Nach längerer Zeit im Koma kommt ein Mann zur Rekonvaleszenz in eine Wohnung nach Ostende. An einen Rollstuhl gefesselt sitzt er dort im sechsten Stock inzweiter Reihe vor dem Meer und beobachtet durch das Fenster den Strand und das
Treiben umherirrender Möwen, ganz dem
Lauf seiner Gedanken, Erinnerungen und Beobachtungen ausgeliefert. Er versucht,
sich zu erinnern: War es ein Unfall – oder
sogar ein Attentat? Gab es da nicht eine Explosion auf dem Weg zu einer Verabredung in einem Brüsseler Café? Vor seinem Fenster wird eine Baustelle eingerichtet:
Nach und nach wächst eine dunkle Be
tonmauer, die erst seine Aussicht auf das Meer von Ostende verdeckt, dann sein Zimmer verdunkelt. Er ist gezwungen, das Verschwinden der Landschaft zu erleben.
Jean-Philippe Toussaint ist ein ebenso
ernster wie humorvoller, ein ironischer und tiefgründiger Schriftsteller, weltweit anerkannt und übersetzt.
Mit seinem neuesten
sehr ergreifenden Text zeigt er das anhal tende Erstaunen seines Protagonisten über das, was ihm widerfahren ist, was ihm unversehens angetan wurde in einem schierunglaublichen Übergriff auf sein Leben.

Jean-Philippe Toussaint, geboren 1957, ist Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur und Fotograf. Der ehemalige Juniorenweltmeister im Scrabble lebt in Brüssel und auf Korsika.
Sein Gesamtwerk erscheint auf Deutsch in
der Frankfurter Verlagsanstalt, zumeist in der Übersetzung des Verlegers Joachim Unseld. Zuletzt erschienen seine Romane Der USB- Stick (FVA 2020) und Die Gefühle (FVA 2021).
Der Monolog

Das Verschwinden der Landschaft
wurde im November 2021 in der Inszenierung von Aurélien Bory mit dem Schauspieler Denis Podalydès im Théâtre des Bouffes du Nord erstaufgeführt und ist seither auf Tournee durch Frankreich.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.

Mai 2022 | Buchempfehlungen, In Arbeit | Kommentieren

Von München über Paris nach Edinburgh, eine Rundreise durch Spanien, nachts nach Istanbul – das alles geht. Man muss nur wissen, wie. Tipps für das grenzenlose Zugreisen

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Mai 2022 | In Arbeit | Kommentieren
Mai 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Daniele Dell’Agli ist ohne Wenn und Aber zuzustimmen: Wir müssen die Systemfrage stellen und brauchen eine Revolution in unserer Kultur des Alterns und Sterbens: Wir sollten ernsthaft über Menschenrechte im Alter nachdenken, selbstbestimmte Wohn- und Lebensformen am Lebensende ermöglichen, unsere Endlichkeit enttabuisieren, die Medikalisierung der zweiten Lebenshälfte hinterfragen, und so fort.

Im Zuge dessen mag argumentativ über die These des Autors gestritten werden, dass die Individualisierung der Lebensführung und die Einmaligkeit des je eigenen Todes in eine ästhetische Perspektivierung des Sterbens münden müsse, unter der die Abgabe von letalen Substanzen an Suizidwillige letztlich ebenso zu legalisieren ist wie die Tötung auf Verlangen.
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Mai 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Im Schatten weltpolitischer Aktualität schleicht eine Debatte durchs Parlament, die unsere Gesellschaft im Innersten betrifft: Sie handelt von Sterbehilfe und Suizid. Plädoyer für eine Befreiung dieses Themas aus dem Griff der Politik und mit ihr paktierender Verbandseliten

 

Wer aber verzweifelt stirbt, dessen ganzes Leben war umsonst
Theodor W. Adorno

I. Reset

Aufmerksamkeit ist eine selektive Energie. Was sie dem einen Phänomen zuteil werden lässt, entzieht sie einem anderen. Diese Ökonomie können sich politische Akteure zunutze machen, um hinter dem Hype eines Themas bequem ein anderes zu kaschieren. Im Aufmerksamkeitsschatten von Ukraine und Isis, von Europawahl, TTIP und NSA schleicht dieses Jahr eine Debatte durchs Parlament, die das Potenzial hätte, die Prinzipien demokratischer Legitimation radikaler zu erschüttern als die großen weltpolitischen Spektakel, von denen sie überlärmt wird. Die Rede ist von der Debatte um die gesetzliche Regelung der Sterbehilfe, die gleichsam auf Zimmerlautstärke geführt wird, als wollten die Diskutanten den Eindruck vermeiden, es stünde mehr auf dem Spiel als die Schließung einer winzigen Gesetzeslücke oder die Korrektur eines Zusatzparagraphen auf einem marginalen, wenn auch sperrigen Problemfeld. Minister, Fraktionen und Parlamentarier, so scheint es, sind sich einig, das Potenzial nicht auszureizen und es nicht zu einer zeitdiagnostischen Debatte über Sterbekultur, einer verfassungsrechtlichen Debatte über Selbstbestimmung oder einer demokratietheoretischen Debatte über die Grenzen politischer Repräsentation kommen zu lassen. Sie werden auf keinen Fall über Menschenrechte im Alter, die Abschaffung der gescheiterten Drogenrepression oder die längst fällige Entpathologisierung des Suizids reden. Auf der Tagesordnung stehen stattdessen das Verbot von Sterbehilfeorganisationen und damit das Verbot der assistierten Selbsttötung.

Man könnte meinen, das seien nun wahrlich periphere Themen, minority issues halt. Sterben tut in Deutschland pro Jahr jeder Hundertste, zehntausend Suizidanten samt Dunkelziffer eingerechnet, die Zahl der Hinterbliebenen bleibt überschaubar. Doch der statistische Schein trügt. Denn der Tod mag zwar dem menschlichen Geist für immer fremd bleiben und alles Nachdenken darüber spekulativ, eine Ars vivendi jedoch, die nicht zugleich eine Kunst des Älterwerdens und eine Kultur des Abschiednehmens einschließt, ist nicht einmal denkbar. Nicht nur aus den bekannten trivialen Gründen: weil wir, wie die Biochemiker versichern, mit dem ersten Atemzug beginnen irreversibel zu altern; oder weil es, nach Auskunft der Mediziner, immer schwieriger wird anzugeben, wann Leben in Sterben übergeht und dieser Prozess an sein Ende kommt; oder weil wir, wie Wald-und-Wiesen-Philosophen unermüdlich predigen, ohne reflexives Innewerden unserer Endlichkeit vergeblich nach einem Sinn in unserem Dasein suchen würden. Vielmehr tangieren die immer lauter und unabweisbarer sich meldenden Forderungen nach einem selbstbestimmten Sterben unmittelbar die Fragen eines selbstbestimmten Lebens. Und die ausufernde medizinische Kontrolle von Alterungs- und Sterbeprozessen nimmt nur vorweg, was als Medikalisierung praktisch aller Lebensreiche – angefangen bei verhaltensauffälligen Kindern – sich unter dem Decknamen „erweiterter Krankheitsbegriff“ durchzusetzen beginnt.

 

Das Weiherelief des Archinos. Dazu schreibt Karl Kerenyi in „Der göttliche Arzt“: „Weiherelief des Archinos an den Orakelgott Amphiaraos in Oropos (Attika). Im Vordergrund träumt der Patient, wie der Gott an ihm eine Operation vornimmt, im Hintergrund ist dargestellt, wie der Kranke in Wirklichkeit von einer Schlange geleckt wird“. Athen, Nationalmuseum. 380/370 v.Chr. Image courtesy of HolyLandPhotos.org.

Rückblick. Man kann die philosophische Kritik sinnloser Lebensverlängerung bis zu Senecas berühmter 58. Epistel an Lucillius zurückverfolgen oder die Geschichte der zunächst im angelsächsischen Raum rührigen Right-to-die-Bewegung bis zu den Anfängen des vorigen Jahrhunderts nachzeichnen, doch erst mit Elisabeth Kübler-Ross“ aufsehenerregendem Buch On death and dying (1969) [1] schickt sich ein neues Genre transdisziplinärer Sterbediskurse an, die traditionellen Spekulationen über den Tod, denen die Erfahrungen der Moderne ohnehin jede theologische Grundlage entzogen hatten, abzulösen.[2] Forciert wurde und wird die Dynamik dieses Paradigmenwechsels von einem medizinischen Fortschritt, der seinerseits das Sterben zu einer Lebensphase sui generis auszudehnen begann, so dass spätestens seit Mitte der neunziger Jahre, von einzelnen spektakulären Fällen oder Gerichtsurteilen, Nachrichten aus dem benachbarten Ausland oder mutigen Streitschriften periodisch entfacht, die Auseinandersetzung um die unserer Zeit angemessene – medizinisch mögliche, rechtlich zulässige, ethisch verantwortbare – Form der Sterbehilfe nicht mehr zur Ruhe kommt. Für die ersten publikumswirksamen Vorstöße hierzulande seien stellvertretend Hans Küngs und Walter Jens“ gemeinsam herausgegebenen „Plädoyers für Selbstverantwortung“ Menschenwürdig Sterben (1996) und Norbert Hoersters rechtsethische Grundlegung Sterbehilfe im säkularen Staat (1998) genannt, Texte die bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben.[3]

Hans Küng setzte sich als einer der ersten für eine Rehabilitierung des altehrwürdigen Begriffs der Euthanasie ein, dessen Pervertierung unter dem NS-Regime stets – und mit zunehmend historischem Abstand proportional zunehmender Verlogenheit – für eine Tabuisierung der Diskussion um aktive Sterbehilfe herhalten musste. Erst unlängst hat der 85-jährige, an Parkinson und Makula-Degeneration leidende Gelehrte durchblicken lassen, dass er, wenn er nicht mehr schreiben und lesen könne, lieber die Dienste einer Schweizer Sterbehilfe-Organisation in Anspruch nehmen würde als sinnlos vor sich hin zu vegetieren. Ausgerechnet einer der bedeutendsten katholischen Theologen musste seine Glaubensbrüder daran erinnern, dass eine „Verzweckung des Leidens“ (etwa als Fegefeuer auf Erden) niemals im Sinne einer christlich verstandenen Humanität sein könnte (S. 54). Walter Jens wiederum kleidete sein Entsetzen vor der restriktiven deutschen Gesetzgebung mit der für ihn typischen Emphase in einem republikanischen Aufruf: „Die Dichtung sollte zeigen, anschaulich und präzise, wie Menschen heute verrecken müssen, elend und würdelos, weil über ihrem Bett, unsichtbar… das Bild jenes Adolf Hitler hängt, dessen Aktionen gegen das“ „nicht menschenwerte“ Leben, in Szene gesetzt unter dem Tarn- und Trugwort „Euthanasie“, Jahr für Jahr Millionen von neuen Opfern schaffen, weil wir zu wenig bedenken, dass Mord eines und Selbstbestimmung ein anderes ist. Der Zugriff auf das angeblich nicht menschenwerte Leben hat, man kann es nicht oft genug sagen, mit dem menschenwürdigen Sterben, das von außen nicht oktroyiert, sondern von Individuen, homines vere humani, erwünscht wird, nicht das Geringste zu tun. Es ist sein Gegenteil.“ (S. 123)

Vergleichsweise nüchtern nimmt sich zwei Jahre später die rechtsphilosophische Untersuchung des Philosophen Norbert Hoerster aus, die in bester Aufklärungstradition die Problematik fern jeder weltanschaulichen oder religiösen Aufladung diskutiert, die Perspektive der Opfer stets im Blick. In der unter selbsternannten Lebensschützern immer noch virulenten „Prämisse: es gibt kein sinnloses Leiden; und es gibt erst recht kein – nur noch von sinnlosem Leiden geprägtes – sinnloses Leben“ erkennt er das ungebrochen christliche Motiv aller Polemiken gegen Sterbehilfe, die selbst ausdrückliche Sterbenswünsche luzider Schwerstkranker als Äußerungen nicht zurechnungsfähig Verwirrter verhöhnen. Eine solche Haltung, die in vollendeter Bigotterie vorgibt, sich von Mitleid leiten zu lassen, wo sie nur ihre Glaubensartikel exekutiert, läuft darauf hinaus, die Schwächsten der Gesellschaft als Kanonenfutter in einem letztlich verlorenen Kulturkampf zu missbrauchen. In Hoersters Worten: „Jenen Einfluss auf die Rechtsgestaltung in unserer Gesellschaft, den die Kirchen inzwischen in der Sexualmoral vollkommen und in der Abtreibungsmoral weitgehend verloren haben, können sie in der Sterbemoral derzeit noch erfolgreich behaupten.“ (S. 161f.) Gegen Küngs Versuch, dieser durch eine radikale Umdeutung (die von offizieller Seite erwartungsgemäß mit Unverständnis quittiert wurde) einen Rest an Glaubwürdigkeit zu retten, formuliert Hoerster an die Adresse des Gesetzgebers die unmissverständliche Forderung, „in einem religiös neutralen Staat den Anhängern beider Sichtweisen uneingeschränkt die Möglichkeit einzuräumen, im Einklang mit der eigenen Sichtweise zu leben und zu sterben.“

Seitdem haben sich viele Philosophen, Soziologen und Intellektuelle unterschiedlichster Couleur zu Wort gemeldet, um gemeinsam mit Journalisten und Palliativmedizinern den von Küng und Jens angemahnten Bewusstseinswandel voranzutreiben (ohne den selbst moderate Gesetzgebungsänderungen wie sie Hoerster am Schluss seines Bandes entwirft, nicht einmal ernst genommen würden). Sie kommen – soviel sei vorweggenommen – in differenzierten Analysen und engagierten Stellungnahmen fast durchgehend (bis auf ewiggestrige Moraltheologen wie Robert Spaemann) zum Ergebnis, dass es höchste Zeit ist, 1. die rechtlichen und definitorischen Grauzonen zwischen aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe sowie terminaler Sedierung dem Stand des heutigen Wissens entsprechend aufzuheben; und 2. den assistierten Suizid ebenso wie aktive Eingriffe zur Beendigung eines als unerträglich empfundenen Lebens, so sie im Einverständnis mit den Patienten stattfinden, vollständig und eindeutig zu legalisieren, um Betroffenen, Angehörigen, Pflegern und Ärzten in dieser schwierigsten Entscheidung ihres Lebens Rechtssicherheit zu verschaffen.

Die Reaktionen der Politik und mit ihr paktierender Verbandseliten sind trotz der Einberufung eines Ethikrates mehr als dürftig geblieben. Als verfrüht sollte sich der vorsichtige Optimismus des Philosophen Klaus-Michael Kodalle erweisen, der noch 2003 angesichts der Debatte um die Liberalisierung der Sterbehilfe in den Niederlanden unter dem Titel Ein Tabu bröckelt „deutliche Hinweise auf einen Paradigmenwechsel“ zu sammeln begann.[4] Selbst die Anerkennung des in Patientenverfügungen fixierten Selbstbestimmungsrechts von Sterbenden war jahrelang strittig, bis ein Urteil des Bundesgerichtshofs 2010 für Klarheit sorgte. Rechtsverbindlich wird darin erstmals festgehalten, dass sowohl ein zum Tode führender medizinischer Behandlungsabbruch als auch die zum Tode führende Unterlassung einer Behandlung als straffrei zu gelten haben, sofern dieses Vorgehen dem expliziten, schriftlich niedergelegten oder dem mutmaßlichen, aus mündlichen Äußerungen rekonstruierten Willen des Patienten entspricht. Ein Urteil mit Gesetzeskraft, kein Gesetz. Aber eine denkbar günstige Vorlage für den Gesetzgeber, endlich den in der Praxis nicht durchzuhaltenden Unterschied zwischen solch „passiver“ Sterbehilfe und ihrer „aktiven“, als „Tötung auf Verlangen“ dämonisierten und verbotenen Variante (§ 216 StGB) aufzuheben.

Diese Problematik hat Deutschlands führender Thanatosoziologe Klaus Feldmann gründlich untersucht, der zu dem Schluss kommt, dass der für unverzichtbar deklarierte „Unterschied zwischen passiver, indirekter und aktiver Sterbehilfe… sich bei vielen konkreten Entscheidungen und Vollzügen in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Arzt-Patient-Interaktionen als nebensächlich oder unbrauchbar [erweist], da entweder das angeblich notwendige Wissen fehlt oder die organisatorischen und personalen Strukturen den Luxus einer entsprechenden Differenzierung oder „korrekten Entscheidung“ nicht zulassen oder ein erfahrungsbezogenes Expertenwissen das semantische Feld implizit anders strukturiert. Auch von vielen Schwerkranken oder Sterbenden wird diese Unterscheidung in passive, indirekte und aktive Sterbehilfe als unbrauchbar angesehen, da sie andere semantische und pragmatische Feldgestaltungen der Sterbehilfe für sinnvoll halten, die – in den wenigen Fällen, in denen sie offengelegt werden – vom Kontrollpersonal für nicht legitim und nebensächlich erklärt werden.“

Wer Feldmanns beeindruckende Fülle an Analysen, Kommentaren und Materialsammlungen im Internet aufsucht[5], kann sich leicht davon überzeugen, dass es in dieser Frage keinen Argumentationsbedarf mehr gibt und es lediglich am politischen Willen fehlt, diesem Wissensstand weltanschuungsneutral mit einer neuen Gesetzesgebung gerecht zu werden.

Stattdessen wurde 2011 vom neuen Bundesärztekammerpräsidenten (Montgomery) durchgesetzt, dass Ärzten die – strafrechtlich unbedenkliche – Suizidassistenz berufsrechtlich untersagt wird; und nun soll, der erklärten Absicht des neuen Gesundheitsministers (CDU, was sonst) zufolge, die kommerzielle Suizidbeihilfe verboten werden (als § 217 StGB geplant), wie sie etwa von den Schweizer Sterbehilfeorganisationen in geringfügigem Maße (73 Fälle im Jahresdurchschnitt) auch in Deutschland praktiziert wird.

Ein solches Verbot von Sterbehilfeorganisationen würde praktisch jede Form der Suizidassistenz unterbinden, solange Ärzte dabei ihre Approbation riskieren und Angehörige keine Möglichkeiten haben, sich die nötigen letalen Substanzen zu beschaffen. Ohnehin beinhaltet die derzeitige Regelung ein zynisches Verständnis von „Assistenz“, das Begleiter zwingt, den Sterbewilligen ausgerechnet in seinen letzten Augenblicken alleine zu lassen, weil sie ansonsten ihre „Garantenpflicht“ verletzen, die verlangt, sofort einzuschreiten, wenn der Todeskampf einsetzt (und wofür sie bei Unterlassung entweder nach § 13 und 212 StGB oder wegen „unterlassener Hilfeleistung“ nach § 323c StGB strafrechtlich verfolgt werden). Ein bezeichnendes Detail, das den anhaltenden Einfluss einer Gesinnung verrät, die Suizidanten im Grunde für Frevler hält, die für ihren Eigensinn noch in den letzten Atemzügen zu büßen haben.

An dieser Situation wird auch der soeben vorgestellte neue Gesetzvorschlag Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge zum Leben[6] nicht viel ändern, das deutet bereits der Spagat im Titel an, dessen verzagte zweite Hälfte die mutige erste revoziert. Auf der einen Seite führt die Begründung der Initiative sehr viele und gute Argumente gegen eine Beibehaltung oder gar Verschärfung der gegenwärtigen Rechtslage an; doch ohne eine ideologiekritische Gesamtperspektive fallen die Konsequenzen für eine Gesetzesalternative mehr als bescheiden aus: Lediglich die Stellung des Arztes wird juristisch gefestigt, sein Eingreifen unter strengsten Auflagen erlaubt und standesrechtliche Verbote für verfassungswidrig erklärt. Dass Angehörigen und Nahestehenden ebenfalls Straffreiheit bei der Beihilfe zum Suizid gewährt werden soll, bleibt solange Augenwischerei wie ihnen – und schlimmer noch: den Betroffenen selbst – der Zugang zu entsprechenden Medikamenten verwehrt wird. Das ist schon deshalb absurd, weil rund eine halbe Million Personen in Deutschland (Mediziner, Pharmakologen, Chemiker, Biologen) problemlos an alle nötigen Substanzen gelangen und dieses Privileg gegen das Grundrecht auf Gleichbehandlung verstößt. An der Situation jener, die nicht selbst Hand an sich legen können, soll sich nichts ändern, das realitätsfremde Tabu der „Tötung auf Verlangen“ wird nicht angerührt.

Um ihrem Vorhaben die nötige Zustimmung zu sichern, scheuen sich konservative „Lebensschützer“ in und außerhalb der Parteien nicht, die Öffentlichkeit demagogisch zu manipulieren. Unablässig bemühen sie (das sind: Regierung, Ärztekammer, Bischofskonferenz, Lebensrecht-, Patientenschutz- und Hospizvereine) das „Gewerbsmäßige“ und „planmäßig Organisierte“ der „Förderung zur Selbsttötung“ zur Charakterisierung der Arbeit von Sterbehilfeorganisationen. Das sind gleich drei verlogene, bewusst irreführende und diffamatorische Unterstellungen. Denn erstens rührt niemand, zumal in Deutschland, einen Finger, ohne sich dafür bezahlen zu lassen, am allerwenigsten Pflegekräfte, Ärzte und Hospizbetreiber. Und dafür, dass die Schweizer Vereine Exit und Dignitas sich durch ihre Dienstleistungen „bereichern“ würden, gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt. Es ist ihnen sogar per Statut verboten.[7] Der Vorwurf der Geschäftemacherei dürfte wohl nichts als die Projektion derer sein, die anderen zutrauen, wozu sie selbst tendieren.

Zweitens soll das „Planmäßige und Organisierte“ im Zusammenhang mit Euthanasie wiederum, wenn auch subtiler als früher, die Nähe zu den Nazi-Verbrechen suggerieren. Das ist schon deshalb hirnrissig, weil es, zumal in Deutschland, vom Frühstücksei über den Kinobesuch bis zur Liebesnacht nichts gibt, was nicht planmäßig organisiert würde. Drittens schließlich das Highlight paternalistischer Ideologie: die Behauptung, viele Sterbewillige seien bloß falsch beraten worden über die Möglichkeiten von Hospizen oder palliativmedizinischer Versorgung oder sie seien schlicht depressiv und würden schon durch das bloße Angebot der Sterbehelfer derart unter Druck geraten, dass sie, obwohl noch unentschlossen, im Grunde gegen ihren Willen, sich für ein vorzeitiges Ende entscheiden. Also entweder hängt der Mensch mit allen Fasern am Leben, ganz gleich als wie elend oder schmerzlich, sinnlos oder würdelos es empfunden wird (wie die Lebensschützer immer behaupten): dann kann man ihm den Suizid auch nicht aufdrängen (was auch kein professioneller Begleiter tut). Oder man kann es jemandem einreden und dann stimmt die Prämisse nicht, auf die sie ihre ganze Gegenaufklärung und die scheinheilige Autorität des „Wir-wissen-am-besten-was-für-euch-gut-ist“ stützen.

Dass die öffentliche Meinung mit propagandistischen Tricks manipuliert wird, ist die eine Sache. Im Zeitalter des Internets werden solche Betrugsmanöver schnell durchschaut. Gravierender ist die demokratiehistorisch beispiellose Chuzpe, mit der seit Jahrzehnten das Votum nicht nur der klügsten Köpfe im Lande, sondern der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung ignoriert wird, die eine Legalisierung aktiver Sterbehilfe etwa nach niederländischem Modell ebenso befürwortet (66 Prozent) wie die Zulassung von Sterbehilfeorganisationen und damit des assistierten Suizids (72 Prozent).[8] Ungerührt lautet die Durchsage des diensthabenden konservativen Machtkartells nach wie vor: Wie, wann und wo gestorben wird; was Schmerz ist und was Würde; wer helfen darf und wer nicht, welche Pharmaka zulässig sind, das bestimmen wir. Basta. Dass sich solche Arroganz bislang ohne nennenswerten Widerstand durchsetzen konnte, liegt zum einen daran, dass existenziell bedeutsame Fragen, die den Persönlichkeitskern von Individuen betreffen, der lautstarken und kollektiv verbindlichen Artikulation ebenso widerstreben wie der Organisation ihrer Rechtsansprüche. Dann ist die Gefahr besonders groß, dass die Mehrheit der Bevölkerung Opfer einer geschickt von pressure groups geschraubten Schweigespirale wird. Hinzu kommt, dass die meisten Kritiker sich den Rahmen der Auseinandersetzung von den offiziellen Verlautbarungen der Meinungsfunktionäre ebenso haben vorgeben lassen wie das diskursive Instrumentarium, mit dem sie geführt wird. So haben sie sich im Gewirr von juristischen Spitzfindigkeiten, medizinischen Indikationen, theologischen Bedenken, ökonomischen Evaluationen, demografischen Prognosen und politikstrategischem Kompetenzgerangel verheddert und das Steuerungssystem vor lauter Schaltkreisen aus dem Blick verloren. Stellen wir also die Systemfrage. Genau besehen sind es sogar mehrere Systemfragen. Aber der Reihe nach.

II. In wessen Namen?

Wie soll das Einmalige, Persönliche, Nichtübertragbare und nur sehr begrenzt Kommunizierbare des individuellen Sterbens – etwas das es per definitionem nicht im Plural geben kann – von Parlamentariern stellvertretend diskutiert, normiert und per Gesetzeskraft einer ganzen Bevölkerung als Verhaltensmaßregel verordnet werden? Wenn der Vorgang, der mit dem Tod eines Individuums endet, nicht übertragbar, nicht delegierbar, nicht repräsentierbar ist; wenn das Sterben des Einzelnen die tragische, weder reflexiv einholbare noch normativ regelbare Apotheose der Individualität ist, wenn es weder eine Gemeinschaft, noch eine Gesellschaft oder gar ein Volk von Sterbenden gibt: dann kann es auch keine demokratisch legitimierte Vertretung dieser anomischen Wesen par excellence geben, die ohnehin den Gesellschaftsvertrag bereits gekündigt haben und sich auf dem Weg aus allen lebensweltlichen Bezügen hinaus befinden. Dass diese Phase der verlöschenden Existenz meistens von anderen Personen und Institutionen begleitet wird, ändert nichts daran, dass mittelbar oder unmittelbar Beteiligte oder Betroffene – Verwandte, Freunde, Ärzte, Pfleger, Betreuer, Notare, Priester, et cetera – zusammen genommen weder ein Kollektiv noch eine Interessengruppe des Sterbenden oder um ihn herum bilden (bei großen Erbschaften entstehen oft eher in eigener Sache konkurrierende Interessengruppen), die parlamentarisch vertreten werden könnte. Seine liminale Einsamkeit kann allenfalls gelindert werden durch Liebende oder intime Freunde, sie kann nicht rechtsförmig assoziiert und damit zum Gegenstand normativ in das Geschehen eingreifender Entscheidungen des Gesetzgebers objektiviert werden.

Diesem Dilemma scheint die Parlamentsordnung Rechnung zu tragen, indem sie für solche, die Persönlichkeitsrechte betreffenden Fragen den – im übrigen (laut Art. 38 GG) eindeutig verfassungswidrigen – Fraktionszwang aufhebt und die Abgeordneten anhält, endlich das zu tun, was sie eigentlich immer tun müssten, nämlich allein nach ihrem Gewissen zu entscheiden. Doch der Schein trügt. Das Pathos, von dem diese gönnerhafte Freistellung begleitet wird, das gleichsam rituell signalisieren soll, hier geht“s ans Eingemachte, täuscht darüber hinweg, dass derart ungewohnt in Selbstverantwortung entlassene Mandatsträger sich ermutigt fühlen können, ihren Verstand – ihren „profunden Sachverstand“ (Willemsen) – auszuschalten, um Erfahrungen mit dem Tod Nahestehender zur Richtschnur ihres Votums zu machen.

Die Gefahr droht, dass dann der „innere Gerichtshof“ (Kant über das Gewissen) mit seinen „bipolaren“ Zerreißproben zwischen normativen und emotionalen Ansprüchen[9] zum inneren Stammtisch mit seinem vorreflexiven Gebräu aus Lebensweisheiten, Bauchgefühl und Empörungsfermenten verkommt.

Nun kann man mit dem Philosophen Jean-Pierre Wils grundsätzlich die Möglichkeit anzweifeln, sich Sterbenden gegenüber weltanschaulich neutral zu verhalten. Weltanschauung definiert Wils als Zusammenspiel von 1. umfassendem Wissen, 2. moralischer Bewertung dieses Wissens und 3. Setzung von existenziell sinnhaften Zielen und Zwecken. Neutralität ist nicht möglich, „solange wir moralische Fragen existenzialisieren“ und sie „mit einer Hypothek „letzter“ Fragen (und Antworten) belegen, die moralische Konflikte unlösbar machen.“[10] Und Wils erinnert daran, dass die verfassungsrechtlich verankerte Glaubens- und Gewissensfreiheit (GG Art. 4,1) sowie das Diskriminierungsverbot (GG Art. 3,3) eine Pflicht des Staates begründen, weltanschauliche Neutralität zu garantieren. Man fragt sich, wo diese Garantie angesichts der kirchengesteuerten Betonköpfe der C-Parteien jemals eingelöst worden wäre. Doch mit ihr steht und fällt die Legitimation von Demokratie schlechthin. In den Worten des amerikanischen Rechtsphilosophen Ronald Dworkin: „Darauf zu bestehen, dass ein Mensch auf eine Art und Weise stirbt, die nach Meinung anderer richtig ist, für ihn selbst jedoch in einem gravierenden Widerspruch zu seinem Leben steht, ist eine Form menschenverachtender Tyrannei.“[11] Das Problem, soviel ist deutlich geworden, wird durch die Gewissensentscheidung nicht gelöst, nur verschoben. Zurück auf Los.

Mit welchem Recht maßen sich Parlamentarier an, ausgerechnet das persönliche Sterben, die inkommensurable Erfahrung schlechthin normativ zu regulieren? Das ist so, als wolle man das Sexualverhalten oder die Sprechweise von achtzig Millionen Individuen standardisieren. Das Selbstbestimmungsrecht verbietet solche Übergriffe, solange niemand durch das jeweilige Verhalten der Einzelnen geschädigt wird. dass Art. 2 des Grundgesetzes („Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“) bislang nur für die Selbstbestimmung der eigenen sexuellen Vorlieben und die Verfügung über persönliche Daten reklamiert wird, jedoch nicht für den eigenen Modus moriendi, ist juristisch nicht erklärbar, zumal derselbe Artikel auch das „Recht auf körperliche Unversehrtheit“ kodifiziert, das Patienten die Letztentscheidungsbefugnis im Umgang mit dem eigenen Körper überlässt. Dieses eklatante Defizit verdankt sich allein weltanschaulichen Optionen und kann jederzeit verfassungskonform revidiert werden. Dass dies bislang ausgeblieben ist, heißt nicht, dass es an den juristischen Personen fehlt, die dieses Recht gern durch ein höchstinstanzliches Urteil ein für allemal festgeschrieben sehen möchten. Längst würden massenhaft Verfassungsbeschwerden geführt wegen der Verletzung des Selbstbestimmungsrechts, wären die unmittelbar Betroffenen, die klagen dürften, auch dazu in der Lage. Doch Schwerkranke, Hochbetagte und Sterbende haben bekanntlich weder Kraft noch Zeit und meist auch nicht die Mittel, ein aufwendiges und langwieriges Verfahren durchzustehen.

Andererseits: warum sollten Menschen selbstbestimmt sterben, die ihr Leben lang mindestens politisch und ökonomisch nie etwas anderes als Fremdbestimmung gekannt haben? Die zum Beispiel so gutgläubig waren, lebenslang die Wahrnehmung ihrer Rechtsansprüche und Bedürfnisse, die Artikulation ihrer Wünsche, Hoffnungen und Erwartungen an Emissäre zu delegieren, die, einmal etabliert, ohnehin machen, was ihnen je nachdem die Fraktion, das Kabinett, die Interessenverbände oder ihr sakrosanktes Gewissen („da lasse ich mir von niemandem reinreden“) diktiert? Und zwar unbeeindruckt davon, dass immer mehr potenzielle Wähler die von Journalisten unermüdlich beknieten Kategorienfetische „Vertretung“, „Mandat“ „nicht weisungsgebunden“, „souverän“ nur noch als Synonyme für Bevormundung, Entrechtung oder Verrat empfinden. Hierzu noch ein aktuelles Beispiel, federführend wieder die CDU: die Aufhebung der Rezeptpflicht für die Pille danach. Wieder wurden ein Ausschuss einberufen, Sachverständige gehört, ihre positive Empfehlung zur Kenntnis genommen – und einfach ignoriert. Wieder gegen die breite Zustimmung der Bevölkerung, die fast einhellige Kritik in den Medien und ermutigende Vergleichsdaten aus europäischen Nachbarländern. Dasselbe gilt für die Liberalisierung des Cannabis-Konsums (ich komme darauf zurück).[12] Naiv könnte man fragen: was ist das für ein Volk, das sich ständig Vertreter wählt, die seinen Willen ignorieren? Kriegen die Leute in der Wahlkabine Angst vor ihrem besseren Wissen? Angst vor dem Neuen? „Angst vor der Freiheit“ (Thomas Szasz)? Oder sind die Kandidaten Meister im Simulieren wahltaktisch attraktiver Profile, die sie später in den Gremien und Separés der Macht notorisch verleugnen? Mit Giorgio Agamben könnte man gelassen konstatieren, dass dieses System von Anbeginn daran krankte, dass in ihm zwei „heterogene Elemente, die sich gegenseitig legitimieren und stützen“ zusammengeführt wurden: eine Verfassungsform und eine Regierungstechnik.[13] Die Vermittlung ihrer jeweils unterschiedlichen „Rationalitäten“ erscheint seit der Finanzkrise weniger denn je als selbstverständlich, vielleicht sogar unmöglich. Die beunruhigende Frage ist dann, wie lange die ökonomisch reduzierte Rationalität des Regierungshandelns es sich leisten kann, gegen den impliziten Auftrag der Verfassungsgrundsätze zu agieren.

Doch zurück zum Kern des Problems. Eine zufällige Ansammlung von Individuen, die ich nicht kenne, soll am Ende eines Prozedere, an dem ich nicht beteiligt bin, darüber entscheiden, wie lange ich in völliger Abhängigkeit von mich umgebenden Personen Schmerzen und Siechtum zu erleiden, welchen moralischen Wert ich diesem Zustand beizumessen habe und wie lange mein Todeskampf schließlich dauern soll. Angeblich wurde die Folter im Namen der Menschenwürde abgeschafft. Hier wird sie massenhaft, praktisch auf nahezu die gesamte Bevölkerung, die nicht das Glück hat, vom Blitzschlag eines Herzinfarkts oder Autounfalls in Sekundenbruchteilen aus dem Leben gerissen zu werden, angewandt. Ausgenommen natürlich die Politiker selbst und andere sogenannte Eliten, die über genügend Prominenz, Geld und Kontakte verfügen, sich bei Bedarf jene pharmakologische und logistische Hilfe zu organisieren, die sie dem gemeinen Volk verweigern.

Tatsache ist: Jene, die vermessen genug sind, im Parlament darüber zu entscheiden, wie (unter welchen Bedingungen, wann) rechtens gestorben werden darf, werden mit ihren Luxuspensionen niemals ein Pflegeheim von innen sehen; sie werden nie erleben, wie es ist, monatelang in winzigen, anonymen Zellen eingesperrt zu sein, mit Insassen, deren Nähe sie freiwillig nie gesucht hätten, zwangsfixiert, zwangsernährt, zwangssediert und von Druckgeschwüren gepeinigt eine Schrumpfexistenz von geradezu Beckettschem Ausmaß zu fristen. Entweder sie entscheiden sich, den ungeheuren Reichtum, der in dieser Gesellschaft akkumuliert worden ist, so abzuschöpfen und in geeignete Projekte zu investieren,[14] dass für alle Alten, Gebrechlichen und Kranken ein Lebensende in Würde (zu Hause, in Wohngemeinschaften, et cetera) möglich wird – oder sie geben jede Form der Sterbehilfe für Schwerkranke, Behinderte und generell Sterbewillige ab dem 50. Lebensjahr frei. Alles andere wäre feige, unwürdige, pseudodemokratische Kompromisslerei – oder business as usual.

Das sei pure Polemik? Maßlos übertrieben? Panikmache? Laut einer neuen Umfrage (Patientenschutzbund 2014) würden 50 Prozent (sic!) der Deutschen die Einschläferung durch einen Arzt der Einweisung in ein Pflegeheim vorziehen. Das ist das Resultat von chronischem Mandatsmissbrauch; das ist in praxi millionenfach unterlassene Hilfeleistung. Unter allen Fällen von Elitenversagen in Tateinheit mit Empathieversagen sicher der unrühmlichste. Kann es unter diesen Umständen überhaupt ein anderes selbstbestimmtes Leben geben als im Stande zivilen Ungehorsams?[15] Wäre nicht ziviler Ungehorsam der erste, unerlässliche Schritt zur Selbstbestimmung, etwa dergestalt, dass man sich nicht länger vom Staat vorschreiben lässt, welche Substanzen man für das eigene Wohlergehen, zur Schmerzbekämpfung oder zur Sterbenserleichterung einnehmen darf?

Gäbe es eine Gemeinschaft der Sterbenden, ein Sterbevolk oder eine Sterbepartei, die das Unmögliche, das Gemeinsame am Willen aller Sterbenden artikulieren, im Namen eines „Wir“ aussprechen könnte, dann lautete ihre Botschaft an Parlament, Regierung, Ärztekammer und Kirchenverbände ganz klar: Wir wollen nicht, dass ihr euch einmischt! Und programmatischer: Wir wollen, dass ihr euch nicht mehr einmischt und vergangene, verfassungswidrige Reglementierungen wieder rückgängig macht. Hört auf, euch die Autorenschaft für das letzte Kapitel unseres Lebens anzumaßen! Das ist weit schlimmer als Plagiat, das ist Persönlichkeitsenteignung! Hört endlich auf, Sterbewillige zu entmündigen und ihnen die nötigen Medikamente für ein sanftes Entschwinden zum selbst gewählten Zeitpunkt vorzuenthalten! Das ist staatlich verordnete Folter! Hört auf, den hirntoten christlich-obrigkeitsstaatlichen Paternalismus künstlich zu beatmen! Niemand hat euch beauftragt, uns unsere grundgesetzlich garantierten Rechte vorzuenthalten! In unserem Namen sprecht ihr nicht!

Zu Teil 2 des Essays.
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[1] Dt. 1971 unter dem Titel Interviews mit Sterbenden.

[2] Als frühes Zeugnis des angesprochenen Paradigmenwechsels darf Hans Jonas“ Essay „The Right to Die“ (1978) gelten, das wiederabgedruckt wurde in „Technik, Medizin und Ethik“. Frankfurt/M 1985.

[3] Eine Übersicht zu den Debatten der ersten Hälfte der neunziger Jahre, die vor allem von Peter Singers euphemistisch als „Praktische Ethik“ lancierten Provokationen entzündet wurden, gibt Andreas Kuhlmann in seinem Sterbehilfe-special (Reinbek 1995). Im gleichen Jahr erscheint unter soziologischer Federführung der erste multidisziplinäre Diskussionsband: „Der Tod ist ein Problem der Lebenden“, hrsg. von Klaus Feldmann und Werner Fuchs-Heinritz (Frankfurt a.M.).

[4] Klaus-Michael Kodalle (Hg.): „Das Recht auf ein Sterben in Würde“, Würzburg 2003, S. 11f..

[5] http://www.feldmann-k.de/texte/thanatosoziologie/articles/diskurs-um-die-aktive-sterbehilfe-und-beihilfe-zum-suizid.html

[6] Vorgestellt von Gian Domenico Borasio, Ralf J. Jox, Jochen Taupitz und Urban Wiesing. Stgt. 2014.

[7] Lesenswert hierzu – trotz des reißerischen Titels – der Bericht von Svenja Flaßpöhler Mein Tod gehört mir, München 2013.

[8] YouGov-Umfrage für Zeit-Online vom 21.1.2014. Bezeichnendes Detail: Mit dem Alter steigt die Zustimmung.

[9] Vgl. Hans-Dieter Kittsteiner, Die Entstehung des Gewissens, Frankfurt/M 1991.

[10] Jean-Pierre Wils, Ars moriendi. Frankfurt/M 2007, S. 47.

[11] Ronald Dworkin, Die Grenzen des Lebens, Reinbek 1994, S. 301. Dworkins radikaldemokratische Streitschrift ist auch heute noch grundlegend für alle Diskussionen über das Selbstbestimmungsrecht am Lebensanfang und Lebensende.

[12] Müßig zu erwähnen, dass auf diesem Feld sich wiederholt, was mit dem Freihandelsabkommen und allen Aktivitäten zur Demontage des Sozialstaats, insbesondere der Privatisierung von Energie und Infrastruktur passiert.

[13] Demokratie? Eine Debatte. Mit Beiträgen von Giorgio Agamben, Jean-Luc Nancy u.a.. Berlin 2012.

[14] Vorschläge zum Beispiel bei Michael de Ridder, Wie wollen wir sterben? München 2010, S. 87-91; oder Gernot Böhme (Hg.): Pflegenotstand: der humane Rest. Bielefeld 2014.

[15] Eine leidenschaftliche Verteidigung des Rechts auf zivilen Ungehorsam wiederum bei Ronald Dworkin: Bürgerrechte ernstgenommen. Frankfurt/M 1984.

Mai 2022 | In Arbeit | Kommentieren

PRESSESCHAU VOM 04. MAI 2022 MIT DIESEN DEBATTEN:

Frauen demonstrieren am 3. Mai 2022 in Texas für das Recht auf Abtreibung. (© picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Eric Gay)
Frauen demonstrieren am 3. Mai 2022 in Texas für das Recht auf Abtreibung. (© picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Eric Gay)
USA: Kippt Gerichtshof das Recht auf Abtreibung?

Laut der US-Tageszeitung Politico droht in den USA das Ende des Rechts auf Abtreibung. Eine Mehrheit der Richterinnen und Richter des Obersten Gerichtshofes soll einen entsprechenden Entwurf erstellt haben. Ein Grundsatzurteil von 1973, das Frauen das Recht zusprach, selbst über Abbruch oder Fortführung einer Schwangerschaft zu entscheiden, würde damit gekippt. Wie nimmt die europäische Presse Stellung?

THE GUARDIAN (GB)

Eine Katastrophe für Frauen

Sollte das Recht auf Abtreibung vom Supreme Court gekippt werden, wäre das desaströs, glaubt The Guardian:

„Eine solche Entscheidung wird Frauen dazu zwingen, in einem Land mit hoher Müttersterblichkeit und ohne bezahlten Mutterschaftsurlaub zu gebären. Sie wird Leben gefährden, wenn illegale Abtreibungen herangezogen werden. Sie wird gefährdete Frauen und diejenigen, die ihnen helfen wollen (und sogar diejenigen, die Fehlgeburten haben) mit Kriminalisierung drohen. Sie wird noch mehr Kinder in die Armut treiben. … Außerdem stellt die Entscheidung andere etablierte Rechte in Frage, wie beispielsweise auch das der gleichgeschlechtlichen Ehe, das ebenfalls im Recht auf Schutz der Privatsphäre verankert ist. “

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FRANKFURTER RUNDSCHAU (DE)

Hoffentlich ein heilsamer Schock

Ein drohendes Ende des legalen Schwangerschaftsabbruchs in den USA ist für die Frankfurter Rundschau ein Alarmsignal:

„Es verdeutlicht die Macht der gesellschaftlichen Restauration durch ultrakonservativ-religiöse Kreise in Amerika. Vor allem aber entlarvt es, wie die Republikaner im Unterschied zu den Demokraten ihre Ziele vorangetrieben haben. … Was bleibt, ist die Hoffnung auf einen heilsamen Schock. Das Kippen des Abtreibungsrechts könnte eine Gegenbewegung mobilisieren, die bei den Zwischenwahlen im Herbst den drohenden Mehrheitsverlust der Demokraten im Kongress verhindert.“

Karl Doemens
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KURIER (AT)

Schwangerschaftsabbruch wird zur Geldfrage

Der Kurier beklagt die soziale Ungerechtigkeit, die ein solches Urteil brächte:

„Entscheiden die Richter wie befürchtet, dann werden in 26 US-Staaten Abtreibungen mit einem Schlag illegal. Dann müssen Frauen wieder dafür ins Gefängnis, dass sie über ihre Sexualität, über ihren Körper, über ihre Freiheit selbst entscheiden wollen. Dann wird die Kluft zwischen Arm und Reich in den USA noch mehr zementiert: Denn vermögendere Schwangere werden in ihrer Not in Bundesstaaten reisen können, wo Abbrüche noch möglich sind.“

Ingrid Steiner-Gashi
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LA REPUBBLICA (IT)

Der Kreuzzug

Damit wird das Abtreibungsgesetz Hauptthema der Midterm-Wahlen zum US-Kongress im November, glaubt La Repubblica:

„Präsident Joe Biden reagiert kämpferisch. Wenn das Gericht ‚Roe versus Wade‘ [Grundsatzentscheidung zum Recht auf Schwangerschaftsabbruch von 1973] kippt, wird über ein Bundesgesetz zur Abtreibung abgestimmt, das es derzeit nicht gibt. … Die Republikaner setzen darauf, dass die Demütigung der verhassten Feministinnen und der Erfolg der Evangelikalen und der Katholiken die gegen das Zweite Vatikanische Konzil sind, die Wahlurnen füllen werden. Die sechs Monate bis zur Abstimmung werden angesichts der Inflation, der explodierenden Preise und des Krieges in der Ukraine hart sein; der Kreuzzug gegen den Schwangerschaftsabbruch würde sie unerträglich machen“

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Gianni Riotta
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EL PERIÓDICO DE CATALUNYA (ES)

Keine gute Inspiration für Europa

El Periódico de Catalunya fürchtet, der Entwurf könnte bei den extrem rechten Parteien Europas Schule machen:

„Wenn Anti-Abtreibungs-Gesetze verabschiedet werden, dann deshalb, weil zumindest in einigen Bundesstaaten eine Mehrheit, wenn nicht eine gesellschaftliche, so doch eine Wählermehrheit, diese Gesetze unterstützt. … Aus europäischer Sicht wird die Entscheidung der Richter inspirierend sein für die extreme Rechte, die traditionell gegen Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehen und die Regelung der Sterbehilfe ist – die allesamt zur sogenannten Körperpolitik gehören. Die extreme Rechte bekämpft diese seit jeher mit Unterstützung religiöser Fundamentalismen, wie sie in den Vereinigten Staaten weit verbreitet sind. Die Gefahr einer Ansteckung liegt auf der Hand.“

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USA: Kippt Gerichtshof das Recht auf Abtreibung?
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Mai 2022 | In Arbeit | Kommentieren
Mai 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Vergleiche zwischen Weimar-Deutschland und dem heutigen Russland sind schon seit über zwei Jahrzehnten fester Bestandteil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem System Putin.

 

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Apr. 2022 | In Arbeit | Kommentieren
Meist mußten wir Sie in den vergangenen Wochen mit schockierenden Entwicklungen im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine begrüßen, mit einem drohenden Atomkrieg, mit Sorgen um die Demokratie, mit den Krisen in der Welt. Mit Tod, Dunkelheit und Leid.
Zu Recht, weil es natürlich keine Option ist, davor die Augen zu verschließen, wenn sich eine Hiobsbotschaft an die andere reiht.
„Bitte nicht noch eine Krise
Zumindest diese Krise, die die Präsidentschaftswahl ab dem heutigen Tag hätte auslösen können, bleibt Europa und der Welt erspart.
Vorerst zumindest.
Aufatmen ist ein großes Wort, während in der Ukraine der Krieg tobt und täglich Menschen sterben. Ein Moment der Erleichterung ist es dennoch.
Im Kanzleramt. In der Bundesregierung. In Europa. In der EU, der Nato.
Frankreichs alter und neuer Präsident Emmanuel Macron mit seiner Frau Brigitte. (Quelle: Christophe Ena/AP/dpa)
Frankreichs alter und neuer Präsident Emmanuel Macron mit seiner Frau Brigitte
Als Macron um 21.42 Uhr endlich vor seine Anhänger neben dem Eiffelturm trat, kündigte er an: „Diese neue Ära wird nicht die Kontinuität der zu Ende gehenden fünf Regierungsjahre sein. Wir werden anspruchsvoll und ehrgeizig sein müssen. Wir haben so viel zu tun, und der Krieg in der Ukraine ist da, um uns daran zu erinnern, dass wir uns in tragischen Zeiten befinden, in denen Frankreich seinen Weg finden muss.“
Er ist erst der vierte Präsident, dem eine zweite Amtszeit vergönnt ist. Der erste war Charles de Gaulle, der jedoch erst zu seiner zweiten Amtszeit 1969 direkt gewählt wurde. Zwei Mandate erstritten auch der Sozialist François Mitterand (von 1981 bis 1995 im Amt) und der Konservative Jacques Chirac (1995 bis 2007).
Was aber viel wichtiger ist:

Die Bevölkerung hat damit eine politische Katastrophe verhindert – mit Konsequenzen, die mindestens das Verhältnis zu Deutschland sowie die Stabilität in Europa erschüttert hätten und darüber hinaus unabsehbar gewesen wären.

Kämpferisch und gut gelaunt trotz Niederlage: Marine Le Pen. (Quelle: Sarah Meyssonnier/Reuters)
Kämpferisch und gut gelaunt trotz Niederlage: Marine Le Pen.
Macrons Kontrahentin, die Rechtspopulistin Marine Le Pen, wollte die „préférence nationale“ einführen, also Franzosen bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche bevorzugen, Ausländer sogar von Sozialleistungen ausschließen. Geflüchtete sollten kein Asyl mehr beantragen können. All das wäre auf einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz, insbesondere aber auch gegen das Völker- sowie das EU-Recht hinausgelaufen.
„Nur“ ein Rechtsstreit? Ein Zerwürfnis mit den europäischen Bündnispartnern? Sogar ein Austritt aus der EU? Alles wäre möglich gewesen.
Genauso wie eine Kündigung der deutsch-französischen Freundschaft, eine Partnerschaft mit Russland und Ungarn – und wer-weiß-was-noch-alles.
Der Sieg von Macron hingegen ist ein Sieg für Europa

Er wird sich für Stabilität einsetzen, für Reformen, für Investitionen und sich als Anführer Europas inszenieren und damit eine Art Nachfolger von Angela Merkel. Er wird in dieser Rolle auch Druck auf die Bundesregierung ausüben und insbesondere auf Bundeskanzler Olaf Scholz. Da die Amtszeit eines Präsidenten in Frankreich begrenzt ist, ist klar: Macron kann ohne Rücksicht auf eine mögliche Wiederwahl wirken, weil es sie nicht geben wird.


Alles gut also und ein Grund zu frohlocken?

Von wegen. Die Erleichterung ist trügerisch.
Vor fünf Jahren hatte Macron die Stichwahl noch mit 66,1 Prozent gewonnen, während Le Pen bei 33,9 Prozent landete. In diesem Jahr kam Le Pen auf mehr als 40 Prozent, Macron dagegen verlor fast zehn Prozent.
Von Sorgen, Problemen und Gefahren können wir Sie deshalb leider auch heute nicht verschonen. Und das erkennen Sie schon daran, dass ein gewichtiger Teil der Macron-Wähler den alten und neuen Präsidenten nicht gewählt hat, weil er von ihm überzeugt ist. Mit seiner Arroganz und auch Passivität im Wahlkampf hat Macron für viel Unmut gesorgt.
Viele Wähler haben ihn also auch gewählt, um die Rechtspopulistin Le Pen zu verhindern.Fast 40 Prozent derjenigen, die bei der Stichwahl für ihn stimmen wollten, gaben in einer Vorwahlumfrage an, das nur zu tun, um Le Pen als Extreme zu „blockieren“, wie es in Frankreich heißt.
Das Prinzip der Verhinderung oder Vermeidung also.
Auch in Deutschland haben einige die SPD und somit einen Kanzler Olaf Scholz gewählt, um den in Ungnade gefallenen Unionskandidaten Armin Laschet zu verhindern.
Vermeiden oder verhindern?

Das ist fast immer schlecht. Wir kennen das wahrscheinlich alle aus dem Alltag. Wir bleiben mit einer Partnerin oder einem Partner zusammen, damit wir die Einsamkeit vermeiden. Besser wird die Beziehung dadurch nicht. Wir behalten einen langweiligen Beamtenjob, damit wir uns nicht den Risiken des Arbeitsmarktes ausliefern müssen. Dadurch ändert sich natürlich nichts.

Wir fahren in das gleiche mittelmäßige Hotel an der Ostsee, damit wir nicht riskieren, in einem noch mieseren zu landen. Den Urlaub macht das allerdings nicht unbedingt besser. Im Zweifel lassen wir die Post vom Finanzamt aus Angst vor der Steuernachzahlung ungeöffnet. Auch das ist keine wirklich gute Idee.
Der Unterschied zwischen der Partnerwahl auf der einen sowie der Wahl eines Präsidenten in Frankreich auf der anderen Seite ist vor allem: Das eine können wir mit unserem Verhalten direkt beeinflussen – das andere nur bedingt. Wer in Frankreich einfach einen anderen Kandidaten gewählt hat, der dann vor der Stichwahl gescheitert ist, der hat vor allem Pech gehabt. Und bezogen auf Frankreichs Politik letztlich die Wahl zwischen Pest und Cholera, wie es eine der Blockiererinnen der Sorbonne im französischen Fernsehen nannte. Also die Wahl zwischen Macron und Le Pen.
Emmanuel Macron begrüßt eine Wahlhelferin in einem Wahllokal. (Quelle: Gonzalo Fuentes/Pool Reuters/AP/dpa)
Emmanuel Macron begrüßt eine Wahlhelferin in einem Wahllokal.
Die Erleichterung über die Macron-Wahl erstreckt sich deshalb in erster Linie auf die europäischen Partner – und nicht unbedingt auf die gesamte Bevölkerung in Frankreich. Hier drohen die Enttäuschung und der Frust noch weiter zu wachsen, genauso wie die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergehen könnte.
Die wichtigste Erkenntnis für Frankreich ist wohl:

Diese Wahl ist die letzte Warnung. Wenn Macron nicht die Kurve bekommt, er seinen Wunschnachfolger Édouard Philippe in Stellung bringen kann, womöglich neue vielversprechende Kandidaten auftauchen oder eine Reform des Wahlsystems neue Perspektiven schafft, werden die politischen Ränder noch stärker.
Schon im Juni finden die Parlamentswahlen statt

Und bei der nächsten Präsidentschaftswahl in fünf Jahren könnten die Rechtspopulisten Macron den größten Makel beifügen. Und zwar den, dass er ihnen womöglich mit seiner Politik den Weg geebnet hat.

Apr. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Dabei geht es in den Gesprächen um ihr Gehalt um einiges, schließlich ist der Lohn die Gegenleistung für ihre Arbeitsleistung. Steht ihr jährliches Feedback-Gespräch inklusive Gehaltsverhandlung an? Bewerben sie sich gerade für einen neuen Job und müssen ihr Einstiegsgehalt verhandeln? Oder sind sie der Meinung, dass sie in ihrem aktuellen Job zu wenig verdieen? Wir haben die wichtigsten Tipps – und Tricks – für eine erfolgreiche Gehaltsverhandlung für sie zusammengestellt. Für eine perfekte Vorbereitung finden sie am Ende des Artikels auch No-Gos und Fehler in einer Gehaltsverhandlung, die sie unbedingt vermeiden sollten.

Tipp 1: Definieren sie ihr Ziel

Um bei der Gehaltsverhandlung erfolgreich zu sein, solltest du deine Erwartungen möglichst genau definieren. „Was verdiene ich jetzt?“ und „was will ich verdienen?“, „was ist meine Leistung wert?“ und „was waren meine beruflichen Erfolge im Unternehmen?“ sind Fragen, mit denen du dich unbedingt vorher auseinandersetzen solltest. Wenn du geschickt verhandelst, kannst du in der jährlichen Gehaltsverhandlung im bestehenden Job zwischen drei und sieben Prozent rausholen. Hat sich dein Aufgabenbereich erweitert oder steht eine Beförderung an, sind durchaus auch zehn bis 15 Prozent möglich. In der Gehaltsverhandlung um einen neuen Job sollte es ihr Ziel sein, zehn bis 20 Prozent mehr zu verhandeln als im alten Job. Übrigens: In einer Gehaltsverhandlung geben sie immer das Brutto-Jahresgehalt an, das gilt auch für die Verhandlung ihres Wunsch-Einstiegsgehalts für einen neuen Job.

Tipp 2: Setzen sie ihr Gehalt in Relation

Gute Argumente in der Gehaltsverhandlung haben sie auch, wenn sie Bescheid wissen, was andere Unternehmen Fachkräften in ihrer Position und Branche im Durchschnitt bezahlen. Daran können sie ihr Wunschgehalt orientieren und entsprechend verhandeln. Ihr Wunsch nach einer Gehaltserhöhung klingt dann vielleicht schon gar nicht mehr so hoch. Sollte ihr aktuelles Gehalt unter dem Marktwert liegen, muss ihr Unternehmen schon gute Argumente ins Feld führen, um ihnen eine Gehaltserhöhung zu verweigern.

 

 

 

Tipp 3: Ihre Leistung zählt

Während einer Gehaltsverhandlung solltest du deine Leistung für das Unternehmen wasserdicht belegen können, schließlich bedeutet mehr Geld für dich höhere Kosten für das Unternehmen. Aufgrund welcher Leistungen hast du eine Gehaltserhöhung verdient? Wie profitiert dein Unternehmen von deiner Arbeit? Bereite deine Antworten auf diese Fragen gut vor. Sei dir über deine eigenen Stärken und Schwächen bewusst, um besser für eine Diskussion über deinen Mehrwert für das Unternehmen gewappnet zu sein.

Tipp 4: Gib dich nicht einfach mit einem „Nein“ zufrieden

Wenn dein:e Vorgesetzte:r in der Gehaltsverhandlung eine bessere Bezahlung für dich ablehnt, kannst du diese Entscheidung hinterfragen. Experte Christian Richter, XING Coach und Geschäftsführer der Unternehmen Karriereservice.de und select if Personalberatung, rät: „Hinterfrage das „Nein“! Welche Gründe sprechen dagegen? Betreffen diese mich persönlich? Gibt das Gehaltsgefüge nicht mehr her? Liegt es an der Performance des Unternehmens? So kannst du herausfinden, in welchem Maße du überhaupt Einfluss auf eine zukünftige Verbesserung des Gehalts nehmen kannst oder eben auch nicht.“ Dein:e Vorgesetzte:r ist dir Antworten auf diese Fragen schuldig.

Experte Richters zusätzlicher Tipp: „Mit der Frage „was müsste sich denn ändern, damit ich mehr Gehalt bekomme?“ lässt sich der ein oder andere Chef ganz gut aus der Reserve locken. Schließlich muss er dann konkrete Aussagen treffen. Auf diese würde ich bestehen und in einem Gesprächsprotokoll als Zielvereinbarung für eine Gehaltserhöhung festhalten lassen.“

Weitere Tipps, was du tun kannst, wenn du keine Gehaltserhöhung bekommst, erfährst du in unserem Ratgeber zu diesem Thema.

Tipp 5: Unterstreiche in der Gehaltsverhandlung deinen Gehaltswunsch mit deiner Körpersprache

Mit der richtigen Körpersprache kannst du deinem:deiner Vorgesetzten signalisieren, dass du weißt, was du willst und dass dir ein höheres Gehalt zusteht. Experte Christian Richter dazu: „Besonders aggressive oder hektische Gesten solltest du vermeiden. Je mehr Ruhe und Bestimmtheit du ausstrahlst, umso souveräner wirst du wirken. Suche im Gespräch den Blickkontakt zu deinem Gegenüber und baue auch körperlich eine gewisse Nähe auf, indem du dich z. B. seitlich zu deinem:deiner Gesprächspartner:in hinsetzt. Das baut Distanz ab und wirkt weniger konfrontativ.“

Tipp 6: Zeige dich kompromissbereit, aber ausdauernd

Wie der Name schon sagt, ist eine Gehaltsverhandlung eine Verhandlung zwischen Parteien mit unterschiedlichen Interessen. Im besten Fall ist das Ergebnis ein Kompromiss, mit dem alle Beteiligten gut leben können. Bei einer Gehalts- oder Lohnverhandlung kann es sinnvoll sein, dass du dich für den Moment mit einer geringeren Gehaltserhöhung zufrieden gibst oder statt einer Gehaltserhöhung mehr Urlaubstage oder einen anderen Benefit akzeptierst. Du solltest aber signalisieren, dass du in einiger Zeit um eine erneute Überprüfung deiner Leistung und eine neue Gehaltsverhandlung bitten wirst. Wenn du zeigst, dass du ein:e hartnäckige:r Verhandlungspartner:in bist, steigen deine Chancen, dass dir dein:e Arbeitgeber:in bei der nächsten Gehaltsverhandlung entgegenkommt.

Extra Tipps für Frauen!

Lass dich vom Gender Pay Gap nicht verunsichern! Gerade für Frauen können Gehaltsverhandlungen entscheidend sein, um sich für eine faire und angemessene Bezahlung einzusetzen. Wir haben daher einen Ratgeber zusammengestellt, mit dem du dich als Frau perfekt wappnen kannst für die nächste Gehaltsverhandlung.

Diese Fehler solltest du bei einer Gehaltsverhandlung vermeiden

Bei einer Gehaltsverhandlung kommt es darauf an, wie gut du dich und deine Leistung verkaufst und welche Gründe du für eine Gehaltserhöhung ins Feld führst. Bei der Auswahl deiner Argumente solltest du jedoch vorsichtig sein. Folgende Argumente schießen dich eher ins Aus, als dass sie dir bei deiner Gehaltsverhandlung behilflich sind:

„Mehr als die Hälfte meines Gehalts geht für Miete drauf.“

Jammern und aufzählen, wie viel man für die eigenen Lebenshaltungskosten ausgibt – ein absolutes No-Go in jeder Gehaltsverhandlung. Dass dein Kredit für die Hypothek aus allen Nähten platzt, ist deine Privatsache und in einer Lohnverhandlung eher irrelevant. Schließlich wirst du nach deiner Leistung bezahlt und nicht danach, wieviel Geld du für deinen Lebensstandard brauchst.

„Herr Mustermann kann nicht einmal eine Excel-Tabelle richtig erstellen und verdient dennoch mehr als ich.“

Mit solchen Aussagen schwächst du deine eigene Position in der Gehaltsverhandlung. Egal, wie fair oder unfair das Gehalt deiner Kolleg:innen ist – für die Gehaltsverhandlung dürfen Vergleiche mit Kolleg:innen kein Argument sein. Minuspunkte sind so vorprogrammiert. Schließlich geht es um deine Gehaltsverhandlung, nicht um die der anderen Mitarbeiter.

„Bei der Konkurrenz zahlen sie das Doppelte.“

Ein Vergleich mit Konkurrenzunternehmen sorgt für Zweifel beim Gegenüber und lässt die Frage aufkommen: Wie loyal ist der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin?Ihr Chef wird sich von dieser Aussage in deiner Gehaltsverhandlung nicht unter Druck setzen lassen. Die Gefahr besteht, dass du dich mit diesem Argument eher ins Abseits beförderst. Argumentiere lieber mit deinem individuellen Marktwert. Diesen kannst du natürlich herausfinden, indem du durch Bewerbungen eruierst, was andere Unternehmen für deine Leistung bezahlen würden. kununu bietet mit den Gehaltsseiten für Deutschland, Österreich und die Schweiz eine andere Möglichkeit, Durchschnittsgehälter für deinen Beruf in Erfahrung zu bringen.

„Entweder ich bekomme mehr Geld oder ich gehe!“

Dieser Erpressungsversuch kann böse enden. Was machst du, wenn dein Chef auf diese Drohung eingeht? Wie brutal es auch klingen mag, bedenken Sie eins: Niemand ist unersetzbar. Mit diesem Argument signalisieren Sie, dass ihre Motivation im Keller ist. Auch wenn Sie dadurch nicht unbedingt ihren Job verlieren, einen Gesichtsverlust bedeutet das in jedem Fall.

„Meine letzte Gehaltserhöhung ist schon Jahre her!“

Wer so argumentiert, riskiert die Schlussfolgerung des Vorgesetzten, dass offenbar bisher auch kein Grund für eine Lohnerhöhung existierte. Warum sollten Sie genau jetzt mehr Nullen am Konto sehen? Genau hier liegt die Antwort: Sprechen Sie stattdessen wirkliche Gründe an, wieso eine Gehaltserhöhung für Sie längst überfällig ist.

Apr. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

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