Brave Bürger wehren sich gegen Bildersturm und Agitprop. Per Wahlzettel bekämpfen sie den sogenannten «Antirassismus», der in Amerika um sich greift. Dieser schafft statt Lösungen neue Ungerechtigkeiten. Und inzwischen ist unübersehbar, dass die Critical Race Theory die Aufklärung selbst ins Visier nimmt.

 

BU Die Hautfarbe soll wieder zentral sein. So hatte sich das Martin Luther King nicht gedacht. So wenig wie die weissen Studenten, die in Mississippi auch ihr Leben riskierten.

Mehr «woke» als in San Francisco geht nicht. Zuletzt hat die Stadt den Ladendiebstahl bis zu 950 Dollar vom «Verbrechen» zum «Vergehen» herabgestuft , was selten verfolgt und seltener bestraft wird. Wie erwünscht, gerieten weniger Afroamerikaner in die Gesetzesmühle.

Doch hat die soziale Gerechtigkeit ihren Preis. Gerade in den ärmeren Vierteln schossen Diebstähle in die Höhe. Dutzende von Drugstores gaben auf; ab in die Notaufnahme für das heilende Medikament. 80 Prozent aller Befragten glauben nun, dass die Kriminalität unaufhaltsam steige.

Gut gemeint ist nicht gut vollbracht, und so bäumt sich im Zentrum des Wokeismus die Reaktion auf – wie in anderen links regierten amerikanischen Städten von New York bis Seattle. Per Abwahl haben die Bürger im Februar die Radikalen im School-Board gefeuert, der die Bildungspolitik bestimmt. Die Eiferer wollten sich an den Heiligtümern der Nation vergreifen. Ikonen wie Washington, Jefferson und Lincoln gehörten aus den Namen von Schulen wegradiert, weil sie irgendwie Rassismus und Kolonialismus verkörperten.

Vor lauter «wokeness» ungerecht

Richtig zornig wurden die Eltern, als es ans Eingemachte ging, an jene öffentlichen Schulen, deren guter Ruf auf Aufnahmeprüfungen beruht. Diese helfen gerade begabten Kindern aus den Armenbezirken, die pro Jahr keine 40 000 Dollar für elitäre Privatschulen aufbringen können. Doch hat das Auswahlprinzip zu viele Amerikaner ostasiatischer Herkunft in den Genuss eines fordernden Curriculums gebracht. Also weg mit den Tests. Eine der Geschassten hatte diese Schüler bezichtigt, «das Denken der weissen Oberherrschaft zu übernehmen, um per Assimilierung hochzukommen». Aus mit dem amerikanischen Traum.

Es war eine feine Absicht. Es müssen mehr Schwarze und Braune («People of Color») in die besseren Schulen; jede schwächelnde Gruppe kriegt ihre nährende Suppe per Proporz. Doch schafft Social Engineering auch neues Unrecht. Denn mehr begehrte Schulplätze für die X sind weniger für die Y. Nettogewinn gleich null.

Und ein moralisches Problem. Was hat ein chinesischstämmiger Teenie, dessen Vorfahren im 19. Jahrhundert aus Rassenhass massakriert und beim Eisenbahnbau wie Sklaven gehalten wurden, mit der Gemeinheit schwarzer Knechtschaft zu tun? Die Kids büssen so für die Schandtaten der Sklaverei, weil sie an Quoten scheitern. Die Kollektivschuld kriecht ins System. Doch böse kann nur die Tat, nicht die Herkunft sein. Wenn Leistung verdächtig ist, entsteht eine neue Ständeordnung, die Macht und Status per Ethnie und Biologie zuweist.

Nach welchem Prinzip? Die Antwort liefert die «Critical Race Theory», die sich schier unaufhaltsam durch das Bewusstsein frisst. Sie als «Kritik» und «Theorie» zu adeln, ist zu viel der Ehre. Critical Race Theory ist eine Ideologie, die den Vorteil der eigenen Gruppe als universelle Moral verbrämt. So alt wie die Menschheit, rechtfertigt jede Ideologie, warum uns mehr zusteht als euch.

Der Kern der Critical Race Theory

Ein Blick zurück. Könige beriefen sich auf das «Gottesgnadentum». Karl Marx hat das Proletariat auf den Altar gehoben; nieder mit der Bourgeoisie! Karl Mannheim, der Uronkel der Kritischen Theorie, prägte vor hundert Jahren den Begriff der «Wissenssoziologie». «Wahrheit» sei ein Konstrukt, Ausfluss des sozialen Seins, welches das Denken bestimme. Wir verkünden, was unsere Machtinteressen bedient.

Mannheim konnte den Nazis entfliehen; so gelangte die «Sociology of Knowledge» nach England, dann nach Paris, wo Pierre Bourdieu, Michel Foucault et alii die Radikalisierung unter Zungenbrechern wie «Dekonstruktivismus» und «Poststrukturalismus» durchzogen. Auch hier: «Wahrheit» ist Illusion. Es gibt nur «Perspektiven» und «Erzählungen». Die Herrschenden lullen so die Massen ein. Einen dritten Pfeiler bildet der Neomarxist Antonio Gramsci. Die «Kulturhegemonie» sei zu erobern. Denn das Wort ist die Waffe, die Denken und Wollen lenkt. Das «Wahre» ist das Nützliche, das Vorherrschaft gebiert.

Ohne den Ideologie-Export in die amerikanischen Geisteswissenschaften wären die Postmodernisten in den Sechzigern vielleicht an der Rive Gauche sitzen geblieben. Nun triumphiert die Critical Race Theory von Harvard bis in die Provinz. Die zentralen Texte sind versammelt in dem Reader «Critical Race Theory: The Key Writings That Formed the Movement» (1996). William Galston hat sie im «Wall Street Journal» zusammengefasst; hier ist der Kern:

  1. CRT kann nicht objektiv sein. Jedwedes «Wissen ist unvermeidlich politisch», Munition im Machtkampf.
  2. Rasse ist alles. Weg mit verlogener «Integration, Assimilation und Farbenblindheit».
  3. Statt Martin Luther King: Antonio Gramsci. Der habe uns die Augen dafür geöffnet, dass «Kulturhegemonie die soziale Ordnung festigt» – zugunsten der Machthaber.
  4. Die Bürgerrechtsbewegung hat nur «symbolische Gewinne» gebracht, aber die Köpfe verdreht. Die Menschen begreifen deshalb nicht, dass Diskriminierung «strukturell» ist. Folglich gehört das System zerschlagen.
  5. CRT verdammt das liberale Prinzip der «Chancengleichheit». «Ergebnisgleichheit» muss den People of Color geben, was ihnen zusteht, doch nicht als Leistungsprämie. «Verdienst» ist kein «neutraler Massstab», weil die «Mächtigen die Zuteilung verfügen».
  6. «Affirmative Action» als Aufstiegsleiter ist Augenwischerei. Was scheinbar der ausgleichenden Gerechtigkeit dient, soll bloss «weisse Privilegien kaschieren». Der «Mythos der Chancengleichheit» garantiert nur den «Fortbestand weisser Vorherrschaft».

Auf dem Kerbholz des Westens

Den giftigen Kern formuliert ein Chefideologe der CRT, Ibrahim X. Kendi, in seinem Bestseller «How to Be an Antiracist» (2019): «Nur künftige Diskriminierung kann die heutige beseitigen.» Das heisst doch: Die Sklaverei und deren Folgen fordern neues Unrecht. Gestern waren Schwarze die Opfer, nun müssen die Weissen für ihre «systemischen» Privilegien Busse tun, egal, ob Kind oder Opa, Arzt oder Arbeitsloser. Das System ist eine einzige Verschwörung gegen die schwarze Rasse.

Das Böse des Weissseins könne allenfalls unterdrückt, nicht überwunden werden. Wie wollen wir es nennen – Rassismus 2.0, bloss farbenverkehrt?

Halten wir nun das Offenkundige fest: Der Westen hat Einiges auf dem Kerbholz. 500 Jahre Eroberung und Kolonialismus, Sklaverei, Minderheitenhatz, Blutrunst im Namen des «wahren» Glaubens.

Rassistische DNA

Die historischen Belege lassen sich nicht wegretuschieren. Doch will die CRT weder vergeben noch versöhnen. Denn Rassismus sei Teil der weissen DNA. Der Weisse kann ihn nicht abschütteln, weil er nicht kapiert, wie verdorben er ist. Kein Ausweg. Sagt einer «Ich bin kein Rassist», beweise er nur, dass er einer ist. «Black Lives Matter» ist korrekt; «All Lives Matter» ist Rassismus.

CRT ist au fond eine Attacke gegen das Beste im Westen, die Fundamente des kritischen Denkens von Platon bis Planck. Die würden zum Schierlingsbecher greifen, wenn sie hörten, dass Wissen und Fakten nur in Anführungszeichen daherkämen.

Die opaken Sätze der Postmoderne können vielleicht Eingeweihte entziffern. Jenseits der löchrigen Wissenschaftstheorie stellen andere die moralische Frage: Hat nicht der Westen aus seinem eigenen Gedankengebäude heraus die Sklaverei abgeschafft, die Unterdrückung bekämpft, die Despoten vertrieben, Gleichheit und Freiheit zelebriert, die Entrechteten emanzipiert? Ist der Liberalismus nur ein Verschleierungstrick der beati possidentes, sind Demokratie und Rechtsstaat nur Scheingebilde? Wenn es keine Wahrheit gibt, sind Chemie und Atomphysik bloss «Narrative». Und Liberalismus ist Lüge.

Die Aufklärung bleibt die Messlatte

Trotz – wegen – all seinen Sünden hat der Westen die Massstäbe entwickelt, an denen er sich (wenn auch mit Verspätung) misst. Welche Zivilisationen stellen sich dergestalt selber infrage? Dagegen ist Critical Race Theory wie ein moralisches Hütchenspiel, wo der weisse Loser von vornherein feststeht. Verloren gehen hart erkämpfte liberale Werte, die entweder für alle oder keinen gelten. Die Aufklärung hat nicht das Kollektiv, sondern das Individuum mit unveräusserlichen Rechten ausgestattet: Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.

Die Rechte des Einzelnen werden nicht durch Hautfarbe, Glauben und Herkunft definiert. Solche «Sortierung» hatten wir schon einmal – von der Sklaverei bis zum industriellen Massenmord. Wenn Ergebnis- die Chancengleichheit verdrängt, Wettbewerb nur die Falschen belohnt, erstarrt die Welt. Die Regie führt dann ein übermächtiger Staat, der bestimmt, wer was kriegt, und so neue Privilegien schafft – siehe die Nomenklatura der Sowjetunion. Wir haben Jahrhunderte gebraucht, um Rassismus und Klassismus zu ächten. Und jetzt wieder Pigmentierung als Mass? So hatte sich das Martin Luther King nicht gedacht. So wenig wie die weissen Studenten, die in Mississippi ihr Leben riskierten.

Das klingt reichlich sonor. Ganz praktisch: Es hilft keinem schwarzen Kind, wenn es in der woken Schule lernt, dass Mathematik ein Komplott der Suprematisten sei und es selber das ewige Opfer. Laut CRT ist der junge Mensch kein handlungsfähiges Ich mit den Chancen, die seinen Vorfahren per Lynchen und Gesetz geraubt wurden. Es gibt keine Erlösung. Critical Race Theory ist Rückschritt und Irrweg zugleich. Sie faselt von Revolution, um Reform zu ersticken.

Josef Joffe unterrichtet Politik und Ideenlehre an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies in Washington.

März 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Ein Blogger hat fälschlicherweise verbreitet, sie sei schuld an der Pandemie. Menschen in aller Welt glauben ihm, Benassis Leben gerät aus den Fugen – dann beginnt sie zu kämpfen.

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Nov. 2022 | Allgemein, In vino veritas, Junge Rundschau, Politik, Sapere aude, Zeitgeschehen, In Arbeit | Kommentieren

Der Deutsche Bundestag stellt die Leugnung und Verharmlosung von Grossverbrechen unter Strafe. Doch das ist der falsche Weg, um gegen Hetzer und Wirrköpfe vorzugehen.

Putin-Anhänger demonstrieren im April in Frankfurt.

Putin-Anhänger demonstrieren im April in Frankfurt.

Thomas Lohnes / Getty

«Die Befreiung von Mariupol war eine humanitäre Aktion und rettete seine Bewohner vor dem Genozid.» Wer das in Zukunft öffentlich behauptet, kann sich in Deutschland strafbar machen. Der Bundestag hat den Straftatbestand der sogenannten «Volksverhetzung» in aller Stille ausgeweitet: Er verbietet jetzt ganz allgemein die Billigung, Leugnung oder Verharmlosung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen. Zumindest dann, wenn solche Äusserungen den «öffentlichen Frieden» stören.

Das ist eine einschneidende und möglicherweise folgenreiche Gesetzesänderung. Das deutsche Parlament verabschiedete sie ohne grössere Debatte, fast schon lautlos. Für die Änderung stimmten sowohl die Abgeordneten der Ampelkoalition als auch jene der CDU/CSU-Fraktion. Bloss die extremen Flügelparteien, die Linke und die AfD, waren dagegen.

Befürworter des Gesetzes betonen, es handle sich nicht um eine «Lex Putin», kein Instrument also für den Informationskrieg mit Russland. Es geht den Gesetzgebern vielmehr darum, den Straftatbestand der «Volksverhetzung» nicht mehr nur auf die Leugnung des Holocausts zu beschränken.

Der Holocaust als deutsches Tabu

Im Grunde handelt es sich um die Antwort auf eine gesellschaftliche Debatte, die die Singularität des Holocausts infrage stellt. Ihre Vertreter möchten dieses Verbrechen vergleichbar machen mit anderen: dem Genozid an den Herero und Nama in Deutsch-Westafrika etwa, den stalinistischen Massenmorden oder der Auslöschung von Ureinwohnern in Amerika.

Doch ist die Ausweitung des Gesetzes sinnvoll? Aus liberaler Sicht ist schon das Verbot der «Auschwitzlüge» problematisch. Es ist ein Eingriff in die Meinungsäusserungsfreiheit, das etwa der angelsächsischen Idee der «freedom of speech» klar widerspricht. Anders als Grossbritannien und die USA haben sich in Kontinentaleuropa 16 Länder, darunter auch die Schweiz, Gesetze gegeben, die die Leugnung oder Verharmlosung des Holocausts strafbar machen.

Diese Verbote sollen dem Kampf gegen den Antisemitismus dienen und Reputationsschäden im Ausland vorbeugen, die durch die öffentliche Leugnung oder Verharmlosung des Mordes an den Juden entstünden. Doch im Fall der ehemaligen «Täternation» geht es noch um mehr.

Der Holocaust ist für die Bundesrepublik so etwas wie ein negatives Gründungsnarrativ geworden. Ihre Daseinsberechtigung wird massgeblich aus der Abgrenzung von diesem Verbrechen hergeleitet und der Verpflichtung, den «Zivilisationsbruch» nie zu vergessen. In diesem Sinn ist das Gedenken an den Holocaust ein Teil der nationalen Identität, der mit dem Verbot der «Auschwitzlüge» abgesichert wird.

Auf Aufklärung statt auf Richter setzen

Daraus nun abzuleiten, dass auch die Auseinandersetzung um andere Grossverbrechen unter richterliche Kontrolle gestellt werden soll, ist aber falsch. Denn die offene Gesellschaft hat wirksamere Mittel gegen Lügen und Hetze als Gerichte. Allen voran die öffentliche Debatte, die mit Argumenten und Gegenargumenten Ereignisse einordnet und bewertet. Natürlich wird man Verschwörungstheoretiker und andere Wirrköpfe damit nicht überzeugen können. Aber stete Aufklärung immunisiert einen ausreichenden Teil des Publikums gegen deren Gift.

Die historische Forschung trägt entscheidend zu diesem Diskurs bei. Ihre Aufgabe ist es gerade nicht, geschichtliche Wahrheiten ein für alle Mal festzuschreiben. Denn neue Quellen und neue Interpretationen verändern die Geschichtsbilder. Dass deutsche Richter nun gezwungen werden, bei immer mehr historischen Ereignissen Sagbares von Unsagbarem zu trennen, ist nicht gut. Die Kritikfähigkeit der offenen Gesellschaft verdient mehr Vertrauen.

 

Das Problem an Verboten ist doch, dass dann in der Öffentlichkeit kein Diskurs mehr stattfinden kann, da ja jemand der das Thema verleumden will gar nichts sagen dürfte. Dieses Gefühl der Unterdrückung ist sicher kontraproduktiv für eine offene Gesellschaft. Deshalb bin ich eher gegen Verbote. Grundsätzlich sollte man in der Öffentlichkeit über jeden „Senf“ diskutieren dürfen.

Von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt, ohne Ankündigung und nach ultrakurzer Debatte zu später Stunde hat der Bundestag  überraschend eine Verschärfung des Volksverhetzungs-Paragrafen 130 StGB beschlossen. Warum so heimlich? – Was wahr, was falsch ist und was man für wahr halten darf und was nicht, bestimmt zunehmend der Staat. Gesund ist das für eine freiheitliche Demokratie nicht. Das scheint auch der Regierung bewusst zu sein, sonst hätte sie die Gesetzesnovelle nicht einer Nacht-und-Nebel-Aktion durchs Parlament lanciert.

Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Jetzt haben Archäologen herausgefunden, warum die Stadt plötzlich zum Dorf schrumpfte. In einem neu entdeckten Stadtviertel fanden sich Läden und Lokale, Münzen und sogar Reste von Mahlzeiten. Ihre perfekte Erhaltung gibt einen Hinweis darauf, was im 7. Jahrhundert nach Christus geschah.

Die berühmteste Sehenswürdigkeit von Ephesos dürfte diese Marmorstatue aus römischer Zeit sein, die Archäologen für eine Kopie des Kultbildes der Göttin Artemis halten. Die vielen Brüste waren vielleicht die Hoden der geopferten Stiere.

Die berühmteste Sehenswürdigkeit von Ephesos dürfte diese Marmorstatue aus römischer Zeit sein, die Archäologen für eine Kopie des Kultbildes der Göttin Artemis halten. Die vielen Brüste waren vielleicht die Hoden der geopferten Stiere.

Philippe Michel / Imago

Neben der Statue der Göttin mit den vielen Brüsten verblasst natürlich alles, was Ephesos sonst noch zu bieten hat. Trotzdem ist das, was österreichische Archäologen jetzt in den Ruinen der antiken Stadt in der Türkei entdeckt haben, beachtenswert: ein Stadtviertel mit kleinen Läden, in dem sich sogar die Essensreste im Geschirr erhalten haben. Die perfekten Bedingungen erlauben einen «Einblick in einen Tag des Jahres 614/615 nach Christus», wie die leitende Archäologin Sabine Ladstätter es ausdrückt. Und dieser Fund könnte endlich auch erklären, warum die Stadt nach diesem Tag so grundlegend anders aussah als zuvor.

Der Artemis-Tempel von Ephesos war eines der sieben Weltwunder

Ephesos war eine griechisch dominierte Stadt an der Westküste der heutigen Türkei. Die Küstenlinie hat sich verschoben, heute liegen die Ruinen einige Kilometer vom Meer entfernt. Die Stadt war in der Antike berühmt für ihren Tempel der Göttin Artemis. Dieses seit mindestens dem 8. Jahrhundert vor Christus bestehende Artemision wurde mehrfach zerstört und danach jedes Mal grösser und prunkvoller wiederaufgebaut.

Auf dem Luftbild von Ephesos ist vor allem das antike Theater gut erkennbar. Vom ausserhalb dieses Areals befindlichen Tempel der Artemis sind nur wenige Fragmente erhalten.

Auf dem Luftbild von Ephesos ist vor allem das antike Theater gut erkennbar. Vom ausserhalb dieses Areals befindlichen Tempel der Artemis sind nur wenige Fragmente erhalten.

ÖAW-ÖAI / Niki Gail

Die letzte Version wurde im 4. Jahrhundert begonnen und nie fertiggestellt, ständig wurde daran weitergebaut. Auch so galt das Gebäude als eines der sieben Weltwunder. Es mass 137 Meter in der Länge, 69 Meter in der Breite und 18 Meter in der Höhe, war also grösser als ein Fussballfeld und so hoch wie ein sechsstöckiges Gebäude – und ist heute komplett verschwunden.

Ebenfalls verschwunden ist das Kultbild, das der Tempel beherbergte. Wie es ursprünglich aussah, darüber lässt sich nur spekulieren. Auf Münzbildern ab dem 2. Jh. v. Chr. und auch in Kopien aus römischer Zeit jedenfalls ist es als Frauenfigur zu sehen, der Oberkörper bedeckt mit etwas, was aussieht wie mit Wasser gefüllte Ballons. Sie werden als Brüste identifiziert; eine unter Archäologen populäre Theorie ist, dass die Statue mit den Hodensäcken von der Göttin geopferten Stieren behängt war.

Die Menschen in Ephesos assen Meeresfrüchte und Pfirsiche

Das nun von österreichischen Archäologen entdeckte Stadtviertel liegt zwar in der Nähe des politischen Zentrums der römischen Stadt, der Oberen Agora, entstand aber erst in der Spätantike. Seit der Teilung des Römischen Reiches im Jahr 395 n. Chr. in eine Ost- und eine Westhälfte gehörte Ephesos zum oströmischen Reich, das nach der Kaiserresidenz Byzanz, dem heutigen Istanbul, auch «byzantinisches Reich» genannt wird.

Auf der ausgegrabenen Fläche von etwa 170 Quadratmetern fanden die Archäologen eine Reihe kleiner Geschäfte, Lokale und Werkstätten, die Mauern zum Teil bis zu 3,4 Metern hoch erhalten, und darin, versiegelt unter einer einen Meter dicken Brandschicht, den gesamten Hausrat: Weinkrüge und Becher, Schüsseln mit Resten von Meeresfrüchten wie Herzmuschel oder Austern, ein Lagerraum mit Amphoren, gefüllt mit eingesalzenen Makrelen, ferner Kerne von Pfirsichen, Mandeln und Oliven, verkohlte Erbsen und Hülsenfrüchte.

In diesem Lagerraum fanden sich zahlreiche Gefässe noch mit ihrem ursprünglichen Inhalt sowie eine Geschäftskasse mit über 400 Kupfermünzen.

In diesem Lagerraum fanden sich zahlreiche Gefässe noch mit ihrem ursprünglichen Inhalt sowie eine Geschäftskasse mit über 400 Kupfermünzen.

ÖAW-ÖAI / Niki Gail

Bei dem einen Laden handelte es sich offenbar um eine Strassenküche, in der es das Essen nur zum Mitnehmen auf die Hand gab, denn es ist zwar Kochgeschirr aus Bronze und Keramik erhalten, aber keine Speise- und Trinkgefässe. Ein anderer Laden verkaufte Lampen und christliche Pilgerandenken, eine Werkstatt für Holzgegenstände hatte ebenfalls Souvenirs im Angebot.

Ephesos war ein beliebtes Ziel christlicher Pilger

Die Ausrichtung auf die religiöse Kundschaft kam nicht von ungefähr: In Ephesos wurden in frühbyzantinischer Zeit mehrere Heilige verehrt, die «Sieben Schläfer», Märtyrer des frühen Christentums, sowie der Apostel Johannes, über dessen angeblichem Grab eine Kirche stand. Das neu entdeckte Viertel liegt an der prominentesten Strasse der Stadt, die vom Hafen zu den grossen christlichen Heiligtümern führt und auch für Prozessionen genutzt wurde. Beliebt als Souvenir oder Mitbringsel waren offensichtlich die sogenannten Pilgerfläschchen, kleine, nur zwei bis drei Zentimeter hohe Keramikgefässe, in denen sich Staub oder Erde aus der Umgebung der Heiligtümer sammeln und mitnehmen liess und die an einer Schnur um den Hals getragen werden konnten. 600 dieser Fläschchen haben die Ausgräber zutage gefördert.

Die sogenannten Pilgerfläschchen konnten mit einer Schnur um den Hals getragen werden.

Die sogenannten Pilgerfläschchen konnten mit einer Schnur um den Hals getragen werden.

ÖAW-ÖAI / Niki Gail

In mehreren Läden fanden sich ausserdem noch die Geschäftskassen, insgesamt über 1000 Münzen, die meisten aus Kupfer, vier jedoch aus Gold. Entscheidender als das Material ist jedoch, dass sich anhand dieser Münzen der Zeitpunkt sehr genau feststellen lässt, wann das blühende wirtschaftliche Leben ein plötzliches Ende nahm: Sie stammen aus der Herrschaft des byzantinischen Kaisers Herakleios und lassen sich auf das Jahr 614/615 nach Christus datieren. Die genaue Analyse der gefundenen Früchte kann das dann sogar noch auf die Jahreszeit eingrenzen.

Das Ende war nicht friedlich. Funde von Pfeilspitzen und Lanzen sowie die dicke Schicht mit Brandschutt zeugen von einem feindlichen Angriff. Immerhin: menschliche Überreste haben die Archäologen nicht gefunden. Grabungsleiterin Ladstätter vermutet, dass die Menschen noch fliehen konnten oder aber der Überfall in der Nacht geschah und die Lokale und Geschäfte leer waren.

Interessant ist, dass nach dem Angriff offenbar niemand mehr da war, der sich für die Häuser unter dem Schutt interessierte. Normalerweise wird – auch heute noch – ein zerstörtes Haus früher oder später nach Brauchbarem durchsucht, sei es von ehemaligen Bewohnern, sei es von Fremden. Im Fall des niedergebrannten Viertels in Ephesos wäre wohl zumindest das Geld in den Kassen ein Anreiz gewesen, den Schutt zu durchwühlen. «Wir wissen sicher, dass aus den Häusern nichts entnommen wurde, es also keine Plünderung gab und auch später die Brandschicht nicht durchwühlt wurde», sagt Ladstätter. «Das Areal wurde auch danach nicht mehr benutzt. Das kann rechtliche Gründe haben, aber auch topografische, denn das Areal liegt ausserhalb der byzantinischen Stadtmauer, und es spricht vieles dafür, dass dieses nach den Zerstörungen 614/615 nicht mehr bewohnt wurde.»

In dem neu entdeckten Stadtviertel aus frühbyzantinischer Zeit in Ephesos befanden sich Läden, Werkstätten und Lokale sowie eine Strassenküche.

In dem neu entdeckten Stadtviertel aus frühbyzantinischer Zeit in Ephesos befanden sich Läden, Werkstätten und Lokale sowie eine Strassenküche.

ÖAW-ÖAI / Niki Gail

Nach dem Angriff schrumpft Ephesos zum Dorf

Der nun dokumentierte Angriff könnte auch endlich den Grund für das offenbaren, was Archäologen schon in anderen Vierteln in Ephesos beobachtet hatten, aber nicht erklären konnten: Im 7. Jahrhundert wurde die Stadt sprunghaft kleiner, war im Grunde nur noch ein Dorf, der Lebensstandard sank auf ein ländliches Niveau, das Geld verschwand und wurde durch Tauschhandel ersetzt, die Menschen lebten nur noch innerhalb der Stadtmauer. Aus anderen Quellen weiss man, dass es zu dieser Zeit immer wieder Ärger mit den Persern, zu dieser Zeit Sasaniden genannt, gab. Ladstätter vermutet sie deshalb hinter dem Angriff und sieht in ihm die Ursache für die Zerstörung und die darauffolgende Schrumpfung der Stadt.

Ephesos ist heute eine der wichtigsten touristischen Attraktionen der Türkei und zieht jedes Jahr zwei Millionen Besucher an. Ihnen soll in den kommenden Jahren auch das neu ausgegrabene Areal zugänglich gemacht werden. Den meisten wird allerdings angesichts der vielen anderen antiken Bauwerke wie dem Theater das kleine frühbyzantinische Ladenviertel ganz entgehen. Und im archäologischen Museum von Ephesos werden sie nicht staunend vor den dann dort ausgestellten Pilgerfläschchen stehen, sondern vor der römischen Statue der Artemis mit den vielen Brüsten.

Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel hat die Bundesregierung davor gewarnt, sich im Russland-Konflikt von den wiederkehrenden Drohungen des Kremls beeindrucken zu lassen. „Das ist meine größte Sorge – ob wir den Erpressungen nachgeben oder standhalten. Ob wir zusammenhalten oder uns auseinanderdividieren lassen“, sagte er im Gespräch.

„Für Putin eröffnen sich da neue Spielräume, auch bei unseren Wahlen. Er ist noch nicht am Ende“, so Schlögel. Dem Druck zu widerstehen, werde „nicht nur für die Ukraine entscheidend sein, sondern letztlich auch für die russische Bevölkerung“. Die russische Führung versucht immer wieder, die EU und Deutschland von Sanktionen gegen Moskau und Waffenlieferungen an die Ukraine abzubringen.

Zu Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hatte Schlögel, der als einer der besten Kenner Russlands und der Ukraine gilt, teils heftige Kritik an deutschen Politikern geübt. „Wir waren weder auf den russischen Angriff vorbereitet noch darauf, dass die Ukraine dem standhalten kann und nun in einigen Regionen die Initiative übernimmt. Die Devise ist also, dass wir auf alles gefasst sein sollten“, ergänzte der Historiker.

„Wir haben wenig Einfluss auf das, was in Russland passiert“

Mit Blick auf die innerrussische Entwicklung wandte sich Schlögel gegen die Hoffnung, der Westen könne darauf Einfluss nehmen. „Man muss sich von der Vorstellung verabschieden, dass die interne Entwicklung Russlands von uns irgendwie gestaltet werden könnte“, sagte er. Wir haben wenig Einfluss auf das, was in Russland passiert. In den nächsten Jahren gehe es allenfalls um „eine Eindämmung Russlands“ – ein Konzept, das die USA nach dem Zweiten Weltkrieg auch gegenüber der Sowjetunion verfolgt hatten. Das Land befinde sich nach wie vor „inmitten der Auflösung eines Imperiums“, was den Umgang mit der russischen Führung umso schwieriger mache.

Die Ukraine hingegen sieht Schlögel auf einem Weg in Richtung EU, der sich in den vergangenen Jahren noch beschleunigt habe. „Die Ukraine ist seit 30 Jahren ein europäisches, offenes Land“, sagte er. „Ganz Europa ist voll von ukrainischen Arbeitern, ganz Oberitalien, Spanien oder auch Berlin.“ Die Vielzahl an Kontakten habe dazu geführt, dass die Rechtsverhältnisse und Routinen der EU vielen Ukrainern deutlich vertrauter seien als die von Russland bestimmte postsowjetische Welt. Es haben eine „informelle Europäisierung“ stattgefunden.

Schlögel, Autor von Büchern wie „Entscheidung in Kiew“ oder „Das sowjetische Jahrhundert“, gilt als einer der besten Kenner Russlands und der Ukraine. Er lehrte an den Universitäten in Konstanz sowie Frankfurt an der Oder und beschäftigt sich seit langem auch mit der modernen Entwicklung im Osten Europas.

 

Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Mit 143 Metern gilt sie als größte Segeljacht der Welt und gehört einem russischen Oligarchen. Recherchen zeigen: Deutsche Steuergelder flossen in den Bau.

Russische Oligarchen sind gemeinhin nicht dafür bekannt, besonders zurückhaltend ihren Reichtum zu präsentieren. Andrej Melnitschenko ist einer dieser Oligarchen, die mit ihrem Vermögen sehr offen umgehen. Und so überrascht es nicht, dass er es sein soll, dem die größte Segeljacht der Welt gehört – sie heißt schlicht „A“. Die Jacht hat fast 90 Meter hohe Masten, acht Decks und einen Boden aus gebogenem Glas, damit man die Unterwasserwelt bestaunen kann.

Wie beeindruckend diese Superjacht in Bewegung aussieht, sehen Sie im Video hier.

Superreich und nah am Kreml

Ob dort je ein dickerer Fisch als Melnitschenko selbst vorbeigeschwommen ist, ist bislang nicht überliefert. Nur so viel: Mehr als 400 Millionen Euro soll das Schiff gekostet haben. Und nach jetzigen Informationen stammt ein Teil des Geldes aus einem Förderprogramm des Bundes und der Länder. Andrej Melnitschenko, der Besitzer, ist 50 Jahre alt und gilt als ein enger Vertrauter Putins. Er soll laut Schätzungen des Magazins „Forbes“ ein Vermögen von gut 26 Milliarden Dollar besitzen und ist Eigentümer des russischen Düngemittelherstellers Eurochem. 100.000 Mitarbeiter sind in seinem Unternehmen beschäftigt.

Derzeit liegt die Segeljacht im Hafen von Triest. Der Stopp dort ist aber alles andere als freiwillig. Aufgrund des russischen Angriffskrieges hat die EU Melnitschenko auf die Sanktionsliste gesetzt und seine Jacht festgesetzt. Das passierte wohl schon im März dieses Jahres. Gebaut wurde die „A“ aber nicht im warmen Italien, sondern im windigen Kiel – von der Nobiskrug-Werft in Zusammenarbeit mit der damaligen Schwesterwerft German Naval Yards.

Bundesamt bewilligte die Gelder

Dafür haben die Schiffsbauer mehrere Millionen Euro Fördergelder des deutschen Staats erhalten. Genau genommen geht es um mindestens drei Millionen Euro, die vom Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle bewilligt wurden – wahrscheinlich sind es jedoch noch deutlich mehr.

Wie ist so etwas möglich? „Innovativer Schiffbau sichert wettbewerbsfähige Arbeitsplätze“ heißt das Programm des Bundes und der Länder, mit dem innovative Produkte und Verfahren im maritimen Sektor unterstützt werden. In den Förderrichtlinien steht geschrieben: „Innovationen im Sinne dieser Richtlinie sind industrielle Anwendungen von Produkten oder Verfahren, die im Vergleich zum Stand der Technik in der Schiffbauindustrie in der Europäischen Union technisch neu oder wesentlich verbessert sind und das Risiko eines technischen oder industriellen Fehlschlags bergen.“ Ein Fehlschlag war die Segeljacht nicht, so viel ist klar.

Die "SY A" gilt als die größte Segelyacht der Welt.
Supersegeljacht „A“: Sie gehört einem russischen Oligarchen (Quelle: TheYachtPhoto.com/imago-images-bilder)

Weit über 3 Millionen Euro Förderung

Die Unternehmen bekommen Aufträge und können dann Fördermittel für die Durchführung der Projekte beantragen. Das tat offensichtlich auch die Nobiskrug-Werft, als sie den Auftrag für die größte Segeljacht der Welt erhielt. In den exklusiven Dokumenten ist die „A“ noch unter ihrem Arbeitstitel „White Pearl“ zu finden. Aus dem vertraulichen Dokument, das die Zahlen der Fördermaßnahmen einzeln aufführt und t-online vorliegt, gehen mindestens vier Raten hervor, die die Werft erhielt. Betreff: „White Pearl“. Insgesamt deutlich mehr als 3 Millionen Euro – gleichermaßen bezahlt aus Bundes- und Landesmitteln.

Die Segelyacht "A" liegt vor dem Hafen von Triest
Die Segeljacht „A“ liegt vor dem Hafen von Triest. (Quelle: Screenshot: vesselfinder.com)

Die Förderung hat den Vorteil, dass Arbeitsplätze in der Region gesichert werden und häufig sowieso strauchelnde Unternehmen wie die Nobiskrug-Werft zumindest eine Finanzspritze bekommen. Auf der anderen Seite werden so auch russische Oligarchen und deren Größenwahn unterstützt. Im Übrigen: Einige Jahre nach dem Bau der Oligarchen-Jacht musste die Nobiskrug-Werft trotzdem Insolvenz anmelden. Sie wurde von der Flensburger FSG-Werft aufgekauft.

  • 143 Meter lang: Italienische Behörden beschlagnahmen Superyacht
  • In Italien: Weitere Oligarchen-Jacht festgesetzt
  • „Gar nicht fahrtüchtig“: Oligarchen-Jacht in Hamburg: Neue Details

Auf der Internetseite der EU-Kommission sind die Förderungen für die Werft veröffentlicht; bei Beträgen ab 500.000 Euro ist das Pflicht. Acht Millionen Euro hat die Werft in dem Förderprogramm demnach erhalten – ob und wie viel davon tatsächlich in den Bau der „A“ geflossen sind, dazu hat das Unternehmen bislang keine Auskunft gegeben. Das Dokument, das t-online vorliegt, zeigt: Es waren gut drei Millionen Euro. Wenn nicht sogar mehr.

Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

 


Ruhegelder für Senderchefs kosten ARD und ZDF Millionen.
Gut gesichert: Vielen Führungs­kräften von ARD und ZDF stehen vor der Rente sechs­stellige Ruhegelder zu, ergibt eine NDR-Recherche. RBB-Programm­direktor Jan Schulte-Kellinghaus(von links) habe Anspruch auf ein jährliches sechs­stelliges Ruhegeld, wenn der Sender seinen Vertrag nach Ablauf nicht verlängere. Die stell­vertretende Intendantin des NDR, Andrea Lütke, könne ebenfalls bis zur Rente mit Ruhegeld rechnen, sollte sich der Sender von ihr trennen. Der MDR hat insgesamt mehr als 15 Mio Euro für die Versorgung seiner Intendantin Karola Wille und der acht Direktorinnen zurück­gelegt, das ZDF rund 20 Mio Euro. Der WDR hat sich zwar von der Ruhegeld-Regelung verabschiedet, hat aber für vier Führungs­kräfte um die 14 Mio Euro für Pensionen zurück­gestellt. SR und Deutschland­radio zahlen keine Ruhegelder.
tagesschau.de, turi2.de (Background)

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Laut aktuellen IVW-Zahlen sind BILD (Mo-Sa) und BILD am SONNTAG (So) auch weiterhin die Marktführer im Segment der Tages- und Sonntagszeitungen.
mediaimpact.de
(* IVW Q3/2022, Tages- und Sonntagszeitungen, Verkauf gesamt: BILD Deutschland Gesamt (inkl.B.Z.): 1.187.291 Exemplare und BILD am SONNTAG: 622.814 Exemplare)

– NEWS –

Grauzone: Der SWR will gegen das Urteil des Land­gerichts Stuttgart Berufung einlegen, das die Verbreitung der App Newszone in einer früheren Version untersagt. Die App, die Nachrichten von dasding.de anbietet, sei laut Gericht teilweise zu presse­ähnlich. SWR-Intendant Kai Gniffke sieht in der App kein separates Angebot, sondern einen „Ausspiel­weg, der genau für die hier in Frage kommende Zielgruppe relevant ist“.
presseportal.de, turi2.de (Background)

Es hackt: Beim Cyber-Angriff auf einen IT-Dienst­leister der dpa Anfang Oktober sind die Täterinnen offenbar an Gehalts­abrechnungen und Konto­daten von rund 1.500 Beschäftigten gelangt, berichtet „Spiegel“. Die Hacker-Gruppe „Black Basta“ könne damit Identitäten stehlen und für betrügerische Geschäfte verwenden. Die Gruppe sei auch für den Angriff auf den Autovermieter Sixt Ende April verantwortlich.
spiegel.de, turi2.de (Background)

Schmettert ab: Bertelsmann gibt der Spiegel-Mitarbeiter-KG einen Korb. Der Medien­konzern plane nicht, sich von seiner „Spiegel“-Beteiligung von 25,5 % zu trennen, sagt ein Sprecher auf Nachfrage von Meedia. Die Mitarbeiter-KG, die 50,5 % am „Spiegel“ hält, hatte Bertelsmann via „Horizont“ Avancen gemacht und Interesse an einer Übernahme bekundet.
meedia.de, turi2.de (Background)

Beförderung? Check! Der CEO der Holiday­check Group Marc Al-Hames rückt 2023 in den Vorstand von Burda auf. Er verantwortet im Team von CEO Martin Weiss die E-Commerce-Sparte Burda Commerce, die Beteiligungs­gesellschaft Burda Next sowie den Dienst­leister Burda Digital Systems. Al-Hames ist seit 2011 im Verlag und seit 2020 Chef der Reise­plattform.
burda.com

Heben ab: Moderatorin Linda Zervakis und Wissen­schaftlerin Insa Thiele-Eich starten den Podcast „Stardust“, produziert von Studio Bummens. Darin sprechen sie ab 1. November immer dienstags über die „großen und kleinen Fragen des Lebens“. Zum Beispiel: Wie fliegt man ins All? Denn genau das hat Thiele-Eich als angehende Astronautin vor.
stardust-podigee.io (90-Sek-Trailer)

Abschlepper: Der Begriff „Smash“ ist das Jugendwort des Jahres, gewählt von 43 % der Jugendlichen in einer Online-Umfrage des Langenscheidt-Verlags. Der Begriff bedeutet so viel wie „jemanden abschleppen“ oder auch „mit jemandem Sex haben“ und entstammt dem Smartphone-Dating­spiel Smash oder Pass.
tagesschau.de, faz.net

Teure Bürger­kommunikation: Die Bundes­regierung hat 2022 bis zum 11. Oktober bereits 32,66 Mio Euro für Werbe- und Kommunikations­agenturen ausgegeben. Das geht aus einer Antwort auf eine Anfrage von Links­fraktions­chef Dietmar Bartsch hervor. Am meisten hat demnach mit 7,6 Mio Euro das Bundesforschungs­ministerium ausgegeben.
horizont.net, apotheke-adhoc.de

Schluss mit Kanye: Der Sport­artikel­hersteller Adidas arbeitet nicht mehr mit Kanye Westzusammen. Damit reagiert das Unternehmen auf antisemitische Äußerungen des US-Rappers. Gestern hatte der Präsident des Zentral­­rats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, Adidas aufgefordert, die Kooperation zu beenden.
spiegel.de, turi2.de (Background)

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„So gebündelt wie noch nie“ – Bettina Kasten und Kristian Costa-Zahn über das neue Angebot ARD Kultur.
Multikulturell: Das neue Angebot ardkultur.de versteht sich als Navigator durch die Kulturinhalte der ARD, erklären Bettina Kastenund Kristian Costa-Zahn in Videointerview mit turi2-Chefredakteur Markus Trantow. Die beiden leiten als Programmgeschäftsführerinnen das Projekt, das morgen startet und nicht nur die bestehenden Inhalte der ARD kuratieren, sondern auch „Portfolio-Lücken herausfinden“ soll. In Koproduktion mit einzelnen ARD-Sendern sind so bereits einige neue Formate entstanden, etwa eine Fashion-Sendung über Mode als Kulturform und ein Format über weibliche DJs. Viele Beispiele aus dem Programm zeigen wir im Video.
weiterlesen auf turi2.de, turi2.tv (9-Min-Video auf YouTube)

Willkommen im Club der turi2.de/koepfe: Nach über 16 Jahren bei Grabarz & Partner ist Stefanie Kuhnhen seit diesem Jahr Strategie­­chefin und Managing Partner bei Service­plan. Im Fragebogen der turi2 edition #19 sagt sie, dass „das gute alte Radio“ für sie „immer noch topaktuell“ ist. Kuhnhen ist neu im turi2-Club der wichtigsten Meinungs­macherinnen in Deutschland.
turi2.de/koepfe (Profil Kuhnhen)

Meistgeklickter Link heute Morgen: Der Soziologe Harald Welzer kritisiert den minuten­langen Applaus für den ukrainischen Friedens­preis­träger Serhij Zhadan.
faz.net

„Mir schwebt ein Podcast mit Angela Merkel und ihrem Mann vor wie ‘Paardiologie‘ von Charlotte Roche und Martin. Die ganze Welt fragt sich doch: Was macht eine Bundeskanzlerin nach 16 Jahren und wie funktioniert so eine Ehe?“

Spotifys Head of Podcast Saruul Krause-Jentschwünscht sich im Interview in der turi2 edition #19 einen Pärchen-Podcast mit der Altkanzlerin.
turi2.de

Hör-Tipp: Besonders Frauen im IT-Bereich müssen auf Social Media damit rechnen, dass sie „bei gesellschaft­lichen Themen hart angegangen werden“, sagt Kommunikations­berater Klaus Eck im Podcast „Team A“. Unternehmen sollten ihre Corporate Influencer unterstützen, wenn sie in einen Shitstorm geraten.
manager-magazin.de (37-Min-Audio)

Video-Tipp: In der „FAZ“-Redaktion herrscht Ratlosigkeit über das neu gewählte Jugend­wort des Jahres smash. Ist es etwas zu essen? Oder doch ein Schmetter­ball? Hätten die Redakteurinnen mal die „Tagesschau“ zu Rate gezogen. Dort liefert Sprecherin Susanne Daubner in gewohnt souveräner Weise ab.
instagram.com (FAZ), tiktok.com/@tagesschau(Susanne Daubner, 19-Sek-Video)

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– BASTA –
WhatsDown: Der Messenger WhatsApp war heute morgen von einer welt­weiten Störung betroffen. Das Senden und Empfangen von Nachrichten war fast zwei Stunden lang nicht möglich. Autorin Amalie Göltenboth kennt den Grund: „Die erste von vielen, vielen Plagen (um genau zu sein: zehn), die uns ereilen werden, weil RTL ‚Die Passion 2‘ abgesagt hat“.
focus.de, twitter.com

Redaktion: Nancy Riegel und Pauline Stahl

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Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren

Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger haben die Querdenker-Szene von Anfang an begleitet. Im Interview erklären sie, warum viele nicht mehr zurück können.

„Libertären Autoritarismus“ nennen die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Denkweise der Querdenker – auf den ersten Blick ein Paradox. Noch 2016 analysierte Nachtwey in seinem Bestseller „Die Abstiegsgesellschaft“ eine Bundesrepublik, die ihre eigenen Versprechen nicht mehr halten kann.

Amlinger legte 2021 mit „Schreiben“ eine Untersuchung der Arbeitsbedingungen von Schriftstellern vor. Seit den Anfängen der sogenannten Querdenken-Bewegung 2020 haben sie die Szene gemeinsam beobachtet. Mit „Gekränkte Freiheit“ erscheint nun ihre umfassende Analyse einer neuen, gefährlichen Weltanschauung.

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Frau Amlinger, Herr Nachtwey, die Proteste gegen Corona-Maßnahmen waren geprägt von einem Beharren auf Freiheit und Autonomie, eigentlich also anti-autoritären Werten. Sie analysieren die Querdenker-Szene dennoch als „libertäre Autoritäre“. Was macht dort den autoritären Charakter aus?

Carolin Amlinger: Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, würden sich selbst nicht als Rechte oder Autoritäre bezeichnen. Oft wurden sie links oder liberal sozialisiert, Selbstverwirklichung und Kosmopolitismus sind wichtige Werte für sie. Mittlerweile tragen sie jedoch ein so absolutes Freiheitsverständnis vor, dass wir einen Drift ins Autoritäre beobachten können. Wir sehen aber keine Identifikation mit einem starken Führer wie beim klassischen Autoritären. Es gibt auch keinen Hang zu konventionellen Werten. Was wir aber gefunden haben, ist autoritäre Aggression gegenüber Personen und Institutionen, die angeblich ihre individuellen Freiheitsrechte missachten.

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Aus welchen Milieus stammen diese libertären Autoritären? Sind das alles abgehängte Arbeiter?

Oliver Nachtwey: Eben nicht. In unseren Untersuchungen sind wir fast gar nicht auf Arbeiter, sondern auf Personen aus der modernen Mitte gestoßen. Wenig Industrie- oder Facharbeiter, dafür viele Angestellte und Selbständige, Menschen mit höherer Qualifikation. Wir haben nicht den klassischen Konservativen gefunden, der auch mal zu autoritären Ideen neigt, sondern Leute, die von progressiven Ideen kommen und über die politische Dynamik dann immer schneller nach rechts gehen. Das meinen wir, wenn wir von „Drift“ sprechen.

Wie kam es, dass der Staat in diesem Milieu schnell zu einer Hassfigur wurde?

Oliver Nachtwey: Es gibt erhebliche Klassenunterschiede in der Art, wie man den Staat vorher erlebt hat. Man sieht das zum Beispiel am Hartz-IV-Empfänger: Wer in Deutschland Transferzahlungen bezogen hat, der hat unmittelbare Erfahrungen mit dem Staat gemacht. Man musste sein Privatleben bis ins Badezimmer, bis zur Zahnbürste offenbaren und konnte sanktioniert werden, wenn man sich dem nicht gefügt hat.

Carolin Amlinger: Für die unteren Klassen und Arbeiter hat der Staat immer schon stark in das Alltagsleben hineindirigiert. Für jene Milieus, die auf Selbstverwirklichung und Autonomie zielen, war der Staat hingegen immer Garant ihrer Freiheit. Er war also nicht als disziplinierende Instanz präsent.

Oliver Nachtwey: Die Leute in unserer Untersuchung haben eigentlich immer vom Staat profitiert. Man hatte gute Straßen, eine gute Bildung und generell eine Gesellschaft, die funktioniert. Aber weil diese Gesellschaft funktioniert hat, blieb sie unsichtbar und wurde als selbstverständlich hingenommen.

Carolin Amlinger: Und in der Pandemie waren plötzlich auch diese Milieus mit Staatsinterventionen konfrontiert, die sie vorher nicht kannten.

Oliver Nachtwey: Durch die vorherige Unsichtbarkeit des Staates haben gerade diese Menschen vergessen, dass sie abhängig sind vom Rest der Gesellschaft. Jetzt nehmen sie Freiheit als etwas Absolutes, das ihnen persönlich gehört und verdrängen, dass diese Freiheit soziale Voraussetzungen hat. Jemand aus der oberen Mittelschicht begegnet dem Staat fast nie oder höchstens mal, wenn er die Kinder in der Schule anmeldet oder in eine Verkehrskontrolle kommt. Nur bei der Steuer ärgert man sich jedes Jahr. Aber da kommt nicht das Jugendamt oder das Sozialamt vorbei. Da gibt es keine Sanktionierung. Den Staat haben sie vorher als Enabler, nicht als Eingreifenden wahrgenommen. Jetzt haben diese Leute plötzlich gesehen: Der kann auch anders. Und das waren sie nicht gewohnt.

Werden wir also zu Bürgern, die nicht mehr mit Krisen umgehen können, die nur der Staat lösen kann? 

Oliver Nachtwey: Der Kapitalismus erzeugt diese Krisen. Auch die Pandemie ist eine Folge der Globalisierung. Wenn man sich die Geschwindigkeit ihrer Verbreitung anschaut, lag das daran, dass die Welt so eng vernetzt ist. Der Staat hat immer eine Doppelfunktion: Er muss die Wirtschaft am Laufen halten, aber dafür auch Regeln setzen. Das auch das nötig ist, haben viele verdrängt. Die Wahrnehmung lautet jetzt, dass er sich gegen eine Gruppe richtet, die immer wahnsinnig vom Staat profitiert hat. Und vor allem in dem Sinn, dass sie konkret wenig mit ihm zu tun hatte.

Carolin Amlinger: Krisen erscheinen so nicht mehr als gesellschaftliche Konflikte, sondern als individuelle Angelegenheiten. Dieses, wie wir es angelehnt an den ungarischen Philosophen Georg Lukács nennen, verdinglichte Bewusstsein der eigenen Situation sorgt dafür, dass man nicht mehr so leicht in Zusammenhängen denken kann. Alles erscheint fragmentiert: Energiekrise, Klimakrise, Pandemie. Die Proteste, die wir beobachtet haben, wehren die Gesellschaft als solche – teilweise eben autoritär – ab und verdrängen die eigene Verstrickung in ihr.

Zu den Personen
Carolin Amlinger, geboren 1984, ist Literatursoziologin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Basel.
Oliver Nachtwey, geboren 1975, ist Soziologe und Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel.

Damit einher geht die Vorstellung, dass Krisen nur durch Verschwörungen erklärbar seien. Aber auch wenn man vernünftig über das isolierte Bewusstsein hinausgehen will, muss man doch Zusammenhänge erkennen und Verantwortliche benennen. Wie unterscheidet sich das Verschwörungsdenken davon?

Carolin Amlinger: Letztlich geht das Verschwörungsdenken von einem ähnlichen Punkt aus wie klassische Formen der Gesellschaftskritik: Am Anfang steht die Vorstellung, dass sich hinter der oberflächlichen Realität noch tiefere, im Alltag nicht unmittelbar sichtbare Herrschaftsstrukturen verbergen. Der Unterschied ist, dass es im Verschwörungsdenken immer intentionale Akteure gibt, die das Geschehen im Hintergrund lenken. Statt diese Akteure dann in gesellschaftlichen Prozessen zu denken, werden sie als einzelne, oft antisemitisch codierte Figuren gedacht. Da sieht man die Gesellschaftsvergessenheit: Einzelne Figuren initiieren Krisen, nicht unsere Gesellschaft.

Oliver Nachtwey: Verschwörungstheorien funktionieren auch deshalb gut, weil es historisch tatsächlich Verschwörungen gab. In der Regel ist die sparsamste und naheliegendste Erklärung die korrekte. Die Verschwörungstheorien kennen hingegen keine zu hohe Komplexität: Demnach wurde das Coronavirus von ein paar Akteuren mit bösen Absichten in die Welt gebracht, um die große Umvolkung zu beginnen. Dass es das Coronavirus gab, lag in Wirklichkeit am Vordringen der kapitalistischen Zivilisation in die bisher unberührte Natur. Im Verschwörungsdenken wird die Basis von sozialen Dynamiken auf geheime Machenschaften zurückgeführt. Wir nennen das eine ver-rückte Gesellschaftskritik – mit Bindestrich –, weil es nicht einfach pathologisch ist, sondern weil es eine im Ansatz legitime Gesellschaftskritik aus der Bahn trägt.

Dazu kommt eine Maßlosigkeit der Kritik. Sie zitieren in Ihrem Buch einen Herrn Hoffmann, der das Tragen der Maske als „neuen Hitlergruß“ bezeichnet. Warum fällt es den Menschen so schwer, ihre Kritik im richtigen Maß zu formulieren?

Oliver Nachtwey: Wenn Sie mit dem Staat häufiger konfrontiert waren, dann haben Sie zwar auch eine Wut auf ihn, aber Sie können die Härte der Maßnahmen gut einordnen. In der Mittelschicht trafen die Maßnahmen aber auf totale Erfahrungslosigkeit. Früher gab es außerdem viele Institutionen, die negative Affekte zwar haben gelten lassen, sie dann aber auch wieder in Bahnen einer regulierten Kritik geführt haben. Als Soziologe habe ich eine etwas andere Sicht auf den Stammtisch, als er gemeinhin in der Öffentlichkeit gesehen wird. Er ist eine soziale Form, in der Affekte ausgetragen werden, wo soziale Kontrolle aber auch eine Abkühlung bewirkt.

Der Stammtisch ist ja eher zum Sinnbild einer aggressiven Wut geworden. Wie kann man sich diese Kontrolle genau vorstellen?

Oliver Nachtwey: Diese Vorstellung ist natürlich nicht unberechtigt. Denn beim Stammtisch konnte man auf den Tisch hauen, sich über Minderheiten auslassen und gegenseitig in seinem Ressentiment bestätigen. Aber irgendwann hat der Wirt oder Kollege am Nachbartisch gesagt: „So, jetzt reicht’s mal!“, und dann ist man angetrunken nach Hause gegangen. Jetzt haben wir atomisierte Individuen, die solche Formen der Öffentlichkeit nicht mehr haben. Stattdessen gibt es Orte wie Twitter, die grenzenlose Affektbestätigung betreiben. Da gibt es keine Abkühlung oder soziale Kontrolle.

Carolin Amlinger: Natürlich treffen Menschen auch dort auf Kritik, teilweise auf harte Kritik. Aber die führt nicht zur Reflexion des eigenen Standpunktes, durch die man etwa auf die Idee käme, dass der Diktaturvergleich nicht ganz so angebracht ist. Wir haben eher beobachtet, dass es zur Radikalisierung beiträgt, wenn man die Menschen bei Querdenken-Protesten als krude Verschwörungstheoretiker abtut. Wir nennen das eine projektive Gegenidentifikation, also: „Wenn ihr mich Verschwörungstheoretiker nennt, dann bin ich halt einer. Wenn ihr mich Nazi nennt, dann bin ich halt Nazi.“ Dadurch, dass sich die Reihen so schnell geschlossen haben, wurde diesen Menschen auch der Weg zu einer rationalen Form der Kritik versperrt.

Autoritäre Stammtisch-Besucher zeichnen sich durch soziale Härte aus. Währenddessen verstehen sich die atomisierten Querdenker als empathisch und vernetzt. Wie passt die Atomisierung der Individuen mit diesem Selbstverständnis zusammen?

Oliver Nachtwey: Im Konflikt um die Corona-Maßnahmen haben sich Menschen, die ohnehin hochindividualistisch veranlagt waren, vereinzelt und ohnmächtig gefühlt. Wir haben beobachten können, dass viele von ihnen durch ihre Radikalisierung Freunde verloren haben. Vereinzelung heißt aber nicht zwangsläufig, dass man allein ist. Man kann sich auch in Gemeinschaft vereinzeln. Viele haben sich dann nämlich eine Leidensgemeinschaft von Gleichgesinnten gesucht, die sie aber in ihren Ansichten immer weiter bestärkt haben.

Carolin Amlinger: Das Entscheidende ist, dass diese „Misstrauensgemeinschaften“, wie sie der Historiker Sven Reichardt nennt, nach innen politisch indifferent sind. Dem Außen begegnen sie zwar mit generalisiertem Misstrauen, nach innen herrscht aber ein absolutes Vertrauen. Bei den Querdenken-Protesten wurde diese Imagination der Einheit immer heraufbeschworen und dadurch wurden Rechte in den eigenen Reihen geduldet. Und diese politische Indifferenz wird natürlich gefährlich, wenn sich am Ende Rechte und Linke zusammen mobilisieren.

Gerade scheint es eher so, dass Querdenker mit der Pandemie aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden. Haben sie sich ins Private zurückgezogen? Oder müssen wir damit rechnen, dass sie sich neue Themen suchen?

Oliver Nachtwey: Ihr Generalverdacht gegen das vermeintlich „linksliberale Establishment“ ist nicht gesunken, sondern gestiegen. Viele Querdenker sehen sich wirklich in einer diktaturähnlichen Situation, in der das linksliberale Establishment die Macht an sich gerissen hat. Sie hatten immer den Eindruck, dass ihre Interessen in der Gesellschaft sehr stark vertreten sind und jetzt wird scheinbar gegen ihre Interessen regiert. Deshalb sagen sie: „Das kann nur eine Diktatur sein.“ Aus der Diktatur leiten sie auch dieses wahnsinnige Widerstandsrecht ab.

Carolin Amlinger: Die Querdenker haben insgesamt einen grundlegenden Zweifel über die Beschaffenheit der Realität kultiviert, der sich radikalisiert und verselbständigt hat. Dieses generelle Misstrauen findet so immer wieder neue Themen, neue Objekte und stellt am Ende die Realität als solche infrage. Deshalb kann man daran zweifeln, dass die ehemaligen Querdenker wieder in die Bahnen einer emanzipatorischen Gesellschaftskritik zurückfinden.

Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren
Der andere Blick

Wer sich für normal hält, muss ein Menschenfeind sein – wie Grüne die Gesellschaft umpflügen wollen

Das Familienministerium in Berlin ist die Agitationszentrale der Grünen. Mit Gender- und Migrationspolitik soll Deutschland umgebaut werden. Gegen Kritiker geht man mit verbaler Aggression vor.

Eric Gujer 411 Kommentare
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Multikulti existiert nicht mehr, heute heisst es Diversität: Demonstranten auf der Kundgebung zum 1. Mai in Berlin.

Multikulti existiert nicht mehr, heute heisst es Diversität: Demonstranten auf der Kundgebung zum 1. Mai in Berlin.

Christian Mang / Reuters
Eric Gujer, Chefredaktor der «Neuen Zürcher Zeitung».

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NZZ

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Robert Habeck und Annalena Baerbock heimsen zu Recht Applaus für ihre Haltung im Ukraine-Krieg ein. Ihre Politik ist konsequent, weil sie keinen Zweifel daran lässt, wer Täter und wer Opfer ist. Zugleich ist sie pragmatisch, da in der Frage der Energieversorgung keine Dogmen mehr gelten. Welch wohltuender Gegensatz zum irrlichternden Duo Scholz und Lambrecht.

Was aussenpolitisch ein Erfolg ist, wird innenpolitisch zum Risiko. Während sich alle Augen auf die Ukraine richten, treiben Grüne den gesellschaftlichen Umbau voran. Ob Genderfragen oder Migration – die ehemalige Umweltpartei konzentriert sich umso mehr auf die Identitätspolitik, als ihr die Kriegszeiten viele Kompromisse abverlangen. So ersetzt sie die ausbleibenden russischen Gaslieferungen beherzt mit Kohle und Gas vom Golf, betreibt also nüchterne Realpolitik. In Identitätsfragen hingegen polarisiert die Partei und fördert Extreme. Die Schaltzentrale der Grünen für ihr Umerziehungsprogramm ist das Ministerium für Wokeness, früher bekannt als Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Die Kriminalität arabischer Clans soll totgeschwiegen werden

Wie die Partei dabei vorgeht, illustriert die Personalie der designierten Antidiskriminierungsbeauftragten Ferda Ataman. Familienministerin Lisa Paus schlägt dem Bundestag eine Kandidatin zur Wahl vor, die Deutsche als «Kartoffeln» verunglimpft.

Ferda Ataman ist Vorsitzende der «Neuen Deutschen Medienmacher».

Ferda Ataman ist Vorsitzende der «Neuen Deutschen Medienmacher».

Imago

Diskriminierung ist gut, solange sie sich gegen die Mehrheitsgesellschaft richtet, linke Ausländerpolitiker und Aktivisten aber zufriedenstellt. Diese glauben, dass weisse Deutsche generell privilegiert sind – ob es sich um Sozialhilfeempfänger oder Multimillionäre handelt. Die Diskriminierung von Deutschen ist folglich keine Diskriminierung, sondern nur die beschleunigte Herstellung gleicher Lebensverhältnisse.

Es geht nicht um Dialog und Ausgleich, sondern um Konfrontation und Schaufensterpolitik. Die Journalistin Ataman gehört einem Verein an, der andere Journalisten an den Pranger stellte, weil diese den angeblich ausländerfeindlichen Begriff der Clan-Kriminalität benutzen.

In Deutschland soll nach dem Willen von Ataman und ihren Gesinnungsfreunden nicht berichtet werden, dass arabische Clans in Berlin und anderen Städten zu den dominierenden Kräften der Unterwelt zählen. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Ideologie und die Zustimmung in einem rot-grünen Justemilieu sind wichtiger als Fakten.

Ginge es darum, Lösungen zu finden, statt ein Thema linkspopulistisch zu bewirtschaften, würde sich gerade das Phänomen der Clan-Kriminalität für eine differenzierte Betrachtung anbieten. Denn hier zeigt sich, wie eine kurzsichtige Ausländerpolitik gravierende gesellschaftliche Probleme schaffen kann.

Türkische und libanesische Grossfamilien nutzten in den achtziger Jahren die DDR als Tor zum Westen. Der Stasi-Staat liess sie einreisen, sofern sie unverzüglich in den Westen weiterzogen. Westberlin konnte die Migranten nicht abschieben, wäre sie aber gerne losgeworden. So erhielten die Familien eine Duldung, welche Arbeitsaufnahme, ja sogar Schulbesuch verbot und so die Familien förmlich in die Illegalität drängte. Obwohl sie nur vorläufig geduldet wurden, haben sie Deutschland nie mehr verlassen.

Die Demokratie schrumpft zur Service-Agentur für Minderheiten

Diese Migrationsgeschichte wäre ein ideales Beispiel, um zu erklären, warum die Ampelkoalition das Ausländerrecht reformiert. Geduldete Personen sollen nach fünf Jahren einen dauerhaften Status erhalten, sofern sie gut integriert sind. Das ist vernünftig, weil so unnötiges Leid vermieden wird. Der Staat muss gegen illegale Migration vorgehen, aber vier Jahre und 364 Tage sind Zeit genug, um eine Person des Landes zu verweisen.

Doch der angehenden Antidiskriminierungsbeauftragten geht es offenkundig nicht darum, zu erklären und um Verständnis zu werben. Lieber will sie skandalisieren und indoktrinieren. Wer über die lange ignorierte Migrantenkriminalität berichtet, soll mundtot gemacht werden.

Als ich vor 15 Jahren noch als Korrespondent über das Thema recherchierte, sagte mir eine Kriminalrätin im Berliner Polizeipräsidium, es werde nicht gerne gesehen, wenn sie dazu Auskunft gebe. Das widerspreche dem Bild des multikulturellen Berlin.

Multikulti existiert nicht mehr, heute heisst es Diversität. Mit gesundem Menschenverstand betrachtet, bedeutet dies nichts anderes, als die gesellschaftliche Vielfalt anzuerkennen und selbstverständlich zu leben. Rot-grünen Identitätspolitikern genügt dies nicht. Sie behaupten, wahre Diversität und Demokratie seien erst erreicht, wenn alle Menschen, weitgehend unabhängig von Herkunft und Aufenthaltsdauer mitbestimmen könnten.

Diese Vorstellung stellt das Zerrbild einer Demokratie dar, die zum Mitmachklub mutiert für alle, die gerade Lust haben, sich zu beteiligen. Der Staat wäre nur noch eine zufällige Versammlung, ohne Verbindlichkeit und ohne Pflichten. Der Einzelne hat nur noch Rechte und Ansprüche gegenüber dem Staat auf «Inklusion» und «Partizipation».

Der Gesellschaftsvertrag ist kein Vertrag mehr auf Gegenseitigkeit, sondern ein einseitiges Abkommen, in dem das Individuum seine Wünsche formuliert. Die Demokratie schrumpft zur Service-Agentur namentlich für alle jene Minderheiten, die ihre Forderungen am lautesten artikulieren.

Über medizinische Risiken muss diskutiert werden – auch wenn das einer Gender-Ideologie widerspricht

Die grenzenlose Individualisierung ist Programm bei Grünen und mit Abstrichen auch bei der FDP. Das schlägt sich im Koalitionsvertrag nieder. Er verheisst den Individuen die totale Verfügungsmacht über ihre Körper, unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen, juristischen oder medizinischen Einwänden. So soll jede Person über 14 Jahre ihr Geschlecht durch einfache Willenserklärung ändern können, einschliesslich einer chemischen und operativen Behandlung.

Wer sich dagegen ausspricht, etwa unter Hinweis auf die Entwicklungspsychologie von Teenagern, wird in derselben wüsten Weise beschimpft, die Deutsche zu Kartoffeln herabwürdigt. Stets führt das Familienministerium, die Agitationszentrale der sonst so weltläufigen Parteivorsitzenden Habeck und Baerbock, die Kampagnen an.

Der Staatssekretär im Ministerium Sven Lehmann wetterte gegen «Homo- und Transfeindlichkeit» und «Fake News», nur weil mehrere Autoren in einem Gastbeitrag für die «Welt» darauf hingewiesen hatten, dass eine Geschlechtsumwandlung bei Pubertierenden deren Gesundheit beeinträchtigen kann. Sie warnten ausserdem vor einer die Risiken verharmlosenden Berichterstattung in den Medien.

Bei jeder anderen Behandlung ist es die juristische wie ethische Pflicht des Arztes, über mögliche Nebenwirkungen aufzuklären. Nur bei der Geschlechtsumwandlung verkehren grüne Identitätsideologen hippokratische Wahrhaftigkeit zur «gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit». Keine Fernsehwerbung für harmlose Venensalbe kommt ohne das Sprüchlein aus: «Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker». Nur bei einem irreversiblen Eingriff soll das nicht gelten.

Dabei ist noch eine ganz andere Art von Menschenfeindlichkeit denkbar: Aktivisten immunisieren eine Behandlungsmethode gegen jede Kritik. Medien verstärken das Randphänomen zum gesellschaftlichen Trend, und bedenkenlose Mediziner lassen sich nicht zweimal sagen, dass sie zum Skalpell greifen sollen. Lukrativ ist so eine Operation gewiss, und es wäre nicht das erste Mal, dass sich skrupellose Ärzte in den Dienst eines irregeleiteten Zeitgeistes stellen.

Wenn medizinische Praktiker und Wissenschafter die ebenso segensreiche wie manchmal furchteinflössende Wunderwelt der modernen Medizin hinterfragen, verdient das Respekt. Das sollte selbst dann gelten, wenn man deren Argumente nicht teilt. Wissenschaft beruht auf Rede und Gegenrede und der Bereitschaft, jede Hypothese zu falsifizieren.

Schon in der Pandemie mutierte «die» Wissenschaft allerdings zum Glaubensbekenntnis, mit dem sich Andersdenkende trefflich ausgrenzen liessen. Die Corona-Erfahrungen zeigen, dass verbale Abrüstung den gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert. Leider prallt die Erkenntnis am Panzer der Ignoranz ab, den alle begeisterten Rechthaber tragen – ob links oder rechts.

Der grünen Kampfbrigade fällt das Paradoxe ihres Tuns nicht auf. Sie fordert Toleranz und Gleichberechtigung für Minderheiten, begegnet aber allen Einwänden mit Intoleranz. Wer Lehmann oder Ataman zu widersprechen wagt, ist eine Kartoffel oder ein Menschenfeind. Das ist die Sprache von Kulturrevolutionären und nicht von Politikern, die eine Gesellschaft auf dem langen Weg der Veränderung mitnehmen wollen.

Eines ist gewiss. Wenn das Ministerium für Wokeness sein Programm verwirklicht hat, wird die Republik an einigen Stellen nicht wiederzuerkennen sein. Schaun wir mal …

Okt. 2022 | In Arbeit | Kommentieren
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