Die Inflation in Deutschland hat erstmals seit den Nachkriegsjahren die Marke von 10,0 Prozent erreicht. Jetzt ist auch klar, was besonders teuer geworden ist. Verbraucher können sich für einen Euro immer weniger leisten. Die Verbraucherpreise sprangen im September um 10,0 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat in die Höhe, teilte das Statistische Bundesamt am Morgen in Wiesbaden mit und bestätigte damit seine vorläufige Schätzung. Im August war noch eine Teuerungsrate von 7,9 Prozent verzeichnet worden.

So hoch wie jetzt lag die Inflationsrate im wiedervereinigten Deutschland noch nie. Zwar wurden in den alten Bundesländern Anfang der 1950er-Jahre Raten von zehn Prozent und mehr gemessen; allerdings hat sich die Berechnungsmethode im Laufe der Zeit geändert.

Heizöl mehr als doppelt so teuer

Einmal mehr war der Preisanstieg bei Energieprodukten im September mit einem Plus von 43,9 Prozent binnen Jahresfrist am höchsten. Dabei haben sich die Preise für leichtes Heizöl binnen Jahresfrist mit plus 108,4 Prozent mehr als verdoppelt, die Teuerung für Erdgas betrug 95,1 Prozent.

Für Strom wurden 21,0 Prozent mehr verlangt. „Die Abschaffung der EEG-Umlage seit Juli 2022 federte die Strompreiserhöhung nur leicht ab“, halten die Statistiker fest.

Inflation und teure Energie „Wer soll das bezahlen?“

Die hohen Energiepreise und teure Lebensmittel bringen viele Menschen in akute Existenznöte.

Tanken wieder deutlich teurer

Die Kraftstoffpreise stiegen im Vorjahresvergleich um 30,5 Prozent. Hier machte sich der Wegfall des Tankrabatts bemerkbar: Im Vergleich zum Vormonat August, in dem die Energiesteuer noch um 35 Cent je Liter Benzin und um 17 Cent je Liter Diesel gesenkt wurde, betrug der Preisanstieg bei den Kraftstoffen stolze 12,5 Prozent.

„Das Auslaufen der abgesenkten Mineralölsteuer dürfte jedoch nur ein Grund für die kräftige Preiserhöhung bei Kraftstoffen sein“, so das Statistische Bundesamt. „Ursachen für die teuren Energieprodukte sind insbesondere sowohl die starken Anstiege der internationalen Einkaufspreise“ als auch steigende Spritpreise: Diesel-Kraftstoff 11 Cent teurer…

ÖPNV mit drastischem Preissprung

Sprunghaft erhöhten sich derweil auch die Preise für die Tickets der Bahn im Nahverkehr – plus 82,5 Prozent im Vergleich zum August. Beim kombinierten Personenverkehr belief sich der Preisanstieg sogar auf ein Plus von 175,3 Prozent. Das Auslaufen des 9-Euro-Tickets spiegelt sich in diesen Zahlen eindrücklich wider.

Verkehrsminister beraten: Nachfolger für das 9-Euro-Ticket gesucht

Bund und Länder haben sich grundsätzlich auf einen Nachfolger für das 9-Euro-Ticket verständigt. Aber wer zahlt?

Preisauftrieb bei Nahrungsmitteln beschleunigt sich

Auch die Preise für Nahrungsmittel stiegen im September deutlich stärker als die Gesamtteuerung: Der Preisauftrieb lag hier bei 18,7 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat und hat sich damit nochmals beschleunigt. Im August hatte das Plus noch 16,6 Prozent betragen. Seit Jahresbeginn habe sich der Preisauftrieb bei Nahrungsmitteln sukzessive verstärkt, halten die Statistiker fest.

Am stärksten stiegen die Preise für Speisefette und Speiseöle (plus 49,0 Prozent) sowie für Molkereiprodukte und Eier (plus 29,1 Prozent). Aber auch für Fleisch und Fleischwaren (plus 19,5 Prozent) sowie für Brot und Getreideerzeugnisse erhöhten sich die Preise für Verbraucher spürbar.

Wegen hoher Energiepreise Historischer Verlust an Kaufkraft erwartet

Wegen hoher Energiepreise: Die Kaufkraft der privaten Haushalte steht vor einem historischen Einbruch.

Kaufkraft der Deutschen sinkt rapide

Die hohen Preise schmälern die Kaufkraft der Verbraucher, diese können sich für einen Euro weniger leisten. Den privaten Haushalten in Deutschland droht angesichts der anhaltend hohen Inflation ein empfindlicher Verlust an Wohlstand.

Die Experten des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW) rechnen damit, dass die Kaufkraft der Bundesbürger im kommenden Jahr um 4,1 Prozent einbricht – und damit so stark wie noch nie im wiedervereinigten Deutschland.
Das ließe in der Folge den privaten Konsum bis weit ins kommende Jahr hinein schrumpfen.

 

Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Man kennt das Bild; so schmählich, so schmachvoll. Gealterte Schauspieler: Die Augen erloschen, haschen sie nach den spärlich applaudierenden Händen, der Rücken will sich nicht mehr beugen, doch man meint, sie leckten vom Bühnenboden noch den letzten fahlen Schein des ausblendenden Scheinwerferlichts auf.

Quälende Erinnerung an den herrlichen Theatermagier Minetti, der seinen Text vergessen hat. An die androgyne Celluloid-Fee Marlene Dietrich, die im schauerlichen „Gigolo“-Film eine Karikatur ihrer selbst bot und nur am einst berühmten Piano lehnend sich noch aufrecht halten konnte. Faltige Münder, die den allerletzten Beifall aufschlabbern.
Aufhören zur rechten Zeit muss sehr schwer sein – ist schwer!

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Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren
Die chinesische Videoplattform TikTok setzt in Deutschland systematisch Wortfilter ein. Mindestens 20 Wörter verhindern, dass Kommentare öffentlich erscheinen, wie eine neue Recherche zeigt. Die Nutzer erfahren davon nichts.

Kurze Videos von Gesangs- und Tanzeinlagen haben die Social-Media-App TikTok berühmt gemacht. Heute sind auf der Plattform Nachrichtenclips zu aktuellen Ereignissen gleichermaßen präsent wie Kochvideos oder Aufnahmen über den Angriffskrieg gegen die Ukraine. Das Unternehmen hat damit Erfolg. In Deutschland nutzt bereits die Hälfte der 12- bis 19-Jährigen TikTok regelmäßig, bei den 20- bis 29-Jährigen ist es knapp ein Drittel.

Recherchen von NDR, WDR und tagesschau legen nun offen, dass der Konzern offenbar mindestens 20 Wörter über automatisierte Filter zurückhält. Kommentare, die einen dieser Begriffe enthalten, erschienen in mindestens vier Versuchen von unterschiedlichen Testaccounts nicht öffentlich unter den Videos. Getestet wurden insgesamt 70 Wörter und Wortkombinationen.

Da TikTok für den Kommentarbereich bestimmte Einstellungen vorgibt, wurden diese für den Testlauf nicht verändert. Unter den Wörtern, die von TikTok offenbar blockiert werden, finden sich „Nazi“, „Sklaven“ und „Gas“, aber auch „LGBTQ“ und „schwul“.

Bei TikTok im September 2022 blockierte Wörter:

Cannabis – Crack – Drogen – Gas – gay – Heroin – Heterosexuelle – homo  – Kokain – LGBTQLSD – Nazi – Porno Pornografie – Prostitution – schwul – Sex – Sexarbeit – Sklaven

Konfrontiert mit den Ergebnissen, erklärte eine Sprecherin von TikTok, man setze Technologien ein, die „proaktiv nach Kommentaren suchen, die gegen unsere Richtlinien verstoßen oder die ein Spam-Verhalten darstellen“. Sie räumte Fehler ein: „In diesem Fall wurden Kommentare, die nicht gegen unsere Community-Richtlinien verstießen, fälschlicherweise als potenziell schädlich gekennzeichnet.“

TikTok werde seine automatisierten Systeme weiter trainieren. Außerdem werde man ausgewählten Forschenden noch in diesem Herbst Zugang zu der Moderationssystem-API geben, teilte der Konzern mit.

Nutzer erfuhren nichts von Sperrungen

Die Videoplattform machte im Test den Nutzern gegenüber kein einziges Mal transparent, ob und warum ein Kommentar nicht erschien. Stattdessen erweckte die App den Eindruck, ihre Kommentare seien öffentlich. Shadow-banning nennt man diese Methode. TikTok-Nutzer können sich daher nicht gänzlich sicher sein, ob der eigene Kommentar auch für andere Menschen sichtbar ist.

TikTok vermutet, dass die große Anzahl geposteter Kommentare in relativ kurzer Zeit dazu geführt haben könnte, dass einige dieser Kommentare als Spam eingestuft worden seien.

TikTok erklärte des weiteren, man prüfe die Transparenz von Kommentaren und verstehe die Bedenken – insbesondere jene der LGBTQ+ Community, die gesellschaftlich immer noch Hassreden und Mobbing ausgesetzt sei. TikTok wolle Kommentare nuancierter moderieren und eine einladende Community-Umgebung fördern.

Suche nach offenen Gesprächen

Die Verwendung von Wortfiltern, um Hassrede zu verhindern und User zu schützen, greift nach Erfahrung von TikToker Maximilian Pichlmeier nicht. „Hass sucht sich leider immer einen Weg auf solchen Plattformen“. Pichlmeier beschäftigt sich auf seinem Account mit der LGBTIQ-Community und sucht offen das Gespräch.

Das gehe am besten über die Kommentarfunktion, auch um Menschen, die homophobe Äußerungen unter seine Videos setzen, etwas entgegenzusetzen. „Wenn dann das Wort ’schwul‘ oder ‚homosexuell‘ vorkommt und ich das selber benutze, aber der Kommentar der anderen Person nicht angezeigt wird, kann keine Diskussion stattfinden. Wie soll man da zusammenfinden, wenn die jeweilige Realität eine ganz andere ist?“

Fehlende Transparenz

Es ist nicht das erste Mal, dass die Moderationspraxis auf der Videoplattform auffällt. Bereits im Februar 2022 hatten Recherchen von NDR, WDR und tagesschau gezeigt, dass die Social-Media-App die Meinungsfreiheit ihrer Nutzerinnen und Nutzer in Deutschland durch einen Wortfilter einschränkt.

Chinesische Videoplattform TikTok nutzt in Deutschland Wortfilter

Die Social-Media-Plattform TikTok unterdrückt Beiträge von Nutzern mit bestimmten Begriffen. So wurden Kommentare mit Begriffen aus der LGBTIQ-Community wie „queer“ oder „gay“ ebenso wenig veröffentlicht wie solche, die „Auschwitz“ oder „Nationalsozialismus“ enthielten. In dem Experiment wurden von den insgesamt 100 getesteten Wörtern 19 nicht zugelassen. TikTok räumte daraufhin Fehler ein und kündigte an, das eigene Vorgehen gründlich zu überprüfen und seine Strategie zu überdenken.

Tatsächlich können Wörter wie „homosexuell“ oder der Name der chinesischen Tennisspielerin Peng Shuai jetzt offenbar wieder in den Kommentaren verwendet werden. Bemerkenswert ist jedoch, dass TikTok Begriffe erneut blockiert hat, nachdem diese infolge der Recherche im Februar zunächst wieder kommentierbar waren. Dazu gehören Wörter wie „LGBTQI“, „gay“ oder „Heterosexuelle“.

Automatisierte Wortfilter sind billiger

Chinesische App TikTok zensiert mit Wortfiltern den Kommentarbereich unter Videos in Deutschland

„Das ist grundsätzlich problematisch“, sagt Christian Stöcker, Medienwissenschafter an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und Leiter des Studiengangs „Digitale Kommunikation“. Er nimmt Plattformen wie TikTok in die Verantwortung. „Da findet öffentlicher Diskurs statt, aber solange wir nicht wissen, wie TikTok genau moderiert, mit welchen Werkzeugen und mit welcher Arbeitskraft, ist das ein Problem.“

Stöcker sieht in der Moderation von Inhalten auch eine Kostenfrage. Eine Software oder automatisierte Wortfilter seien eben wesentlich billiger, als viele Menschen für die Moderation von Kommentaren einzustellen. Das liege eher im Interesse der Unternehmen.

Videos über Selbstverletzung und Suizidgedanken sind nach wie vor ein Problem auf TikTok.

„Klimawandel“ und „Klimakrise“ sind unerwünscht

Neben den zuvor identifizierten 19 Begriffen wurden auch Wörter getestet, die dem TikTok-Team der tagesschau oder TikTok-Nutzern aufgefallen waren. Darunter finden sich beispielsweise Wörter im Kontext des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sowie Drogen.

Kommentare mit Begriffen wie „Kokain“, „Cannabis“ und „Crack“ wurden in den Testläufen offenbar immer herausgefiltert. „Crystal Meth“ und „Ecstasy“ hingegen waren teilweise zugelassen. Ein klares Muster war in keinem Fall zu erkennen. Während in einigen Testläufen ein Account unter einem Video ein Wort kommentieren konnte, erschien dasselbe Wort beim gleichen Account unter einem anderen Video nicht.

Aber auch Wörter, die nicht aus möglichen Jugendschutzvorgaben zurückgehalten wurden, waren manchmal nicht sichtbar. So führten die Begriffe „Klimakrise“ und „Klimawandel“ in den meisten Fällen dazu, dass ein Kommentar nicht veröffentlicht wurde. Außerdem filtert TikTok offenbar einige Wörter aus dem Kontext des Ukraine-Kriegs heraus. Dazu zählen Wörter wie „Ukraine“, „Spezialoperation“, „Kampfjets“, „Völkerrecht“ oder auch „Truppen“.

Mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine ist TikTok auch Plattform für Propaganda geworden.

Subtiles Ausblenden

Caja Thimm ist Professorin für Medienwissenschaft und Intermedialität an der Universität Bonn und sieht in dem beschriebenen Vorgang eine Unterdrückung von Themen mit dramatischer Konsequenz. Agenda Cutting heißt das in der Kommunikationsforschung. „Zunächst erscheint das subtil, indem ich einfach zentrale Begriffe nicht zulasse, aber wenn es funktioniert, diskutiert man über diese Themen nicht mehr und das heißt dann auch, dass die Menschen, die über diese Themen diskutieren wollen, unter Umständen TikTok verlassen.“ Thimm sagt, es sei „höchst problematisch“, wenn der Konzern beginne, seine Nutzergruppen subtil zu sortieren.

TikTok hat nach eigenen Angaben mehr als eine Milliarde Nutzer weltweit. In Deutschland sollen es 20 Millionen sein. Die Videoplattform wird von dem chinesischen Internet- und Technologieunternehmen ByteDance betrieben, an dem auch die chinesische Regierung beteiligt ist. Dort läuft das Videoportal unter dem Namen Douyin.

Bei TikTok im September teilweise blockierte Wörter

Alkohol, Angriff, Anlass, Armee, Auschwitz, Bodentruppen, Corona, Crystal Meth, Ecstasy, Energie, Entnazifizierung, ernähren, FLINTA*, getötet, homophob, homosexuell, Kampf, Kampfjets, kiffen, Klimakrise, Klimawandel, Krieg, kämpfen, Nationalsozialismus, Panzer, Peng Shuai, produzieren, queer, Rauchen, Risiko, Rohstoffe, Russen, Russland, Sauerstoff, saufen, Spezialoperation, symptomatisch, Terroristen, trans*, Truppen, Ukraine, Ukrainer, Völkerrecht, Warn-App, Wettkämpfe

Getestete Wörter

Alkohol, Angriff, Anlass, Armee, Auschwitz, Bodentruppen, Cannabis, Corona, Crack, Crystal, Meth, Drogen, Ecstasy, Energie, Entnazifizierung, ernähren, FLINTA, FLINTA*, Gas, gay, getötet, Heroin, Heterosexuelle, homo, homophob, homosexuell, international, Kampf, Kampfjets, kiffen, Klimakrise, Klimawandel, Kokain, Krieg, kämpfen, LGBTQ, LGBTQI, LSD, Nachrichtenagenturen, Nationalsozialismus, Nazi, Panzer, Peng Shuai, Porno, Pornografie, produzieren, Prostitution, queer, Rauchen, Risiko, Rohstoffe, Russen, Russland, Sauerstoff, saufen, schwul, Sex, Sexarbeit, Sklaven, Spezialoperation, symptomatisch, Terroristen, trans*, Truppen, Ukraine, Ukrainer, US-College, Völkerrecht, Warn-App, Wettkampf, Wettkämpfe

Eine frühere Version des Textes hat das Testszenario der Recherche nicht näher beschrieben. Nach der Veröffentlichung meldete sich TikTok erneut und wies auf die nun im Text ergänzte Möglichkeit hin, das Testszenario könne dazu geführt haben, dass manche Kommentare fälschlicherweise als Spam eingestuft worden seien.

Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Ein Heer lebender Toter

Die Einbeziehung von Gefangenen für den Krieg in der Ukraine sagt nicht nur etwas über die Perfidität des Krieges an sich, sondern auch über das entmenschlichte Schicksal von Häftlingen.

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Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Gera: Björn Höcke, (M), Vorsitzender der AfD in Thüringen läuft bei einer Demonstration gegen die Energiepolitik der Bundesregierung und gegen Coronamaßnahmen in der ersten Reihe. An der Demonstration beteiligten sich nach Polizeiangaben 10.000 Menschen

In der Krise mobilisiert die Rechte die Unzufriedenen im Land.

Sie hat die soziale Frage gekapert. Dabei hat die schon überhaupt keine Antwort.

Die soziale Frage ist zurück – und zwar nicht als abstrakte Debatte, sondern ganz real. Die einen stellen den Joghurt bei Aldi nach dem Blick auf das Preisschild wieder ins Kühlregal, andere verzichten auf den Schwimmbadbesuch mit der Familie oder den Jahresurlaub.

 

 

 

 

 

 

Millionen Menschen sind arm, und die Abstiegsangst reicht bis hinein in die Mittelschicht aus Doppelverdienerhaushalte

Doch die Krise trifft nicht alle gleich. Unternehmen machen Extraprofite, DAX-Vorstände streichen Rekordlöhne ein. Die Klassenfrage ist zurück.

Die Erkenntnis ist nicht neu. In der globalen Banken- und Wirtschaftskrise ab 2007/08 gehörte es bis ins konservative Establishment fast schon zum Allgemeingut, Karl Marx zu rehabilitieren, „Das Kapital“ fand reißend Absatz, und der FAZ– Feuilletonchef Frank Schirrmacher bekannte: „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat.“

Genutzt hat es freilich wenig: Die Krisenkosten zahlten wie immer im Kapitalismus die Armen, und als makaberer Höhepunkt gründete sich als Folge der Eurokrise ab 2010 die Alternative für Deutschland.

Wenig sozial klingender Slogan

Im Jahr 2022 hat noch niemand in der öffentlichen Debatte Marx ausgegraben, im Gegenteil: die Rechte ist dabei, Angst und Wut der Menschen zumindest in Ostdeutschland erfolgreich zu kapern. An diesem Samstag startet die AfD ihre „Sozialkampagne“ unter dem wenig sozial klingenden Slogan „Unser Land zuerst“ mit einer Demonstration in Berlin.

Schon in den vergangenen Wochen haben rechte Netzwerke im Zusammenspiel mit der AfD jeden Montag Zehntausende im Osten auf die Straßen mobilisiert: Zuletzt, am Tag der deutschen Einheit, waren es mehr als 100.000 in 235 Städten. Die Rechtsex-tremismusexpertin der Linken im sächsischen Landtag sprach bereits von einer „faschistischen Massenbewegung“.

Viele Teil­neh­me­r treibt zwar die Angst vor dem sozialen Abstieg, doch thematisch stehen die Kritik am Establishment, an der Coronapolitik, an den Medien, an USA und Nato sowie die Zuwendung zu Russland im Vordergrund. Von linken Akteuren erhoffen sich die Demonstrierenden, die durchaus auch aus bürgerlichen Kreisen stammen, keine Antworten.

Dabei schien es doch Gesetz: Wo Klassengegensätze so offen wie jetzt zutage treten, wo es soziale Absicherung und Teilhabe zu erstreiten gilt, ist die Linke tonangebend. Das war schon immer ihre historische Mission, doch heute hechelt sie hinterher. Zwar schießt nahezu täglich ein neues linkes Sozialbündnis aus dem Boden, doch die Massen der Betroffenen erreicht die Linke nicht: Nicht in den großen, liberal oder links tickenden Städten, nicht im Westen; schon gar nicht aber kriegt sie ein Bein da auf den Boden, wo die Rechten besonders stark sind: in der ostdeutschen Provinz.

Spezifisch ostdeutscher Trotz

Der AfD ist es in den Jahren ihres Bestehens gelungen, beträchtliche Teile der Arbeiterklasse an sich zu binden. Bei der vergangenen Bundestagswahl wählten sie insgesamt 10,3 Prozent, aber 21 Prozent der Ar­bei­te­r:in­nen – nur 5 Prozent von diesen stimmten für die Linke. Im Osten hat sich die AfD als Volkspartei etabliert, und es gelingt ihr, einen spezifisch ostdeutschen Trotz gegen die sich rasant verändernde Welt zu bestärken.

Mit einer sozialen Agenda hat das wenig zu tun. In der Partei und ihrer Programmatik sind marktradikale Lösungen tonangebend. Der besonders im Osten verankerte rechtsextreme Flügel um den Thüringer Partei- und Fraktionschef Björn Höcke spielt sich zwar mitunter als soziales Gewissen der Partei auf, tickt aber vor allem nationalistisch.

So sagte Höcke schon 2016 bei einer Demonstration in Schweinfurt: „Die soziale Frage der Gegenwart ist nicht primär die Verteilung des Volksvermögens von oben nach unten, unten nach oben, jung nach alt oder alt nach jung. Die neue deutsche soziale Frage des 21. Jahrhunderts ist die Frage nach der Verteilung des Volksvermögens von innen nach außen.“ Die Antwort der Rechten auf soziale Krisen ist, die unteren Klassen gegeneinander auszuspielen, anhand von Herkunft, Pass und auch von Leistungsprinzipien.

Dass viele Menschen diese Spaltungsversuche nicht zurückweisen, liegt auch daran, dass die AfD und ihre Verbündeten erfolgreich die Systemfrage besetzt haben. Die Unzufriedenen sehen in ihnen das Vehikel für ihre Ängste und Wut, für ihre Gegnerschaft zu einem System, das keinen ausreichenden Schutz verspricht.

Die Rechte setzt aufs Identitätsgefühl

Schlussendlich ist es dann egal, ob sich soziale Ängste aus dem Zuzug von Flüchtlingen, Corona oder jetzt Inflation und Energiepreiskrise speisen. Die Rechte ist immer da, um diese Ängste abzugreifen, setzt erfolgreich auf das Identitätsgefühl eines unverstandenen und wirtschaftlich immer noch abgehängten Ostens und verstärkt den latent vorhandenen Rassismus und Sozialchauvinismus in der Bevölkerung.

Konkrete Forderungen, die die Lebenssituation der Menschen verbessern würden, sucht man auf den rechten Demonstrationen vergebens. Dabei befürworten drei Viertel der Deutschen, dass der Staat für eine Verringerung der Unterschiede zwischen Arm und Reich sorgt, genauso viele halten eine Vermögenssteuer für gut oder sehr gut, wie aus einer jüngst veröffentlichten Umfrage der Bertelsmann-Stiftung hervorgeht.

Von der organisierten Rechten sind solche Vorschläge nicht zu hören, im Gegenteil: Die AfD setzt – laut ihrem Programm – auf Eigentum und Eigenverantwortlichkeit, Deregulierung, verbindliche Höchststeuern und die Schuldenbremse.

Doch die Netzwerke aus den Anti-Flüchtlingsprotesten von 2015 und jenen gegen die Coronamaßnahmen tragen auch die aktuellen Straßenproteste. Schon ein Aufruf gegen „die da oben“ in rechten und verschwörungsideologischen Telegramgruppen – es gibt allein 20 mit über 100.000 Mitgliedern, dagegen keine einzige linke in dieser Größenordnung – reicht aus, um die Menschen zu Protesten zu motivieren. Das gilt zumindest für den Osten und dort vor allem für die Klein- und Mittelstädte, wo Prekarität und Abstiegsängste weiter verbreitet, Löhne und Vermögen deutlich geringer sind als im Westen – und die demokratische Kultur schwächer ausgeprägt.

Direkten Kontakt verloren

Die Linke dagegen hat den direkten Kontakt zu jenem Teil der Bevölkerung, der sich selbst als „normal“ definiert, also als nicht privilegiert, überwiegend verloren. Die letzten linken Sozialproteste, gerade auch in eben jenen ostdeutschen Regionen, fanden 2004 als Montagsdemonstrationen gegen den Sozialabbau der Hartz-Gesetze statt.

Auch damals schon versuchten Rechte, letztlich aber eher erfolglos, diese Proteste für sich zu kapern. Doch seitdem hat sich die Linke als Ganzes sowohl von dem Thema als auch von dieser Klientel entfernt, ja tritt jenen, die nicht all ihre Glaubenssätze teilen, nicht selten mit Verachtung entgegen.

Man muss kein Sahra Wagenknecht-Fan sein, um zu konstatieren, dass weite Teile der Ar­bei­te­r­schaft die gesellschaftliche Linke vor allem über Themen wahrnehmen, die sie nicht als ihre dringendsten Sorgen begreifen. Anders als Wagenknecht, die ihrerseits aufs Ausspielen setzt, wäre es aber die Aufgabe der Linken, die Klassenfrage mit allen weiteren Ausgrenzungsfragen zu verbinden.

Bei einigen der außerparlamentarischen Linken, die sich nun zumindest in den größeren Städten zu neuen Sozialbündnissen zusammenfinden, kann man fragen, wieso sie sich erst jetzt der Verteilungsgerechtigkeit widmen. Auch die vergangenen 20 Jahre ging es in Deutschland nicht gerecht zu, lebten Millionen Menschen und fast jedes vierte Kind in Armut, war die Unfähigkeit des kapitalistischen Systems, Grundbedürfnisse der Menschen dauerhaft zu befriedigen, offensichtlich. Zu selten gelang es linken Initiativen wie etwa der Berliner Mietenbewegung, konkrete soziale Themen massentauglich zu formulieren.

Die Klassenfrage

Die Klassenfrage ist als eines von vielen linken Themen kaum wahrnehmbar gewesen, soziale Forderungen waren etwa bei der Klimabewegung zu oft nur Anhängsel. Stattdessen lässt sich die gesellschaftliche Linke durch von rechter Seite angefeuerte kulturelle Debatten treiben. Weit verbreitet und von rechts geschürt ist dabei die Wahrnehmung, dass linke Kämpfe um Identität und Anerkennung nicht das System infrage stellen, sondern vom Establishment integriert werden und dessen Macht festigen.

Angesichts dieser höchst brenzligen Situation wird sich die Linke einer Selbstkritik stellen müssen. Dann bietet sich immerhin die Chance, aus den Fehlern zu lernen. Die soziale Frage muss im Verbund mit der ökologischen ins Zentrum rücken – ohne dass dies eine Abwertung von antirassistischen Perspektiven bedeutet. Es braucht die gemeinsame Perspektive der Nicht-Privilegierten, eine Perspektive, die in der Forderung nach Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums ihren zentralen Ausdruck findet.

Vielleicht ist es noch nicht zu spät, die soziale und die Klassenfrage so zu besetzen, dass sich die rechte Hegemonie auf den Straßen nicht verfestigt. Schließlich braucht es darauf echte Antwor, (mehr …)

Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren
Nach dem Scheitern der Corona-Impfpflicht und dem Wegfall der meisten Beschränkungen appelliert die Politik an die Eigenverantwortung. Damit ist niemandem geholfen, weder uns als Einzelpersonen, noch uns als Gesellschaft.
Verantwortlich handeln wir dort, wo wir anerkennen, dass wir einander aufgrund der Folgen unseres Handelns etwas schulden, unverantwortlich dort, wo wir dies ignorieren.

Den Schaden selbst tragen

Mit dem Begriff der „Eigenverantwortung“, den nun sogar Karl Lauterbach bemüht, um den Wegfall der meisten Corona-Maßnahmen zu begründen, hat es allerdings eine ganz andere Bewandtnis. Wie Sabine Döring und Thomas Beschorner jüngst in der ZEIT gezeigt haben, stammt das Wort aus dem Programm des ökonomischen Liberalismus und bezieht sich auf solche Handlungen, deren negative Konsequenzen nur die Handelnde selbst betreffen. Für solche Handlungen ist sie deshalb anderen gegenüber gerade nicht verantwortlich.
Und auch umgekehrt dürfen die anderen ihrerseits jede Verantwortung der Handelnden gegenüber ablehnen, falls ihr etwas passiert. „Auf uns darfst du nicht zählen“, dürfen sie sagen, „du hast auf eigene Verantwortung gehandelt.“ Der Bereich der Eigenverantwortung ist also der Bereich, in dem jeder auf eigene Rechnung agiert.

Gesundheitsminister sabotiert eigene Ziele

Diese Überlegung zeigt nun, dass der Bundesgesundheitsminister seine eigene Absicht durchkreuzt, wenn er ausgerechnet an die Eigenverantwortung appelliert, damit Menschen freiwillig weiter Maske tragen und sich impfen lassen. Er beschränkt durch diese Rhetorik die relevante Perspektive auf eine private Kosten-Nutzen-Rechnung des Einzelnen.
Damit aber sabotiert er unabsichtlich sein politisches Anliegen, weil gerade aus dem isolierten Blickwinkel des Einzelnen nicht mehr verstanden werden kann, wieso man sich selbst Einschränkungen auferlegen sollte. Die konkreten persönlichen Kosten erscheinen immer höher als der kaum bezifferbare, rein hypothetisch bleibende persönliche Gewinn.
Die Corona-Krise lässt sich nur gemeinsam, nicht aber individuell überwinden. Das Konzept der Eigenverantwortung verschleiert das.
Es ist insofern unmöglich, die Vernünftigkeit des Masketragens oder einer Impfkampagne durch das individualistische Prinzip der Eigenverantwortung zu begründen. Das beweist aber nur die Beschränktheit der individualistischen Perspektive. Diese kann nämlich nicht die Rationalität eines kollektiven Handelns erfassen, dessen Nutzen sich dann (aber auch nur dann) einstellt, wenn alle oder zumindest die allermeisten Mitglieder sich beteiligen.

Die Scheuklappen des ökonomischen Liberalismus

Der Gewinn, den mein Beitrag mir einbringt, besteht dann nicht in den Folgen meines Beitrags für mich, sondern in den Folgen des identischen Beitrags aller anderen für mich. Erst wenn ich die kollektive Dimension mitdenke, zeigt sich, wieso mein Beitrag einen Gewinn erzielt.
Andere Politikfelder funktionieren übrigens nach genau demselben Prinzip – der Klimaschutz etwa: Nur wenn alle einzelnen weniger Ressourcen verbrauchen und Emissionen verursachen, ist für alle zusammen am Ende noch genügend lebenswerte Welt da. Daher sollte sich politische Kommunikation hier wie dort nicht an die Rhetorik des ultraliberalen Individualismus anbiedern, sondern schlicht sagen, was gefordert ist: Verantwortung übernehmen, füreinander, also verantwortlich handeln.
Nicht „eigenverantwortlich“.
Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

 

Anders Fogh Rasmussen hatte es bedauert, dass die Ukraine in seiner Amtszeit nicht der Nato beigetreten war. Als Generalsekretär leitete er die Allianz von 2009 bis 2014. Er erlebte, wie die Krim von Russland annektiert und der Donbass in einen Krieg gestürzt wurde. Hätte es der Westen mit der Nato-Mitgliedschaft für Kiew nur ernst gemeint, meinte Rasmussen später, wäre der starke Mann im Kreml wohl vorsichtiger gewesen.

Wegen seines Einsatzes für die Ukraine erhielt der Däne 2014 vom damaligen Präsidenten Petro Poroschenko den «Orden der Freiheit», die höchste Auszeichnung des Landes für Ausländer. Und auch später erinnerte man sich in Kiew gerne an Rasmussen. Ende Mai wurde seine Beratungsfirma «Rasmussen Global» vom ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski beauftragt, ein Konzept für Sicherheitsgarantien für die Ukraine auszuarbeiten.

Eine Art Vorstufe zur Nato

Zusammen mit Andri Jermak, Selenskis Stabschef, sollte ein Expertenteam aus Kiew und Kopenhagen sich überlegen, wie die Ukraine nach dem Krieg bestmöglich vor Angriffen Russlands geschützt werden kann – und zwar, ohne Nato-Mitglied zu sein. Am vergangenen Dienstag präsentierten sie die Vorschläge für einen sogenannten Kyiv Security Compact. Bei einer Umsetzung würde daraus ein bindender Verteidigungspakt mit handlungswilligen Staaten.

Durch eine starke Aufrüstung und Investitionen in die Verteidigungsindustrie der Ukraine sollen deren Streitkräfte zum einen so gut ausgerüstet und ausgebildet werden, dass sie eine russische Invasion künftig jederzeit abwehren können. Erforderlich seien dafür auch «intensive Ausbildungsmissionen und gemeinsame Übungen» mit Nato und EU, wie es in dem Papier heisst. Am Dienstag gab das staatliche Rüstungsunternehmen Ukroboronprom bekannt, es habe bereits einen Vertrag mit einem Nato-Mitgliedsland über den Bau einer Waffenfabrik unterzeichnet, ohne Details zu nennen.

Zum anderen soll die Ukraine auf ein Bündnis mit Staaten zählen können, die ihre Sicherheit garantieren. Als mögliche Partner zählen Rasmussen und Jermak die USA, Grossbritannien, Kanada, Polen, Italien, Deutschland, Frankreich, Australien, die Türkei sowie die ostmitteleuropäischen und baltischen Länder auf, also fast alle Mitglieder der Allianz. Der Pakt wäre damit gewissermassen eine Vorstufe zur Nato.

Aufgeben muss Kiew seine Nato-Ambitionen mit dem Konzept aber nicht. Offiziell strebt das Land weiterhin einen Beitritt zur westlichen Allianz an. Schliesslich seien «verlässlichere Sicherheitsgarantien als Artikel 5 schwer denkbar», sagte Jermak im September am Yalta-European-Security-Treffen (YES) in Kiew. Gleichzeitig haben offenbar selbst ihre engsten westlichen Partner den Ukrainern klargemacht, dass ein Nato-Beitritt auf Jahre hinaus illusorisch bleibt, und dies nicht nur wegen des gegenwärtigen Krieges, der einen solchen ausschliesst.

«Ein Automatismus ist unrealistisch», meinte der ehemalige schwedische Ministerpräsident Carl Bildt am YES-Treffen über Sicherheitsgarantien. «Die Staaten werden dem nicht zustimmen für zukünftige Situationen, die sie nicht vorhersehen können.» Die Sorge, die Eskalationsdynamik mit Russland durch eine militärische Beistandspflicht unberechenbar zu machen, scheint nicht nur in europäischen Hauptstädten, sondern auch in Washington weit verbreitet. Sehr wohl vorgesehen im Papier sind hingegen Sanktionen, die bei einer erneuten russischen Aggression automatisch aktiviert oder reaktiviert würden. Diesen könnten sich weitere Staaten anschliessen.

Die Ukrainer sind gestärkt

Die Ukrainer können darauf verweisen, dass sie von ihren Partnern gegenüber den noch im März diskutierten Vorschlägen für Sicherheitsgarantien um einiges mehr herausgeholt haben. So ist im Rasmussen-Jermak-Papier explizit von der gesamten Ukraine inklusive Krim und Donbass die Rede, während diese Gebiete im Frühling noch ausgeklammert wurden. Damals wurde die Anwesenheit ausländischer Soldaten in der Ukraine zu Ausbildungszwecken noch ausgeschlossen, heute ist sie explizit vorgesehen. Auch soll ein neutraler Status keine Bedingung für die Garantien sein.

Darin spiegelt sich die verbesserte Position der Ukrainer, die sich auf dem Schlachtfeld seit über sechs Monaten erfolgreich gegen Russland wehren. «Wir haben gezeigt, dass wir uns nicht nur verteidigen, sondern auch Gebiete befreien können. Das sollte unsere Ambitionen stärken», sagte Jermak in Kiew. Der Präsidentenberater richtete seine Worte implizit auch an jene Stimmen im Westen, die eine Unterstützung der Ukraine für sinnlos halten, da sie einen Sieg gegen den Goliath Russland für unmöglich halten.

Es ist somit die geplante Langfristigkeit und Breite des Engagements, die für die Ukraine von grösster Bedeutung wäre. Hier ziehen Kiew wie seine Partner Parallelen zum «Modell Israel»: Auch dieses Land stellt ein von unberechenbaren Nachbarn umgebenes Bollwerk des Westens mit Territorialkonflikten dar und ist bis an die Zähne bewaffnet. Präsident Wolodimir Selenski sprach bereits im April von der ukrainischen Ambition, «ein grosses Israel mit eigenem Antlitz» zu werden. Sicherheit werde in Zukunft die Hauptrolle in der Innenpolitik spielen, wofür die Bevölkerung sensibilisiert und grösstenteils auch mobilisiert werde: «In allen Institutionen, Supermärkten und Kinos wird es Leute mit Waffen geben.»

Der Atlantic Council fügte damals hinzu, zu den weiteren Gemeinsamkeiten gehöre, dass das Land zur eigenen Verteidigung ohne ausländische Truppen fähig sein müsse, während es von Partnerstaaten starke Unterstützung in Form von Waffen, Technologie und Informationen erhalte. Selbstverteidigung ist in Tel Aviv oberste Sicherheitsdoktrin. Tatsächlich pflegt Israel zur Nato seit Jahrzehnten enge Beziehungen, ohne Mitglied zu sein. Allerdings profitiert es auch ungleich stärker von seiner engen militärischen und geheimdienstlichen Partnerschaft mit den USA. Auf die Nato-Beistandsgarantie wäre Israel nicht wirklich angewiesen.

Neben der Gewährleistung der eigenen Sicherheit geht es in Israel darum, sich im Konflikt mit den Palästinensern als Demokratie zu behaupten. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Frieden und Freiheit muss auch die Ukraine aushalten. Noch hat es – als ungleich grösseres Land – allerdings etliche Defizite in Sachen Korruption und Rechtsstaatlichkeit aufzuholen.

Ein Modell Israel müsste, konsequent weitergedacht, für die Ukraine auch bedeuten, sich wieder Atomwaffen zu beschaffen. Der nukleare Status gilt als das Abschreckungspotenzial schlechthin. Immerhin lagerte in der Ukraine bis 1994 das drittgrösste Arsenal an nuklearen Waffen aus sowjetischen Zeiten. Kiew gab es damals auf, woraufhin sich nicht zuletzt Russland verpflichtete, die territoriale Integrität der Ukraine zu achten. Dass Moskau diese Abmachung zwei Jahrzehnte später brach, zeigte den Ukrainern die Wertlosigkeit vergangener Sicherheitsgarantien. In den Vorschlägen zum Kyiv Security Compact wird das Budapester Memorandum explizit für obsolet erklärt – ein Gemeinplatz für manche, für andere eine Andeutung, dass eine nukleare Wiederaufrüstung der Ukraine nicht ausgeschlossen ist.

Sep. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Seinen Begleithund Dino baut der Junge oft in die kleinen Filme ein, die er dreht

 

 

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Sep. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Die Experten warnen in ihrem Aufruf sogar vor „sozialem Unfrieden“ Weiterer heftiger Gender-Rückschlag für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk

Rund 90 Sprachwissenschaftler und Philologen haben einen Aufruf gegen die „Gendersprache“ („Kund*innen“) unterschrieben. Sie fordern: Schluss damit.

▶︎ Unter den Unterzeichnern: Mitglieder des Rates für deutsche Rechtschreibung, der Gesellschaft für deutsche Sprache und des PEN-Zentrums sowie etliche renommierte Sprachwissenschaftler (etwa Grammatik-Expertin Prof. Gisela Zifonun, Prof. Martin Neef von der TU Braunschweig und Dr. Olaf Krause vom Deutschen Rechtschreibrat).

Initiator ist Germanist Fabian Payr (60). Payr zu BILD: „ARD und ZDF sollten die Sprachwissenschaft zur Kenntnis nehmen.“

Germanist Fabian Payr (60)

Germanist Fabian Payr (60)

Foto: Paul Müller

Er wirft den Sendern vor, sich in Diskussionen stets von einzelnen Befürwortern die gewünschte Meinung liefern zu lassen. Die Berichterstattung über das Gendern sei „vielfach tendenziös“ und diene im Wesentlichen der Legitimation des eigenen Genderns. Kritiker würden nicht selten als reaktionär, unflexibel und frauenfeindlich geschildert.

Und: „Mit dem Gendern senden sie völlig am Publikum vorbei. Umerziehung hat mit dem Programmauftrag nichts zu tun.“

SCHÜLER LEHNEN ES ABGender-Klatsche für Bayerischen Rundfunk

Schüler lehnen es ab: Gender-Klatsche für Bayerischen Rundfunk
05:04
Quelle: BILD 28.07.2022

„Eine Kunstsprache“

Gendersprache sei „eine Kunstsprache“. Auch in den Sprachwissenschaften gebe es Gender-Aktivisten. Payr: „Diese können nicht für die Wissenschaft allgemein sprechen. Aber sie sind politisch aktiver und lauter. Dem wollen wir uns entgegenstellen, um deutlich zu machen, dass es in der Sprachwissenschaft keinen Konsens für das Gendern gibt. Trotzdem wird manchmal dieser Eindruck erweckt. Jetzt formiert sich Widerstand auch in der Wissenschaft!“

Payr warnt: „Das Gendern sorgt für erheblichen sozialen Unfrieden, spaltet die Gesellschaft.“ Ein Grund: Die Gendersprache werde „mit moralisierendem Gestus“ verbreitet.

BILD-BUNDESTAGSEXPERTE CARL-VICTOR WACHS„Punktabzug für den Scrabble-Gender-Stein“

BILD-Bundestagsexperte Wachs: „Punktabzug für den Scrabble-Gender-Stein“
Quelle: BILD 20.04.2022

Die Ansicht von Gender-Befürwortern, dass das generische Maskulinum (etwa: „Radfahrer“ statt „Radfahrer*innen“ oder „Radfahrende“) Menschen ausschließe, weisen die Sprachwissenschaftler zurück.

Rundfunk dürfe Wunsch der Mehrheit
nicht ignorieren

Die Sprachverwendung des Rundfunks sei, so die Experten, „Vorbild und Maßstab für Millionen von Zuschauern, Zuhörern und Lesern“. Daraus erwachse für die Sender die Verpflichtung, sich in Texten und Formulierungen an geltenden Sprachnormen zu orientieren und mit dem Kulturgut Sprache „regelkonform, verantwortungsbewusst und ideologiefrei“ umzugehen.

Im Aufruf wird darauf hingewiesen, dass mehr als drei Viertel der Medienkonsumenten Umfragen zufolge den etablierten, ganz normalen Sprachgebrauch bevorzugten – der Rundfunk dürfe den Wunsch der Mehrheit nicht ignorieren.

Die Unterzeichner argumentieren sprachwissenschaftlich. Es gebe im Deutschen einen Unterschied zwischen Genus und Sexus – also grammatischem und natürlichem Geschlecht. So sei etwa „die Person“ nicht automatisch weiblich, obwohl ein weiblicher Artikel vor dem Wort steht.

Die Forscher sind in Sorge um die Wissenschaft selbst

Die Forscher verlangen nicht nur eine „kritische Neubewertung des Sprachgebrauchs in Runfunk- und Fernsehanstalten auf sprachwissenschaftlicher Grundlage“. Sie sind auch in Sorge um die Wissenschaft selbst.

▶︎ Payr: „Aus den Reihen der Identitätspolitik werden Prinzipien der Wissenschaft infrage gestellt. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen immer einer Überprüfung standhalten. Das ist geradezu das Wesen der Wissenschaft.“

▶︎ Seine Forderung: „Wir müssen zum sachlichen und wissenschaftlichen Kern der Debatte zurückkehren und nicht ständig von einer moralischen Ebene aus argumentieren.“

Sep. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Der europäische Gerichtshof hat heute ein historisches Urteil verkündet: Die aktuell in Deutschland geltende Vorratsdatenspeicherung widerspricht den Grundrechten der EU und das entsprechende deutsche Gesetz ist damit null und nichtig.

„Seit zwanzig Jahren beharrte die Politik auf der grundrechtsproblematischen Vorratsdatenspeicherung und lenkte von den echten Problemen ab. So verhinderte die Politik die Einführung notwendiger grundrechtskonformer Maßnahmen“, sagt padeluun, Mitgründer und Vorstand von Digitalcourage.

Eine Vorratsdatenspeicherung lässt weitreichende Rückschlüsse auf das Privatleben aller Bürgerinnen und Bürger zu. Denn auch ganz ohne Kenntnis der Gesprächsinhalte können die Verbindungsdaten Rückschlüsse auf die Lebenssituation von Menschen erlauben, Informant.innen der Presse gefährden oder vertrauliche Beziehungen zu Ärztinnen, Beratungsstellen oder Anwälten offenlegen. Eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung erzeugt ein Gefühl des dauernden Überwacht-Werdens. Das darf es in einer Demokratie nicht geben.

Der EuGH stellt in seinem Urteil klar: Eine Speicherung von Verbindungsdaten ist immer ein schwerer Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Menschen – auch wenn nur für einen kurzen Zeitraum gespeichert wird.

Der heutige Erfolg beruht auf viel langfristiger Arbeit der Zivilgesellschaft. Seit 2002 kämpft Digitalcourage (damals FoeBuD) gegen die Vorratsdatenspeicherung: mit einer ganzen Reihe von Großdemos unter dem Motto „Freiheit statt Angst“, mit Argumenten, Aufklärung, Kreativität und vielen Aktionen, mit einer ganz breiten Bewegung von Bündnispartnern. Digitalcourage-Gründungsmitglieder Rena Tangens und padeluun waren bereits an der Verfassungsklage des Arbeitskreises Vorratsdatenspeicherung (AK Vorrat) beteiligt, die 2010 erfolgreich die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland zum ersten Mal zu Fall gebracht hat und führen den Kampf der Zivilgesellschaft gegen diese Form der Massenüberwachung seit nunmehr zwanzig Jahren.

Im Februar 2018 wurde eine aktuell laufende Verfassungsbeschwerde (BVer2683/16) von Digitalcourage vom Bundesverfassungsgericht angenommen. Mehr als 37.000 Menschen haben die Klage mit unterzeichnet und über zwanzig prominente Mitbeschwerdeführer.innen unterstützen sie – neben Rena Tangens und padeluun von Digitalcourage u.a. der Kabarettist Marc-Uwe Kling, der ex-Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske, die Schriftstellerin Juli Zeh, der katholische Sozialethiker Friedhelm Hengsbach, der Piraten-Politiker Patrick Breyer und der Vorsitzende des Deutschen Journalistenverbandes Frank Überall.

Digitalcourage fordert Bundesregierung jetzt auf: Finger weg von anlassloser Speicherung

Justizminister Marco Buschmann sagte in seiner heutigen Pressekonferenz zum EuGH-Urteil: „Ein guter Tag für die Bürgerrechte“ und würdigte ausdrücklich das Engagement der Zivilgesellschaft. Amtskollegin Innenministerin Nancy Faeser dagegen brachte erneut eine anlasslose Speicherung sämtlicher IP-Adressen ins Spiel.

Marco Buschmann erwartet den neuen Gesetzentwurf innerhalb der nächsten zwei Wochen. Da werden die beiden Ministerien einiges zu diskutieren haben. Digitalcourage fordert von der Bundesregierung, nicht wieder den Geist eines EuGH-Urteils ins Gegenteil zu verkehren.

„Hallo Ampel: Im Koalitionsvertrag habt ihr geschrieben, dass es keine anlasslose Speicherung geben wird. Das heißt jetzt: Finger weg von einer anlasslosen Speicherung von IP Verbindungsdaten!”, sagt Digitalcourage-Gründungsvorstand Rena Tangens.

Wie Verbrechen wirksam bekämpft werden können, insbesondere die von der Innenministerin ins Feld geführte Gewaltkriminalität gegenüber Kindern, hat Digitalcourage bereits 2020 dargelegt. Wirksame und rechtsstaatlich vertretbare Kinderschutz-Maßnahmen wären unter anderem der Ausbau von Präventionsmaßnahmen, ausreichend Personal bei Polizei und Justiz, um unverzüglich die Verfolgung konkreter Anhaltspunkte zu gewährleisten oder eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen für Ermittler. Wir empfehlen Nancy Faeser die Lektüre unseres Artikels:
https://digitalcourage.de/blog/2020/kinderschutz-vorratsdatenspeicherung-hilft-nicht

Digitalcourage
Digitalcourage engagiert sich seit 1987 für Grundrechte, Datenschutz und eine lebenswerte Welt im digitalen Zeitalter. Wir sind technikaffin; doch wir wehren uns dagegen, dass unsere Demokratie „verdatet und verkauft“ wird. Wir klären auf und mischen uns in Politik ein. Digitalcourage ist gemeinnützig, finanziert sich durch private Spenden und lebt durch die Arbeit vieler Freiwilliger.

Sep. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

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