich nicht »Gesetz zur Weiterentwicklung der Qualität und zur Teilhabe in der Kindertagesbetreuung«, sondern »Gute-KiTa-Gesetz«. Bei dem Wort stellt man sich schöne Dinge vor, kleine Rucksäcke an der Garderobe, spielende Kinder. So umstritten Framingmethoden auch sind, sie basieren doch auf sozialpsychologischen Grundannahmen, die gut untersucht sind. Das Problem ist nur: Solche Effekte sind kaum steuerbar. Wenn Leute das Gefühl haben, es soll ein Effekt erzielt werden, machen sie komplett zu.
?: Verständlich. Keiner lässt sich gern manipulieren.
Lobin: Bei gendergerechter Sprache ist das ja auch so: Bei denen, die demgegenüber aufgeschlossen sind, wird ein Denkeffekt angestoßen. Aber bei denen, die sich dagegen sperren, wird eher Widerstand erzeugt.
?: Gibt es historisch betrachtet eine besondere Neigung der Deutschen, Sprachpolitik zu betreiben?
Lobin: Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben in Deutschland die Tradition, keine Sprachpolitik zu betreiben. Anders als etwa in Frankreich, wo die Académie française seit dem 17. Jahrhundert die Sprache pflegt und einheitliche Regeln fürs ganze Land erstellt.
?: Warum ist das so?
Lobin: In Frankreich war ja schon Ende des 15. Jahrhunderts die nationale Einheit nahezu vollendet, die gemeinsame Sprache wurde dann erst in einem längeren Prozess geformt. Das hat in Deutschland nie stattgefunden. Es gab hier bis zur Gründung des Kaiserreichs 1871 keinen Nationalstaat und deshalb auch keine Institution, die Regeln festlegen konnte. Gleichzeitig war das nicht nötig, die deutsche Standardsprache war 1871 mehr oder weniger fertig. Sie war hervorgegangen aus einem ungesteuerten kulturellen Prozess, bei dem Luthers Bibelübersetzung eine wichtige Rolle spielte. Aber auch andere hatten großen Einfluss, zum Beispiel im 17. Jahrhundert Sprachgesellschaften, die schon damals stark gegen Fremdwörter arbeiteten.
?: Nie hat jemand von oben eingegriffen?
Lobin: Nein. Die deutsche Sprache ist ein Symbol der Gleichberechtigung, ein Ergebnis geradezu demokratischer Entwicklungen, dadurch zugleich ein Ausdruck von Vielfalt und Diversität. Nicht jedem gefällt das, denn es macht die deutsche Sprache anstrengend. Wir haben kein staatliches Wörterbuch, wir haben keine offizielle Grammatik, wir haben auch keine offizielle Aussprache. Das unterliegt alles Gebrauchskonventionen, die dann einen hohen Stellenwert besitzen, wenn zum Beispiel die »Tagesschau« sie benutzt.
?: Wünschen Sie sich als Germanist da manchmal mehr Klarheit?
Lobin: Aber nein! Es ist ja viel interessanter so. Allerdings wird der Wunsch nach klaren Vorgaben oft herangetragen an das Leibniz-Institut, dem ich vorstehe. Es gibt ein ganz großes Bedürfnis nach Orientierung. Wenn mein Institut die »Neuen Wörter des Jahrzehnts« rausgibt, steht in den Zeitungen am nächsten Tag, wir hätten neue Wörter in die deutsche Sprache »aufgenommen«. Aber wir dokumentieren nur, wir entscheiden nicht. Selbst der Rat für deutsche Rechtschreibung, der Vorschläge für das amtliche Regelwerk erarbeitet, setzt nicht einfach Standards fest. In den Statuten steht, dass nur aufgrund des Usus und des allgemeinen Sprachwandels Regeln weiterentwickelt werden.
?: Gendersternchen und Gendergap sind in Schulaufsätzen zurzeit als Rechtschreibfehler anzustreichen. Finden Sie das richtig? Sie sitzen selbst im Rat für deutsche Rechtschreibung.
Lobin: Der Genderstern gehört derzeit nicht zum Zeichenbestand der deutschen Orthografie. Wer das streng auslegt, wird ihn in der Schule also als Fehler anstreichen müssen. Ich glaube aber, dass diese Diskussion an der Sache vorbeigeht. Wir werden uns 2022 im Rechtschreibrat wieder mit der Frage beschäftigen. Wir sollten uns dann klarmachen, was Kernbestand der Zeichensetzung und der Orthografie ist und was nicht. Es gibt typografische Zeichen, die bislang überhaupt nicht durch das Regelwerk erfasst werden – und deren Verwendung trotzdem niemand als Fehler betrachtet. Dazu gehören das Paragrafenzeichen, das Prozentzeichen. Mein Vorschlag wäre, den Genderstern dort einzureihen. Sonst würde er eine Sonderrolle einnehmen. Und ich glaube auch nicht, dass der Rechtschreibrat einen anderen Mehrheitsbeschluss finden würde.
?: Lange galt das Deutsche als die hässliche Sprache einer Nation, die im Zweiten Weltkrieg Millionen ermordete. Hat sich das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Sprache verändert?
Lobin: Das hoffe ich. Das Deutsche ist eine große Sprache, eine Sprache, deren kultureller Wert kaum abzuschätzen ist. Auch international wird das Deutsche heute als kreativ wahrgenommen, sogar als witzig. Im Leibniz-Institut haben wir mittlerweile 1200 neue Wörter gesammelt, die im Zuge der Coronakrise entstanden sind: Geistermeister, coronamüde, Coronafrisur. Die Meldung dazu ging durch die Decke im englischsprachigen Raum, wir wurden von der »Washington Post« interviewt, waren live in der BBC. Das Deutsche verbindet sich inzwischen also mit Humor und einer gewissen Coolness.
?: Herr Lobin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Henning Lobin: »Sprachkampf. Wie die Neue Rechte die deutsche Sprache instrumentalisiert«. Duden; 192 Seiten; 15 Euro.

Nov. 2021 | In Arbeit | Kommentieren

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