Es sei ja eingeräumt – Heidelberg ist ein Dorf, liebenswert, schrullig und manchmal – im Ernst – bezeichnete Bloch Heidelberg (zwar) als Mekka des Geschwätzes, (aber) müssen wir, weil Heidelberg dies und das und alles und noch viel mehr ist ( ja nun, auch der Vaterlandsstädte schönste), zuschauen, wie das Bild des Heidelbergers (an sich) nun als Hinterweltler ins Ländle nicht nur, sondern in die ganze Welt verbreitete wird?

Hinterweltler, der

Wenn Hinterweltler welche sind, die sich in ihrer selbstgeschaffenen Ideologie gefangen und daher rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich sind, dann haben wir in Heidelberg viele davon!
Der Begriff des Hinterweltlers soll hier sowohl für all jene stehen, die ihre selektive Wahrnehmung verabsolutiert haben, als auch für ähnlich agierende, komplexitätsreduzierende, verbiesterte und hasserfüllte Menschen – muss doch so mal gesagt werden dürfen, wenn schließlich einer der Ober-Nein Sager  im Gemeinderat sagen durfte, „JA“- Sagende zum Stadthallenanbau machten sich der Gotteslästerung schuldig. Ähnlich argumentiert wird mit diesem Plakat für NEIN, das wir Ihnen – sollten Sie es noch nicht im Straßenbild entdeckt haben, nicht vorenthalten wollen:

ENTSPTRCHENDES BILD

Wirkungsmacht – das zeigt sich immer mal wieder – erzielt man dauerhaft nicht durch haltlose Spekulationen, Skandalisierungen, Hysterisierungen oder anarchisch-pseudoradikale Verlautbarungen, die von wohlstandsgeformten Möchtegernrevoluzzern verfasst werden. Sie liefern allenfalls eine – mehr oder weniger gut – gesetzte Pointe und verschaffen ihren Protagonisten kurzfristige Erleichterung. Auf Dauer stumpfen diese Pos(s)en allerdings  ab und erzeugen allenfalls eher das Gegenteil dessen, was sie eigentlich intendierten, wobei sie entweder  ziemlich wenig Vertrauen in die eigene Argumentation zeigen, oder mangelnde Fähigkeiten zur Disputation.

Im übrigen muss man ja nicht soweit gegangen sein, wie nach einem eingesteckten Schlag auf die eine Backe die andere Backe hinhaltende Christen, die am Ende fast euphorisch vom Mut, einander Feind zu sein spricht, denn dann mögen wir (alle?) uns noch als Feinde lieben, weil jeder dem anderen zu hellerer Klarheit, zu stärkerer Kraft hilft.
Dieses Zutrauen in den Diskurs mutet heute freilich allzu rührend an. Das ist aber nun mal leider so. Einige Nein-Sager*Innen (dies *Innen konnte ich mir einmal wenigstens nicht verkneifen) haben das wohl immerhin auch verstanden, es werden Not-Aktionsgemeinschaften fabriziert in einer Feind-Freund-Zusammensetzung, die einen nur noch staunen machen kann.

Menschen, von denen wir wissen – und sich derbest gegenseitig zu beschimpften pflegen … Lasst uns alle Freunde sein?  Aber ja doch, da kann doch auch ich ein Lied davon singen:

Ich hatte mal einen Feind. Der hasste mich Tag und Nacht. / Der hätte mich, was mir auch logisch erscheint, von Herzen gern – umgebracht.
Dann aber: bekam ich noch einen Feind. Und ich dachte: zwei Feinde, na ja. Doch was ich dabei übersah: Dass mein zweiter Feind mit dem ersten Feind / Schon seit Jahrern verfeindet war.
Das merkte ich erst, als mein erster Feind / mich anrief: „Grüß Gott und blabla, der Dings, wie mir scheint, ist dein Feind mein Freund. / Ein gemeinsamer Feind, der vereint, mein Freund, / küß die Hand, tatatü tatata.“
Sogleich erschien mir mein zweiter Feind / nicht mehr ganz so schlimmm, wie er war.
Denn ich dachte: Ein Feind, der es feindlich meint, / der kann doch nicht sein meines Feindes Feind.
Ja, ich sah überhaupt nicht mehr klar …
Denn ich hatte nun zwei feindliche Freunde zum Feind. / Ein Gedanke, so traurig, so schön.
Ich hab`mich betrunken, gelacht und geweint. / Feiner Freund, lieber Feind, oh du feindlicher Freund.
Ach nimmer wird, wer mit einem Feind, was Feindschaft, ist zu begreifen meint, das Geheimnis der Freundschaft verstehn.

Alsdann, womit ich angedeutet haben will, dass mir einige Verhaltensweisen NEIN-sagenden Hinterweltler nicht gänzlich fremd sind. Sie aber bleiben trotz Feind-Freudschem Verhalten  dabei, sie sehen  die ganze Welt (zwar) neu; aber ihnen dienen alle Dinge nur zur Bestätigung ihrer Monomanie. Den Hinterweltlern schrumpft die Welt ein. Sie finden in allem und jedem Ding nur noch die Bestätigung deessen, was i c h längst schon zur eigenen Meinung gemacht habe. Die Sache selbst ergreift sie nicht mehr. Sie können nicht mehr ergriffen werden; soweit die Dinge sie noch angehen, dient dies dann allenfalls noch als Schlüssel – zur Hinterwelt. tno

 

Feb. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

 

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Die Rückkehr zur Normalität ist gerade in aller Munde. Aber was bedeutet das eigentlich? Das Kursbuch 209 begibt sich eine Exkursion durch Soziologie, Linguistik, Religion und mehr. Es sucht nach dem Unterschied zwischen IST und SOLL-Zustand, nach dem Beginn der Annahme einer Ausnahme und folgt dieser Frage auf der Suche nach…einem Ende? Ein ganz normales Kursbuch eben.

 

Mit dieser Ausgabe feiert das Kursbuch 10 Jahre und 40 Veröffentlichungen unter der Herausgeberschaft von Peter Felixberger und Armin Nassehi. Seit drei Ausgaben zählt nun außerdem die Wissenschaftsjournalistin Sibylle Anderl (FAZ) zum Herausgeberkreis.

 

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Kursbuch 209

Ausnahmezustand Normalität152 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-96196-246-4
16 € (D), 16,50 € (A)

Kursbuch Kulturstiftung

Ab 2. März erhältlich!

»Das ist das Paradox der Aufmerksamkeit: Man kann nicht die Aufmerksamkeit darauf lenken, auf Aufmerksamkeit zu verzichten.«

 

Omikron auf dem Vormarsch, gleichzeitig Rufe nach einem Freedom-Day: Spätestens jetzt sind wir in der Corona-Pandemie an einem Punkt angelangt, an dem die Grenzen zwischen Ausnahmezustand und Normalität zerfasern. Schon im letzten Sommer war die „Neue Normalität“ mit Zoom-Calls statt Dienstreisen und Remote-Office statt Büroturm ein geflügeltes Diktum, das im Herbst durch die Delta-Welle ein jähes Ende fand. Doch was hat es mit dieser ominösen »Normalität« auf sich? Wie definiert sich ein »Normalzustand«, insbesondere in außergewöhnlichen Zeiten? Kursbuch 209 nimmt sich dieser Lücke in der öffentlichen Wahrnehmung an und seziert den »Ausnahmezustand Normalität«.

Und zwar ernsthaft, wie Mitherausgeber Armin Nassehi im Editorial bekräftigt: »Deshalb kommen wir nicht umhin, eben kein Kursbuch darüber zu machen, wie wir endlich wieder in normale Verhältnisse zurückkehren oder wie diese neue Normalität aussehen könnte oder sollte. Nein, wir haben ein Kursbuch gemacht, in dem es um die Bedingungen von Normalisierung geht, um das Verhältnis von Normalität und ihrem Gegenüber, über das Verhältnis von Ausnahmezustand und Normalität, um den Ausnahmezustand Normalität.«

Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie sich auf das Spiel erst gar nicht einlassen, den Ausnahmezustand durch eine wie auch immer geartete Normalität heilen zu wollen. So würdigt der Kunst- und Bildhistoriker Horst Bredekamp den Ausnahmezustand, der durch ästhetisches Erleben hervorgebracht werden kann. Die Linguistin Carola Müller-Spitzer zeigt anhand sprachpuristischer Gender-Debatten, warum die Herstellung sprachlicher Normalität immer auch eine Machtfrage ist. Die Co-Herausgeberin Sibylle Anderl fragt: »Wie normal ist Wissenschaft?« – und geht dabei den Fragen nach, warum wir der Wissenschaft glauben sollen oder ob das, was Wissenschaftler für »normal« halten, letztlich auch nichts anderes als eine soziale Konstruktion ist.Und Armin Nassehi stellt in seinem Beitrag die These auf, dass der Ausnahmezustand normal und gleichzeitig die Normalität ein Ausnahmezustand ist. Auch der Psychiater Leonhard Schilbach fordert den Normalitätsbegriff anhand des Beispiels Autismus heraus. Berit Glanz’ zweite Kolumne »Islandtief« beschäftigt sich mit der medial vermittelten Form der Naturbeobachtung am Beispiel von Vulkanausbrüchen und führt von Island aus um den ganzen Globus.

 

Eine besondere Stellung in diesem Kursbuch nimmt der Beitrag des Judaisten, Religionspädagogen und Rabbiner-Anwärters Levi Israel Ufferfilge ein, der sich mit dem Normalität-gewordenen Ausnahmezustand Antisemitismus in Deutschland befasst und dabei insbesondere persönliche Erfahrungen von jüdischen Schulen schildert: »Dass die Polizei hier nicht etwa wie üblich nur bei einer temporären Gefahr anwesend ist, sondern dauerhaft, alltäglich präsent sein muss, ist ein weiterer, für viele nicht jüdische Deutsche kaum begreifbarer Anblick. Der Ausnahmezustand als Dauerzustand. Dabei sollte sich doch alle Irritation, alle Wut nicht gegen Sicherheitsschleusen und Security-Leute richten, sondern etwa gegen den herumschreienden Neonazi vor der Schule, der den Grundschülern Angst einjagt.«

 

Heike Littger rekonstruiert in ihrem »Lagerfeuer« den Ausnahmezustand Normalität mit der Geschichte von Aids/HIV und der Vielfalt von migrantischen Normalitäten – als Ausnahmezustand. Und Peter Felixberger ist in seiner aktuellen FLXX-Kolumne auf dem Weg zum Planeten „Politische Macht- PMM001“ und trifft dabei auf Niklas Luhmann, Walter Benjamin, Carl Schmitt und John Rawls.

 

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Feb. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

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Feb. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Inoffiziell aber dürfte das ganz anders aussehen.

Dass aus dem Hamburger Hafen eine russische Yacht in Richtung Ostsee aufbricht, ist nicht besonders spektakulär. Anders ist es allerdings, wenn das Luxus-Schiff angeblich dem russischen Präsidenten gehört – und darüber spekuliert wird, ob Wladimir Putin seine Yacht angesichts drohender Sanktionen noch rechtzeitig vor einer möglichen Beschlagnahmung in Sicherheit bringen will.

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Feb. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Ich tue mich schwer mit den Attributen „totalitär“ und „verbrecherisch“ als Beschreibung heutiger Verhältnisse in Deutschland. Die Politik ist einfach schlecht und mehr von Inkompetenz geprägt als von Argwohn und flächendeckender Verschlagenheit. Das ist eigentlich schon genug der Schelte. Aber unerträglich ist, dass dieses Versagen keine Konsequenzen für die handelnden Personen hat. Bis dato. So will der Vorwurf des Totalitären also nicht in seiner vollen Wucht passen, es reicht ja schon, Dummheit generell für eine Verschwörung gegen die Vernunft zu halten.

Mir scheint eher ein anhaltend fatales Missverständnis, eine babylonische Verschiebung des Sprachverstandes stattgefunden zu haben, der den einen zur blasierten Hochsprache ihrer Machtbefugnisse, den anderen zu niederen Beweggründen einer vorrevolutionären Wut verholfen hat, die das entsprechende Vokabular gebiert. Ich meine einen Sprachverstand, der zu „normalen Zeiten“ bei härtesten Zielkonflikten das gegenseitige Verstehen durch gemeinsame, begriffliche Kategorien und eine Etikette bisher zu schützen vermochte – bis es zum Schleudergang einer von Panik und Machtgestus getriebenen Politik kam, deren Zentrifugalkräfte genau diese Verbindung zerrissen und die gesellschaftliche Auseinandersetzung infantilisierten. Getrennt durch den Graben der Politikverletzungen stehen sich nunmehr zwei unvereinbare Gegner gegenüber, die voneinander kaum mehr wissen als die gegenseitige, kindische Verachtung.

Eine Politik, die lügen muss, um überzeugend zu sein, ist genauso demokratie-untauglich wie die blinde Wut eines zum Mob degradierten Bürgertums. Ich vergesse dabei nicht, wer mit der Verächtlichmachung begonnen hat. Das waren die Volksvertreter selbst, die ihre demokratischen Widersacher schnell als Covidioten, Schwurbler, Pandemietreiber und Demokratiefeinde diffamierten. Sie wussten eigentlich aus ihren eigenen Sonntagsreden: Widerspruch kann einer Demokratie nie schaden. Doch es schmeichelte ihrer Eitelkeit, „Obrigkeit“ zu mimen, und auf die „Niederen“ einzuteufeln. Wer den Widerspruch abwürgt, ihn abwertet und letztlich kriminalisiert, eskaliert allerdings um der puren Macht willen. Eine Politik, die verächtlich über einen Teil ihres Souveräns spricht, ist schlicht selbst am Ende ihrer Legitimation. Das Fußvolk geht dann spazieren.

Inzwischen liegt eine große zentrale Lücke zwischen den an die Ränder zentrifugierten Demokratie-Interpretationen, die kaum Überschneidungen mehr aufweisen – es ist dies ein klassisches Prämissen-Problem, das die nun randständigen Sichtweisen aus der jeweilig anderen Perspektive der Gegner zur ideologisch verschwörerischen Machenschaft erklärt. Das ist keineswegs vereinbar mit dem eigenen, verschrobenen Demokratieverständnis. Die einen sagen: „Wir müssen die Demokratie schützen, das rechtfertigt durchaus ihre Aussetzung.“ Die anderen skandieren: „Das ist längst keine Demokratie mehr, wir sind das Volk und fühlen uns nicht mehr gebunden.“

Vielleicht ist es der zu langen Einübungsphase „überflüssiger Opposition“ der Merkeljahre geschuldet, sodass eine enorm engstirnige Politikergeneration nachgewachsen ist, die mit Veto und Antithese einfach nicht umzugehen weiß. Diese Politiker sind Agitatoren im Alarmismus-Modus, die Widerspruch als persönlich gemeinten Affront rechter Querulanten, alter weißer Männer und Demokratiefeinde erleben. Zur Sache fehlt ihnen meist der Sachverstand. Sie ziehen die kurze, propagandistische Beeinflussung immer der zurückhaltenden Moderation vor. Und aus dieser kann das Totalitäre entstehen, irgendwann, bald, oder – wenn die Verständigen doch noch eingreifen – nie. So hoffe ich.

Eine gefährliche „Auseinandersetzung“ im wortwörtlichen Sinn droht nur deshalb, weil die Politik nicht bereit ist, auch und gerade die gegensätzlichen Positionen zu schützen, sondern sich als Wortführer und Vorreiter eines apodiktischen Modernismus über alles hinwegzusetzen berechtigt fühlt. Das birgt im Kern bereits totalitäres Denken, ist aber noch immer an das bereits „aufgeweichte“ Korsett des Grundgesetztes gebunden.

Antifreiheitliche Tendenzen beginnen meist mit einer Schönfärberei neubegrifflicher Wortschöpfungen: „Framing“, „Fact-Checking“, „Compliance“. Bewusst wird die volle Härte der deutschen Bedeutungen vorenthalten, denn diese klingen lange nicht so „achtsam“, wie ihre Anglizismen: Eingrenzung, Überprüfung, Fügsamkeit. Das schmeckt gleich nach Gehorsams- und Gesinnungsstaat. Und es ist bereits heute wirksam als moralistischer Dreisprung, mit dem jedwedes Diskursbegehren vor seinem Entstehen geschurigelt wird. Zusammengefasst handelt es sich schon um einen Modus Operandi, der eine Kontrolle über die Meinungsfreiheit erlangen möchte. Ein solches Sprachverständnis ist ein Vexierbild unserer gesellschaftlichen Zustände, in der Ausgrenzung, Gedanken-Kontrolle und Restriktion fortschreitend zum Alltag werden. Da ist Meinungsfreiheit nur noch ein Gegenstand, der moralisch dringend kuratiert werden muss.

Eine spezifische Herrschaftssprache ist also entstanden, die sich kaum der tradierten Begrifflichkeiten unserer Philosophie und deren gewohnten Kanons bedient, sondern sich lieber aus den Bereichen der Digitalität und deren begrifflich dünnen Funktionalismus nährt. Sie ist in erster Linie eine technische Sprache, die das Emotionale floskelhaft umspült – weshalb Politikerreden gern wie Heißluftballons davonwehen.

So entsteht eine neuzeitliche „Erinnerung“ an eine Zukunft, die keine (analoge) Begriffs-Vergangenheit kennt und wenig eigene, haltbare Erinnerungsmomente auslöst. Der von ihr ermöglichte Zugriff auf Bedeutung ist direkt und wahlfrei, also beliebig und steuerbar, eine Art RAM-Baustein (Radom-Access Memory) der Sprach-Gegenwart, in dem kurzfristig benötigte Strukturen und Befehle zwischengespeichert werden, die morgen vielleicht schon wieder passé sind, oder umgedeutet werden müssen. Perfekt also für ein sprunghaftes Politikverständnis frei nach dem Motto, „was interessiert mich mein Geschwätz von gestern“, kann jede Politikerklärung als Gemeinplatz und Floskel in Erscheinung treten – Zero Verbindlichkeit, maximale Flexibilität. Auf diese Art Sprache fluider Bedeutungszuweisungen haben wir kaum Einfluss, das ist Sache der Politik, der NGOs und derer, die ein Interesse an Gedankenpolizei und paternalistischem Staat haben.

Ich höre resignierte Menschen oft sagen: „Es hat alles keinen Zweck. Die machen eh, was sie wollen.“ Leider fällt solcher Fatalismus den unbekümmerten Demonstranten, den widerspruchsfreudigen Freiheitsbewussten und den „Spaziergängern“ indirekt in den Rücken. Denn es entwertet ihr Aufbegehren als zweckloses Ansinnen. Aber gerade die Offensichtlichkeit einer nicht kleinen Menge Widerspruchsgeister macht denen Angst, die nicht wahrhaben wollen, dass sie konkrete Verantwortung tragen, die auch später nicht abwaschbar ist. Sie tragen Verantwortung für ihr Gesagtes, Veranlasstes und das daraus Erfolgte. Auch mit ihrer Sondersprache wird es ihnen nicht gelingen, sich herauszureden. Daran muss man sie fortwährend erinnern – mit klarer, höflicher, aber bestimmter Sprache, an der es nichts zu deuteln gibt.

Feb. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Es musste eine alternative Route für meinen feiertäglichen Fußmarsch her, mitten durch die Stadt, aber in stiller Einsamkeit eines benediktinischen Schweigeklosters. Und siehe da: Dank der im Jahr 1898 gegründeten Augsburger Localbahn steht eine geeignete Wegstrecke zur Verfügung. Die private Güterbahn windet sich nämlich auf einem eigenen, meist verborgenen Schienennetz von 40 Kilometern durch die Stadt. Alltags bedient sie Industriebetriebe mit hunderttausenden von Tonnen Fracht pro Jahr. Auf einer Ringstrecke erfreut die Localbahn gemeinsam mit den Bahn-Afficionados vom Bahnpark-Augsburg die Menschen sogar mit gelegentlichen Rundfahrten in einem alten Schienenbus. Sonntags macht die Lokalbahn aber Pause, und dem Flaneur bietet sich die Chance, in die Hinterzimmer der Stadt abzutauchen, ohne mit den 440 Pferden einer schweren Diesellok vom Kraus-Maffei zusammenzustoßen. Die kann übrigens ganz enge Kurven fahren, bei der Bahn bedeutet das einen Radius von 50 Metern. Sie ist also geradezu prädestiniert für den Stadtverkehr.

An einer geeigneten Stelle fädele ich mich unauffällig ein und entschwinde den Blicken über eine kastenförmige Stahlbrücke. Die Trasse erinnert mich ein wenig an die Back-Alleys amerikanischer Wohnviertel, wo die Mülltonnen stehen und allerlei Undurchsichtiges passiert. Auch mit der Localbahn nähert man sich der Stadt durch die schlecht beleuchtete Seite, die aber oft vielsagender ist als die Vorderfront mit dem gepflegten Rasen. Hier wird nicht gekehrt und gekärchert, hier gibt’s abweisende Zäune, modernde Ruinen und rostende Brücken. Fuchs und Hase finden mitten in der großen Stadt Unterschlupf, wilde Katzen schleichen umher, und die Vögel schlagen als zwitscherndes und schimpfendes AWACS Alarm.

Ich fühle mich ein bisschen wie Jack London

Die Bohlen in der Mitte der Brücke sind leicht verfault, und ich blicke direkt in die darunter fließende Wertach, die ziemlich kalt aussieht. Ich versuche den richtigen Rhythmus zwischen den Schwellen im Gleisbett zu finden. Der Abstand zwischen den Bohlen ist zum zügigen Laufen zu klein, nimmt man zwei auf einmal, ist er zu groß. Ich fühle mich ein bisschen wie Jack London, der wohl berühmteste Hobo. So nannte man in USA die Wanderarbeiter, die auf oder entlang den Gleisen wanderten und auf einen günstigen Moment lauerten, sich auf einen Güterzug zu schwingen.

Auch in dem doch recht wohlhabenden Augsburg haben sich Obdachlose unter den Brücken und in angrenzenden Schuppen eingerichtet, Zelte und Matratzen entlang der Gleise zeugen davon. Es ist niemand zu Hause, ich störe also nicht, wenn ich mitten durch die Wohnstube latsche. In den Mauernischen der Brücken hatten sich einige geradezu häuslich eingerichtet, die Unterkünfte erinnerten an Schwalbennester unter’m Dachvorsprung. Jetzt verhindern das dicke Stahlzäune. Ich habe mir sagen lassen, dass es immer mehr Obdachlose werden. Sie ziehen diese zweifelhafte Wohnlage ganz offensichtlich den örtlichen Not-Unterkünften vor. Stahlzäune sind wohl eher die falsche Antwort.

Überall auf der Welt finden sich die billigsten Grundstücke an der Bahnlinie. Entlang der Localbahn-Trasse reihen sich stellenweise die Kleingärten, auf ein paar Metern eingeklemmt zwischen Geleisen und der tief unten liegenden Wertach. In Rio würde hier eine Favela wuchern, in Kapstadt ein Township, aber auch hierzulande scheint es sich an vielen Stellen um städtebaulichen Wildwuchs zu handeln, den man gleichwohl unter Denkmalschutz stellen sollte. Nirgends zeigt sich das archaische Bedürfnis des Menschen nach einem kleinen Eigentum und einer individuellen Behausung so klar wie in diesen selbstgezimmerten Paradiesen. Unter Umgehung sämtlicher Bauvorschriften erheben sich Giebel- und Flachdachkonstruktionen, Wintergärten und verwegene Terrassen über dem Steilufer – allesamt gebaut aus Bauabfällen der Zivilisation, alten Fenstern und Türen, Dachpfannen und Sperrmüll. Die Bauweise lässt sich am besten mit Zellteilung vergleichen, erst fängt man ganz klein an, dann kommen zwei kleine Anbauten hinzu und dann…

Auch politisch lässt sich was lernen

Ausgestattet mit Omas Hochzeitsgeschirr und verborgen hinter Hecken oder Jägerzäunen lebt es sich gänzlich ungeniert. Nicht nur architektonisch, sondern auch politisch lässt sich was lernen: Die beste Voraussetzung für eine friedliche Koexistenz mit dem Nachbarn ist ein solider Zaun.

Sehr gut gefallen hat mir auch ein multikultureller Waffenstillstand beiderseits der Wertach. Auf der einen Seite eine mit dem roten Halbmond gekennzeichnete türkische Lagerhalle, deren Hausmeister dank Hühnerhaltung auch in schweren Zeiten etwas zum Tauschen hat. Am gegenüberliegenden Ufer liegt ein griechisch beflaggtes Grundstück mit viel blau und weiß und einer Armee aus hellenistischen Gipsfiguren. Die Wertach bildet dazwischen einen sicheren Wassergraben, als sei es die Ägäis zwischen Marmaris und Rhodos. Auch ein kleines Refugium mit mehreren Dutzend Hirschgeweihen, die jeweils farbig angemalt sind, beeindruckte mich. Der Besitzer sollte seine Installation, so wie sie ist, als Leihgabe an die Münchner Pinakothek der Moderne geben, der Beifall der Kunstwelt wäre ihm sicher.

Ein Spaziergang entlang der Lokalbahn lehrt ferner: Der Mensch ist keineswegs zum Wegwerfen geboren – ganz im Gegenteil. Der intelligente Umgang mit Ressourcen, das Erhalten und Wiederverwerten, macht den Menschen Spaß. Schließlich sind wir alle gelernte Jäger und Sammler. Keine Spur von ökologischer Wut-Trauer-und-Betroffenheit. Und es kommt dabei auch noch innerer Friede und Seelenheil heraus. Die politische Botschaft daraus sollte eigentlich auch klar sein: Man muss die Menschen einfach nur machen lassen, anstatt sie mit prohibitiven Vorschriften zu malträtieren.

Wie der Hund, der vor der Metzgertür warten muss

Die Anwohner längs der Lokalbahn wissen wahrscheinlich gar nicht, dass sie mit „urban gardening” und „tiny house” inzwischen voll im Trend liegen. Spätestens wenn schicke englische Bezeichnungen auftauchen, darf der soziale Aufstieg einer Bewegung als gegeben betrachtet werden – und dann wird’s schnell teurer. Oft geht auch der Zauber verloren. Bislang galten ja Menschen, die einen Jägerzaun schön finden, eher als zurückgebliebene Zeitgenossen. Motto: Wer so wohnt, trägt auch Sandalen mit weißen Socken. In der Zeichensprache der gebildeten Stände macht es keinen Unterschied, ob jemand ein Zäunlein um sein Eigenheim zieht oder im Urlaub frühmorgens die Sonnenliege mit einem Handtuch reserviert. Beides ist verbreitet, aber für die Baerbocks und Habecks einfach nur bäh, weshalb sie das Einfamilienhaus am liebsten abschaffen würden, um gar nicht erst von schwarz errichteten Wochenend-Refugien zu reden, die den Geruch von Holzkohle, Grillanzünder, Bratwürsten und Hammelspießen verbreiten. Schon der Dreiklang „Ein-Familien-Haus“ erklärt, warum diese Wohnform verdächtig ist. „Ein“ steht für das Individuelle und das Individuum, „Familie“ für seine kleinste Organisationsform. Das Kollektiv muss draußen bleiben und ist darob beleidigt, so ähnlich wie der Hund, der vor der Metzgertür warten muss.

Als geradezu Lehrbuchbeispiel für das subversive Wesen des Häuslebesitzers, seine eigenmächtige Lösung von Gestaltungsfragen, gilt übrigens die aus 314 Reihenhäusern bestehende Bauhaus-Siedlung Törten, die der Architekt Walter Gropius in den zwanziger Jahren in Dessau erbaute. Doch die einstmals lichten, hellen Kuben wurden von ihren Bewohnern über die Jahrzehnte verändert und mit anarchischen An- und Umbauten versehen. Geranien und Spitzdächer, Klinker und Sprossenfenster, Garagen und alpenländische Holzanbauten reduzierten den Architektenentwurf sozusagen auf das menschliche Maß.

Und das scheint überall auf der Welt gleich zu sein:

Aus bestimmten Perspektiven erinnern die Hinterseiten der Häuser von Törten wahlweise an Berliner Schrebergärten, russische Datschensiedlungen oder südamerikanische Favelas. Da die Siedlung unter Denkmalschutz steht, verabschiedete die Stadt Dessau vor einiger Zeit eine Satzung, „die einen Kompromiss zwischen dem Entwurf von Walter Gropius und den Ansprüchen der Bewohner vorsieht“. Architektur-Studenten erfahren derweil bei Führungen durch das Anarcho-Bauhaus, wie weit der Weg zum neuen Menschen noch ist.

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Von Dirk Maxeiner ist in der Achgut-Edition erschienen:
„Hilfe, mein Hund überholt mich rechts. Bekenntnisse eines Sonntagsfahrers.“
Ideal für Schwarze, Weiße, Rote, Grüne, Gelbe, Blaue, sämtliche Geschlechtsidentitäten sowie Hundebesitzer und Katzenliebhaber, als Zündkerze für jeden Anlass(er). Portofrei zu beziehen hier.

Feb. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Wie ist Ihr Kontostand? Hat Ihr Kollege Schulden? Was verdient Ihre Nachbarin? Das alles geht niemanden etwas an – und doch könnten diese Informationen bald an den schwedischen Investor EQT gehen. Das Unternehmen will die Schufa kaufen – und damit intime Daten von Millionen von Konsumenten. Die Süddeutsche Zeitung hat aufgedeckt, was EQT mit der Kredit-Auskunftei plant: datengetriebene Geschäftsmodelle, die massig Rendite abwerfen sollen.

Was kaum jemand weiß:

Die Schufa ist keine Behörde, sondern eine Aktiengesellschaft. Noch ist sie im Besitz von Kreditinstituten; größtenteils vertrauenswürdigen Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Das könnte sich jetzt ändern. Eine französische Großbank will ihren Anteil an den Finanzinvestor EQT verkaufen. Beim Bundeskartellamt hat das Unternehmen sogar Interesse angemeldet, die Schufa komplett zu übernehmen.[2]
Die Sparkassen und Genossenschaftsbanken können den Deal noch platzen lassen – indem sie die französischen Anteile kaufen. Ihr Vorteil im Bieterkampf: Sie haben ein Vorkaufsrecht.[1] Entscheiden sie sich zum Kauf, wären die Daten vor EQT sicher. Lassen sie aber zu, dass sich der Konzern sensible Informationen über Millionen Deutsche schnappt, wäre ihr Ruf als verantwortungsvolle Banken in Gefahr.

Mehr als 200 Millionen Euro Jahresumsatz macht die Schufa aktuell – EQT will mit der Auskunftei sogar noch mehr Rendite erwirtschaften.[1][3]Die Verhandlungen zum Verkauf der Schufa laufen auf Hochtouren. Deshalb machen wir Sparkasse und Co. jetzt klar: Es geht um die privatesten Daten ihrer Kunden. Wenn mehr als 100.000 Unterschriften zusammen kommen, ziehen wir vor die Zentralen von Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken. Gemeinsam fordern wir: Stoppt den Ausverkauf der Schufa!

 

Jan. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

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