Und welcher ist jetzt der richtige Marxismus? Für Perry Anderson sollte es einer sein, der treu zur revolutionären Bewegung hält – komme, was da wolle

Seit einigen Jahren spricht man selbst in der bürgerlichen Öffentlichkeit von einem Marx-Revival. Sein 200. Geburtstag wurde 2018 nahezu staatstragend gefeiert und von der Philosophie bis in die Wirtschaftswissenschaften war man sich einig: Karl Marx ist relevanter denn je. Passend dazu finden sich zahlreiche marxistische Analysen, mit Marx wird der Klimawandel im Kapitalozän erklärt, der Liberalismus als »Diversität der Ausbeutung« kritisiert und das Erstarken des Rechtspopulismus mit Marx’ Analyse des Bonapartismus verglichen. Das erweckt mitunter den Eindruck einer intakten, gar geschlossenen marxistischen Theorie, die in der gesellschaftlichen Krisensituation nun endlich gebührend Aufmerksamkeit findet.

 

 

 

Vielleicht ist das ein Anlass zur Freude, endlich einmal mit »Marx hatte Recht!« auf der Gewinnerseite zu stehen. Aber das Problem ist ja, dass es sich bei der Marxschen Theorie nicht einfach um ein Konkurrenzangebot der fröhlichen Wissenschaft handelt, das gerade einmal das Rennen macht. Eigentlich hat diese Theorie ein klares Kriterium ihres Erfolgs, wenn man so will: die Revolution, sprich die Überwindung derjenigen Verhältnisse, die die Theorie erst notwendig gemacht haben. Marxismus ist da gelungen, wo er sich selbst abgeschafft hat.

Daher rührt der berühmte Nexus zwischen Theorie und Praxis, der den Marxismus seit Jahr und Tag aufreibt. Es komme eben darauf an, die Welt zu verändern, wie es ja bei Marx heißt. Mit diesem Anspruch hatte der britische Historiker Perry Anderson vor fast einem halben Jahrhundert der marxistischen Theorie eine polemische Anklage unterbreitet. Sein berühmt-berüchtigter Essay »Über den westlichen Marxismus« aus dem Jahre 1976 bescheinigte den unterschiedlichsten Theorieentwicklungen der unmittelbaren Vor- und Nachkriegszeit in Frankreich, Deutschland bis Italien, sie hätten die Revolution aufgegeben und sich in die bürgerliche Philosophie verabschiedet. Seit kurzem liegt der Essay nun in einer Neuauflage vor und provoziert auch heute die Frage: Was soll er denn sein, dieser Marxismus?

Resultat einer Niederlage

Das Konzept des westlichen Marxismus hat sich dermaßen eingebürgert, dass oft vergessen wird, wie Anderson diesen Begriff als eine Beleidigung popularisierte. Er stellte die philosophischen und vermeintlich praxisfernen Theorien im kapitalistischen Kontinentaleuropa jenen politischen Kämpfen im Osten gegenüber – mit einer klaren Präferenz, wo die Revolution zu holen sei. »Die erste und fundamentalste Eigenart dieses Marxismus«, schrieb Anderson, sei daher »seine strukturelle Trennung von der politischen Praxis«.

Seine Analyse bezog sich auf eine Entwicklung, die vor knapp hundert Jahren ihren Ausgang nahm, in der Krise des Marxismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im traditionellen Marxismus, also im relativ unmittelbaren Anschluss an Marx, hatte die Aufgabe darin bestanden, den historischen Materialismus zur umfassenden Theorie auszuarbeiten. Von Engels bis in die Zweite Internationale – mit Theoretikern wie Antonio Labriola, Franz Mehring, Karl Kautsky und Georgi W. Plechanow – ging es um eine Art Vervollständigung der Theorie. Allerdings war der Anspruch an die Theorie in den Umbrüchen der Jahrhundertwende zunehmend gestiegen. Die realen Entwicklungen der kapitalistischen Produktionsweise zu Monopolisierung und Imperialismus mussten erklärt werden und die Russische Revolution von 1905 forderte eine Erweiterung der Ökonomiekritik zur politischen Theorie.

Trotz der vielfältigen Wirkungsbereiche jener Auseinandersetzungen bildete der Marxismus zu dieser Zeit eine einigermaßen geschlossene Theorieformation. Für Perry Anderson war genau das ihr Gütekriterium. Entsprechend rekonstruiert er diese Phasen der »klassischen Tradition« des Marxismus über zwei zusammenhängende Kriterien: einerseits die Nähe zur politischen Praxis und andererseits die Geschlossenheit der Theorie, die wiederum die Einheit von Theorie und Praxis widerspiegeln soll.

Mit den historischen Niederlagen der Arbeiterbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts war genau diese Einheit aber kaum mehr möglich gewesen: Die sozialistische Bewegung, ausgedrückt in der Zweiten Internationale, zerbrach mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs am Nationalismus und infolge dessen an der Konfliktlinie zwischen reformerischem und revolutionärem Anspruch bis zu ihrer Niederlage gegen den Faschismus. In diesen veränderten Koordinaten der Weltpolitik »nahm der Marxismus eine Gestalt an, die sich in entscheidenden Hinsichten sehr deutlich von allem unterschied, was ihm vorausgegangen war«. Für Anderson stellte diese neue Form eine theoretische Regression dar, eine Art Revisionismus gegenüber der Praxis und Geschlossenheit. Der westliche Marxismus sei insofern das »Resultat einer Niederlage«.

Kommunistische Trauerarbeit

Diese Diagnose war durchaus zutreffend und bildete zudem den expliziten Ausgangspunkt von so unterschiedlichen westlichen Marxist*innen wie Louis Althusser, Antonio Gramsci oder der Frankfurter Schule. Während diese versuchten, das Scheitern des Marxismus zu bearbeiten, aufzuklären und, dem Anspruch nach, selbst in die Theoriebildung aufzunehmen, galt diese Bemühung Anderson als Verrat. In seiner Version der Niederlage kommt der Theorie eine Mitschuld an der gescheiterten Revolution zu. Kurz gesagt: Eine Theorie, die ihre Einheit mit der Praxis aufkündigt, lässt die Bewegung hängen.

Das fatale Missverständnis auf Andersons Seite liegt darin, dass er die besagte Niederlage nicht als objektive Entwicklung begreift, sondern als Verfehlung der Theorie, die nicht an der Geschlossenheit und der Verbundenheit zur proletarischen Bewegung festgehalten habe. Dieser Vorwurf offenbart jedoch ein hochgradig problematisches Theorieverständnis, das, wie Wolfgang Fritz Haug schon 1978 festhielt, »ein ideologischer Spiegeleffekt in den ›Wänden‹ einer begrenzten – der trotzkistischen – Perspektive« ist. Anderson macht den Marxismus zur Weltanschauung der proletarischen Revolution, gegen alle Widerstände. Auf den daraus resultierenden Vorwurf des Verrats hatte Leo Löwenthal einmal geantwortet: »Wir haben nicht die Praxis verlassen, sondern die Praxis hat uns verlassen«. Die Aufgabe der Theorie bestand folglich in der Aufklärung über diesen Verlust, eine Art Trauerarbeit, wie es etwa Bini Adamczak forderte.

Anderson aber hält am Objektivitätsideal des Marxismus fest, der die Wahrheit für die Arbeiterbewegung liefern müsse, auch wenn er dazu objektiv außer Stande war. Das ist Wunschdenken und Weigerung gegen jene Realität, die die gesellschaftliche Krise längst in die Theorie gezwungen hatte. So bleibt ihm der falsche Optimismus erhalten, dass die Revolution doch fast greifbar sei, wenn man nur der Bewegung weltanschaulich treu bleibe.

Zumindest schien diese Hoffnung für Anderson Anlass seiner Polemik. In den 1970er Jahren sah er im Zuge der Aufstände des Mai 1968 den »Anbruch einer neuen Periode in der Geschichte der Arbeiterbewegung«. Gesellschaftliche Krise und linker Protest würden so vielleicht den »revolutionären Stromkreis zwischen der marxistischen Theorie und der Praxis der Massen« schließen können. Andersons historische Rekonstruktion und Bestandsaufnahme des Scheiterns galt vielleicht im besten Sinne dem Anspruch, aus Fehlern lernen zu wollen.

Theoriepolitisches Gerangel

Für einen solchen Lernprozess aber wäre es nötig, die Theorien des westlichen Marxismus in ihren Bemühungen zur Aufarbeitung des Scheiterns der Arbeiterbewegung zumindest zur Kenntnis zu nehmen. Aber wie auch Stephan Lessenich in seinem Nachwort zur Neuauflage festhält, verfährt Andersons Abrechnung »in erstaunlich unmaterialistischer Verkennung der gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen diese sich 1933 konstituiert hatte«, namentlich des Nationalsozialismus.

Insgesamt geht Lessenich mit Anderson hart ins Gericht – nicht nur, indem er sich als Direktor des Instituts für Sozialforschung gegen die Diskreditierung der Frankfurter Schule als Wurzel allen Übels wehrt. Er weist zurecht auf Andersons eigene Engstirnigkeit hin, die dieser ja gerade als Symptom des gescheiterten Marxismus auszugeben versuchte: Die Verengung auf ökonomische Kämpfe verstelle ihm den Blick auf »Kämpfe von Frauen, Migrant:innen, anderweitig Unterdrückten und Ausgeschlossenen«. Und auch jene Theorieentwicklungen, die sich dezidiert den von Anderson konstatierten Problemen annahmen, ließe dieser außen vor.

Unterm Strich empfiehlt Lessenich die Lektüre von »Über den westlichen Marxismus«, denn einige der drängenden Fragen, die das Buch aufwirft, lägen eben heute noch ungelöst auf dem Tisch. Und das stimmt. Statt sich in einem Gerangel zu erschöpfen, wer denn nun mit welchem Marx als Autorität auftrumpfen könne, wäre es angezeigt, die wirklichen gesellschaftlichen Bedingungen zu begreifen, der sich eine »wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt« (Marx), stellen muss. Das jedenfalls wäre der Anspruch eines Marxismus, der nicht einfach nur behauptet, die überlegene Wissenschaft und Avantgarde der sozialen Revolution zu sein – eine Art Lackmustest, bei dem viele der aktuellen Marxismen immer noch durchfallen.

Perry Anderson: Über den westlichen Marxismus.
Mit einem Nachwort von Stephan Lessenich.
Dietz Berlin, 152 S., br., 18 €.

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Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

In 13 europäischen Regierungen sitzen mittlerweile Rechtspopulisten. In Deutschland ist die AfD in Umfragen auf 18 Prozent geklettert, im nächsten Jahr stehen Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen an. Ist die liberale Demokratie ein Auslaufmodell? Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel erklärt das Phänomen – und verweist auf entscheidende Fragen, auf die die liberale Demokratie noch keine Antwort gefunden hat.
Der Trend ist anhaltend und gefährlich: Aus demokratischen Wahlen gehen am Ende oft, wenn auch nicht immer, illiberale, populistische und radikale Parteien oder Kandidaten gestärkt hervor. Das war jüngst in Spanien (Kommunalwahlen) so, davor in Schweden, in Italien, bei Landtagswahlen in Österreich. Die Wahlen in der Türkei, sofern sie denn rechtsstaatlichen Ansprüchen genügten, fügen sich mit Recep Tayyip Erdogans Sieg in diese Reihe ein. Auch in Deutschland bewegt sich die AfD in Umfragen mittlerweile auf Augenhöhe mit der SPD bei 18 Prozent.

 

 

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Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren
Das Bild zeigt die Sternentstehungsregion RCW38 in unserer Milchstraße.
Welche Sterne wohl in der Sternentstehungsregion RCW38 in rund 5000 Lichtjahren Entfernung von unserer Milchstraße entstehen? Die ursprüngliche Massenfunktion hat darauf eine Antwort – allerdings ist sie wohl nicht überall und zu allen Zeiten gleich gültig.

Im ersten Moment klingt die Entstehung von Sternen nicht besonders kompliziert. Eine Molekülwolke kollabiert unter ihrer eigenen Schwerkraft, ballt sich zu einem kugelrunden Etwas zusammen, zündet im Inneren die Kernfusion, fängt an zu leuchten, fertig. Allerdings entstehen Sterne nicht in Isolation, sondern meist zu Hunderten oder gar Tausenden in speziellen Sternentstehungsregionen. Sterne gibt es in allen möglichen Größen: Von winzigen, massearmen und rötlichen Zwergsternen bis hin zu massereichen Blauen Riesen kann alles dabei sein. Die anfängliche Massenfunktion, auch ursprüngliche Massenfunktion (kurz IMF, aus dem Englischen »initial mass function«) genannt, liefert eine Antwort auf die Frage, wie viele große und wie viele kleine Sterne in einer solchen Sternenwiege entstehen. Doch nun zeigt ein Forschungsteam im Fachjournal »Nature«, dass diese so praktische Formel wohl nicht überall und zu allen Zeiten gilt.

Dabei hätte alles so einfach sein können. Bereits im Jahr 1955 schrieb der Physiker Edwin Salpeter eine Formel für die ursprüngliche Massenfunktion auf, die er aus seinen Beobachtungen der Sterne in Sonnennähe abgeleitet hatte. Demnach seien massereiche Sterne viel seltener als masseärmere Sterne: Auf einen riesigen Stern mit der zehnfachen Sonnenmasse kämen demnach mehrere hundert sonnenähnliche, kleinere Sterne. Seine Formel war eine Exponentialgleichung mit einem konstanten Exponenten für alle Sternenmassen. Weitere Beobachtungen zeigten zwar, dass dies vor allem für massearme Sterne nicht zu gelten scheint, sie brauchen einen kleineren Exponenten. Aber ob diese »kanonische«, das heißt anerkannte Massenfunktion, wirklich für alle Sterne auch jenseits unserer eigenen Galaxie und zu unterschiedlichen Zeiten in der Entwicklung des Universums gilt, war und ist umstritten.

Immer wieder gab es Hinweise in die eine oder in die andere Richtung. Die aktuelle Studie des Teams um Jiadong Li von den Nationalen Astronomischen Observatorien in Peking, China, zeigt nun in die andere Richtung: Die Ergebnisse der Forscherinnen und Forscher deuten darauf hin, dass die ursprüngliche Massenfunktion sich mit dem Alter der Sterne sowie mit ihrer Metallizität ändert. Die Metallizität bezeichnet dabei den Gehalt an Elementen, die schwerer sind als Wasserstoff und Helium. Für die Studie verwendeten die Forschenden Daten des Teleskops LAMOST sowie des Gaia-Weltraumteleskops. Sie interessierten sich dabei für Rote Zwerge, so genannte M-Zwerge mit Massen von 0,3 bis 0,7 Sonnenmassen, die sich rund 330 bis 1000 Lichtjahre von unserer Sonne entfernt befinden. Das Praktische an diesen M-Zwergen ist: Da sie so klein sind, sind sie extrem langlebig. Daher lässt sich durch die Vermessung der derzeitigen Massenverteilung mehr oder weniger direkt auf ihre ursprüngliche Massenverteilung schließen.

Auf den ersten Blick schienen alle M-Zwerge den anerkannten Massenverteilungen zu folgen, ohne dass ihre Metallizität dabei eine Rolle spielte. Aber wie sähe es aus, wenn man diese Sterne in junge und alte Sterne unterteilen könnte? Nun ist es extrem schwierig, das Alter von Sternen zu bestimmen, wenn diese sich etwa in der Mitte ihrer Lebensdauer befinden, das heißt, in ihrem Inneren Wasserstoff zu Helium verbrennen – und das war bei allen beobachteten M-Zwergen der Fall. Allerdings ist ein grober Anhaltspunkt für das Alter eines Sterns seine vertikale Geschwindigkeit durch die Milchstraße. Oder vereinfacht ausgedrückt: Wie schnell bewegt sich der Stern nach oben oder nach unten durch unsere Galaxie? Aus Beobachtungen wissen Astronominnen und Astronomen, dass ältere Sterne dabei schneller unterwegs sind als jüngere Sterne.

Anhand dieser Einteilung schließlich zeigten sich Unterschiede in der Massenverteilung. Laut den Daten der Forschenden hätten sich zu früheren Zeiten tendenziell weniger masseärmere Sterne gebildet, als es die ursprüngliche Massenfunktion vorhersagt. Das bedeutet: Früher sind wohl mehr größere Sterne entstanden, als dies heutzutage in der Milchstraße der Fall ist. Darüber hinaus zeigte sich für jüngere Sterne, dass ihre Massenverteilung sehr wohl von ihrer Metallizität abhängt. Je größer die Metallizität, also je höher der Anteil von schwereren Elementen als Wasserstoff und Helium, desto mehr masseärmere Sterne entstehen.

Die ursprüngliche Massenverteilung von Sternen scheint von der Zeit und von der Metallizität abzuhängen

Das Team um Jiadong Li schließt daraus, dass die ursprüngliche Massenverteilung sowohl von der Zeit als auch von der Metallizität abhängt. Somit gäbe es keine einfache Formel für den stellaren Zensus, die durchgängig anwendbar ist. Die Forschenden schreiben, dass das Auswirkungen auf viele Bereiche der Astronomie habe, bei denen die Interpretation der Ergebnisse von der ursprünglichen Massenverteilung abhängt: Unter anderem seien davon Modelle der chemischen Elementverteilung in der Galaxienentwicklung, der Massenbestimmung ferner Galaxien oder sogar die Effizienz der Planetenentstehung betroffen.

Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

 

„Mama, was passiert beim Sterben?“ – Was Kinder über den Tod wissen wollen

Nike Laurenz

DER SPIEGEL

Was passiert, wenn im Flugzeug jemand stirbt? Entleert sich nach dem Tod noch mal der Darm? Kinderfragen über den Tod können Erwachsene vor Herausforderungen stellen. Eine Bestatterin will helfen.

Sterbephasen: Wie nehmen Sterbende den Tod wahr?

Helmut Stapel

GEO

Der Tod geht meist nicht als abruptes Ende einher, sondern verläuft in mehreren Sterbephasen. Dabei durchläuft der Mensch einen Sterbeprozess. In Ihrem Buch „On Death and Dying“ beschreibt die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross fünf Sterbephasen, die Schwerkranke durchlaufen

Von Erd- bis Waldbestattung: So geht Umweltschutz über den Tod hinaus

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Utopia

Auch wer im Allgemeinen darauf achtet, sein Leben besonders nachhaltig zu gestalten, macht sich meist wenig Gedanken darüber, was ist, wenn das Leben zu Ende geht. Geht das überhaupt, „nachhaltig sterben“? Und kann man auch „nachhaltig vererben“? Welche Möglichkeiten für umweltschonende Bestattungen gibt es?

Was du vor deinem Tod regeln solltest – in jedem Alter

Lars Lindauer

Krautreporter

So ersparst du Freund:innen und Familie schwierige Entscheidungen und Streit.

15 Fragen, die man Eltern stellen sollte, bevor sie sterben

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Der Standard

Über den Tod spricht niemand gerne. Dabei kann es für Kinder und Eltern erleichternd sein, wenn man gewisse Dinge jetzt schon klärt.

Sterben: „Nach drei Minuten setzt sich eine riesige Welle in Gang“

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Spektrum

Wenn ein Mensch stirbt, stellt sein Gehirn nicht von einem Moment auf den anderen die Arbeit ein. Der Neurologe Jens Dreier hat untersucht, was in der Zwischenzeit passiert – und stieß auf verblüffende Parallelen zur Migräne.

Diese Menschen haben mir die Angst vor dem Tod genommen

Djanlissa Pringels

VICE

Der Tod eines Freundes hat mir Angst gemacht. Ich habe darüber mit einem Pfleger und zwei Forensikern gesprochen – und einer Frau, die bald sterben wird.

Wie fülle ich eine Patientenverfügung aus?

Wulf Piella

SWR

Was dürfen Ärzte mit Ihnen machen, wenn Sie als Patient über Ihre Behandlung nicht mehr entscheiden können? Das legen Sie in der Patientenverfügung fest. Wir geben Tipps, worauf Sie achten sollten, wo Sie die Formulare bekommen und warum es zusätzlich eine Vorsorgevollmacht braucht.

Sterbebegleiterin Johanna Klug: „Im Sterben geht es viel ums Leben“ [zum Hören]

Marco Schreyl

Deutschlandfunk Kultur

Johanna Klug ist täglich mit dem Tod konfrontiert: Sie begleitet seit sieben Jahren Sterbende und deren Angehörige auf der Palliativstation. Bedrückend findet sie das nicht, im Gegenteil: Sie hat von Sterbenden viel über das Leben gelernt.

Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Dieses Bild zeigt eine Spinne. Die spanischen Eroberer berichteten im 16. Jahrhundert das erste Mal von den Linien, sahen sie aber natürlich nur am Boden und nicht aus der Luft. Die Figuren wurden erst erkannt, als in den 1920er Jahren öfter Flugzeuge über die Wüste flogen.

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Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Schon im und nach dem Hitzesommer 2018 mussten im Würzburger Stadtgebiet 5000 vertrocknete Bäume gefällt werden. Ende August 2022 weckt die Landschaft nordwestlich der Bischofsstadt beim Besucher tatsächlich Assoziationen in Richtung Wüste. An einer Kuppe ragt ein verkrüppelter Baumstamm nach oben, unter den Schuhen trockenes Gras, dazu ein träger, heißer Wind, der verdorrte Blätter durch die Gegend schiebt. Vieh grast auf dieser Weide schon lange nicht mehr; was sollten die Kühe auch fressen?

 

 

 

 

 

Hier wächst nichts mehr. Schwer drückt die Hitze auf diesen von der Sonne braun gebrannten Landstrich bei Worzburg. Und die Stadt selbst kommt einem vor wie ein Backofen: Die heiße Luft steht, und jede noch so kleine körperliche Anstrengung lässt den Schweiß fließen.

Gemeinhin verbindet man mit Unterfranken sattgrüne Hänge, prächtige Weinberge, fruchtbares Land. Im Sommer 2022 aber leidet das nordwestliche Bayern unter Sonnenbrand und Hitzschlag. So wenig wie in jenem August habe es in ganz Nordbayern seit 62 Jahren nicht geregnet, rechnen Meteorologen vor. Vier Millimeter pro Quadratmeter, das seien 16 Prozent des durchschnittlichen Niederschlages dort in den Jahren 1971 bis 2000. Und selbst wenn man den vorausgegangenen Winter hinzurechnet, erreicht die Regenmenge in den ersten acht Monaten des Jahres 2022 nur drei Viertel des langjährigen Mittelwertes. Unvorstellbar war das noch vor wenigen Jahren, doch nach 2018, 2019 und 2020 war 2022 schon das vierte Dürrejahr binnen kürzester Zeit in Deutschland.

Gleichzeitig wird das Wasserproblem immer sichtbarer. Der Grundwasserspiegel sinkt, fast die Hälfte der amtlichen Messpegel hierzulande weisen sehr niedrige Wasserstände aus. Die Versorgung mit Wasser schwächelte, für Gärten, Autos und Planschbecken war nicht mehr genug da. Frachter schipperten halb leer den Rhein rauf und runter, weil Deutschlands längster Fluss einen so niedrigen Wasserstand hatte, dass die Schiffe, voll beladen und bei entsprechend größerem Tiefgang, auf Grund gelaufen wären.

In manchen Gemeinden mussten gar Tankwagen anrücken, um die Einwohner mit frischem Trinkwasser zu versorgen, denn aus den Hähnen kam nichts mehr. Weil Brunnen ausgetrocknet waren, Flüsse, Bäche und Seen nur noch bedenklich wenig Wasser führten und die öffentlichen Versorger an ihre Grenzen kamen. In einer ganzen Reihe von Gemeinden haben die Verwaltungen verboten, private Schwimmbecken mit Leitungswasser zu befüllen, Spiel-, Sport- und Fußballplätze, überhaupt Rasenflächen zu gießen. Dementsprechend sehen sie aus. Manche Bäche sind zu Rinnsalen mutiert, der Wasserspiegel vieler Teiche ist geschrumpft.

Selbst der Main würde gefährlich austrocknen, würden nicht pro Sekunde elf Kubikmeter Wasser über ein Stausystem, bestehend aus dem Main-Donau-Kanal und dem Fränkischen Seenland südlich von Nürnberg, in den Fluss gepumpt. Was den Artenschützern Sorge bereitet: Die Wassertemperatur des Mains ist mit bis zu 25 Grad zu hoch für viele der in dem Fluss lebenden Tiere und Pflanzen. Die Gewässerökologie leidet. 25 Grad Wassertemperatur – das schaffte hier früher kein Freibad ohne Beheizung.

Auch der Anbau des Frankenweins wird immer schwieriger. In Steillagen vertrocknen Trauben oder bekommen Sonnenbrand, sofern die Weinberge Richtung Süden ausgerichtet sind, funktioniert es ohne Bewässerung nicht mehr. Immer mehr Extremsteillagen in Mainfranken werden von den Winzern aufgegeben; zu aufwendig wäre Bewässerung.

Ist der Zustand, den Heiko Paeth schon seit Jahren vorhergesagt hat, nun eingetreten? Er ist Klimaforscher an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, präziser formuliert: Leiter der Professur für Geografie mit Schwerpunkt Klimatologie am Lehrstuhl für Geomorphologie. Ein renommierter Experte weit über die Region hinaus. Schon 2016 hatte er Unterfranken zu „einem Hotspot des Klimawandels“ erklärt. Und im Mai 2019 hat er in einem Interview mit der in Würzburg erscheinenden „Main-Post“ präzise vorhergesagt, was dauerhaft geschehen wird. „Wir bekommen in etwa das Klima von Bordeaux, mit vier bis fünf Grad Erwärmung im Maintal, im Winter wie im Sommer. Wir hätten 20 bis 30 Prozent weniger Niederschlag im Sommer und etwa zehn Prozent mehr Niederschlag im Winter.“ Immer vorausgesetzt, es ändere sich klimapolitisch nichts Grundlegendes. Und das hat es nicht in den vergangenen Jahren.

Die Klimapolitik, die angekündigten diversen Wenden von Energie und Verkehr beispielsweise, sie kommt in Deutschland nicht wirklich voran. „Unser Planet hat sich seit Beginn der flächendeckenden Messungen im Jahr 1881 um 0,9 Grad erwärmt, Unterfranken im gleichen Zeitraum um zwei Grad“, rechnet Paeth vor. „Das ist mehr als doppelt so viel als im globalen Durchschnitt. Nur an den Polkappen liegt die Erwärmungsrate jenseits von drei Grad.“ Der Ausblick des Professors, bezogen auf die Region um Würzburg, fällt nicht nur im Main-Post-Interview wenig zuversichtlich aus. „Bis Ende des Jahrhunderts, also dem Zeitraum 2070 bis 2099, wird sich die Zahl der Hitzetage an manchen Orten im Vergleich zum Zeitraum 1970 bis 1999 verfünffachen.“ Und Paeth prophezeit: „Wir werden auch mit Dürren kämpfen müssen und haben gleichzeitig einen hohen Wasserbedarf.“ Er sei sich, so der Professor, „nicht mehr sicher, ob das rein physikalische Ausmaß des Klimawandels bei uns glimpflicher ablaufen wird als in der Sahelzone oder in Ostafrika“.

Vom Wasser als Abfall zum Wasser als Luxus

Dass Deutschland ein Wasserproblem hat und auf eine Krise zusteuert, ist unter Fachleuten und Politikern, die sich mit dem Thema beschäftigen, längst Gewissheit. Die Klimakrise hat demnach immer mehr Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von und die Versorgung mit Wasser.[1] „Es fehlt uns das Wasser in der Fläche und der Tiefe“, sagte der bayerische Umweltminister Thorsten Glauber am 28. Oktober 2020 in einer Regierungserklärung im Landtag – und er meinte damit nicht nur den Freistaat. „Der hitzegestresste Boden wird zu Knäckebrot, irgendwann zu Sand, er hat kein Wasser mehr und nimmt auch keines mehr auf“, schilderte der Politiker der Freien Wähler und forderte: „Wir müssen weg vom entwässerten Boden, auf den die Sonne knallt. Die Vision ist der speicherfähige Boden mit Schatten spendenden Uferstreifen.“ In den vergangenen zehn Jahren, so Glauber, sei die Grundwasserneubildung um fast ein Fünftel zurückgegangen. „Wir sind auf dem besten Weg in einen Grundwassernotstand“, warnte Glauber.

Wohlgemerkt: Da spricht kein Klimaaktivist, der sich gerade auf eine Straße geklebt hat, sondern der Umweltminister einer durch und durch bürgerlich-konservativen Regierung eines Bundeslandes, in dessen Süden es zumindest, verglichen mit anderen Teilen der Bundesrepublik, noch ordentlich Wasservorräte gibt.

Das Deutsche GeoForschungsZentrum in Potsdam meldete bereits für den Dürresommer 2019 ein Wassermassendefizit von 43,7 Mrd. Tonnen in Deutschland. Die Niederschläge reichen nicht mehr aus, um die Speicher wieder zu füllen. Oder sagen wir es so: Die Menge ist, übers Jahr gesehen, vielleicht gar nicht das Problem, sondern dass Wasser zur falschen Zeit in zu großen Mengen auf einmal auf den Boden fällt, sodass es gar nicht erst versickern und sich als Grundwasser absetzen kann, sondern rasend schnell abfließt.

Noch verschärft wird die Situation durch ein Problem, das dieses Land seit vielen Jahren nicht in den Griff bekommt, obwohl es weithin bekannt ist und man auch weiß, wo sein Ursprung liegt: Die Rede ist von den Belastungen der Flüsse, Seen und Grundwasserschichten durch schädliche Einträge wie Nitrat, Phosphat oder andere Substanzen. Gebündelt verknappen Klimawandel und Schadstoffproblem nicht nur das Wasserdargebot (also die Menge an Grund- und Oberflächenwasser, die potenziell genutzt werden kann), sondern sie machen auch die Gewinnung und Aufbereitung von Trinkwasser immer aufwendiger – und damit teurer.

Diese Herausforderungen verschärfen sich gerade schneller als von vielen erwartet. Und wir als Staat und Gesellschaft sind darauf nur sehr unzureichend, in Teilen überhaupt nicht vorbereitet. Auch wenn Deutschland insgesamt weiter ein wasserreiches Land sei, heiße das nicht, „wir könnten uns auf Dauer darauf verlassen, dass wir immer und überall genug Wasser zur Verfügung hätten“, sagte Professorin Irina Engelhardt, Fachgebietsleiterin Hydrogeologie am Institut für Angewandte Geowissenschaften und zugleich Koordinatorin des Wasserressourcenmanagement-Projektes SpreeWasser:N, in einem Interview mit der „WirtschaftsWoche“. Bei anderer Gelegenheit formulierte sie es drastischer: „Deutschland war immer in einer Luxusposition. Wir hatten einfach immer genug. Wasser war ja quasi Abfall in Deutschland“, sagte Engelhardt. „Und wenn man von etwas genug hat, dann kümmert man sich auch nicht so darum.“ Gewiss, niemand in Deutschland muss Angst haben, dass er verdurstet, dass er sich nicht mehr oder nur noch sporadisch waschen kann oder dass Sanitäranlagen abgestellt werden. Deutschland ist ein Land mit verhältnismäßig viel Wasser, nach wie vor. Aber dieses Wasser wird weniger. Und das Ausmaß der Verknappung nimmt schneller zu, als selbst kritische Experten es vor wenigen Jahren noch geglaubt haben. Darauf muss reagiert werden, und zwar schnell und konsequent.[2]

Es ist spät, aber noch nicht zu spät

Zwischen Oktober 2018 und Oktober 2020 trafen sich Fachleute aus der Wasserwirtschaft sowie zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger immer wieder zu einem sogenannten Nationalen Wasserdialog. Angestoßen hatte ihn die Bundesregierung, die Umsetzung lag beim Bundesumweltministerium und dem Umweltbundesamt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten Handlungsfelder und definierten daraus Handlungsbedarf, formulierten strategische Ziele und empfahlen Lösungen. Das Ergebnis ist eine „Nationale Wasserstrategie“, welche die Grundlage für das Wassermanagement in Deutschland werden soll. Meere sollen besser geschützt und das Bewusstsein für die Ressource Wasser geschärft werden. Wasser-, Energie- und Stoffkreisläufe sollen besser miteinander verbunden, klimaangepasst weiterentwickelt oder Gewässer nachhaltig bewirtschaftet werden. Das sind nur einige der wesentlichen Punkte im Strategiepapier. Gewiss, manches klingt floskelhaft und ohnehin auf der Hand liegend, ist deswegen aber nicht falsch. Die Nationale Wasserstrategie weist in die richtige Richtung. Und dennoch fehlen, zumindest im letzten Entwurf des Strategiepapiers zentrale Punkte.
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Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren
 

Küstenwache: Migranten lehnten Hilfe ab

Sowohl die griechische Küstenwache als auch die Besatzung eines Frachters haben ausgesagt, dass den Migranten auf dem Boot mehrmals von griechischer Seite Hilfe angeboten wurde – die Menschen auf dem Boot hätten diese aber wiederholt abgelehnt. Sie hätten weiter nach Italien gewollt und nicht nach Griechenland.

Immer wieder kritisieren Menschenrechtsaktivisten, dass die Camps in Griechenland völlig überfüllt sind. Für die Menschen gebe es kaum eine Perspektive oder realistische Chance, nach Mittel- oder Nordeuropa weiterreisen zu können.

Ein Eingreifen gegen den Willen der Passagiere sei mit dem Risiko verbunden gewesen, das Boot selbst zum Sinken zu bringen, erklärt der Sprecher der griechischen Küstenwache, Nikos Alexiou.

Das Fischerboot war nach jetzigen Erkenntnissen in Ägypten gestartet, hatte in Libyen weitere Menschen an Bord genommen und hatte dann, mit schätzungsweise 500 bis 700 Personen an Bord, Kurs auf Italien aufgenommen. Diese direkte Route über das zentrale Mittelmeer gilt als eine der gefährlichsten Fluchtrouten nach Europa. Im Moment nehmen sie jedoch immer mehr Menschen, um Griechenland zu umgehen.

Ein Schiff der griechischen Küstenwache bei Nacht

Wer trägt die Verantwortung?

Sowohl die griechische Küstenwache als auch die Grenzschutzagentur Frontex wussten von dem Boot, schon bevor es kenterte – das ist sicher.

Nur, was in dieser Nacht dann genau passierte, als der überladene Fischkutter rund 50 Seemeilen südwestlich der Halbinsel Peloponnes in internationalen Gewässern sank, ist immer noch unklar. Es gibt viele Gerüchte und viele unterschiedliche Interpretationen dazu, wer die Verantwortung für das Unglück mit den vermutlich Hunderten Toten trägt.

Karte von Griechenland, Libyen und der Stelle des Bootsunglücks

Küstenwache spricht von Maschinenschaden als Ursache

Nach einem dieser unbestätigten Berichte, über die griechische Zeitungen und Fernsehsender berichten, soll die Besatzung eines Schiffs der Küstenwache ein blaues Seil zum Fischerboot geworfen haben – offenbar mit der Absicht, es in Schlepptau zu nehmen. Dadurch soll das Boot gekentert sein.

Die Küstenwache weist diese Vorwürfe entschieden zurück: „Es gab keinen Versuch, das Boot in Schlepptau zu nehmen – weder durch uns noch durch ein anderes Schiff“, sagt der Sprecher der griechischen Küstenwache. Nach seinen Angaben wurde nur für einige Minuten ein Seil auf das Boot hinübergeworfen, um es zu stabilisieren und um zu schauen, ob die Migranten Hilfe bräuchten. Diese hätten das Seil jedoch ins Wasser geworfen und ihre Fahrt fortgesetzt.

Irgendwann habe sich das Boot nicht mehr bewegt, die Migranten an Bord hätten von einem Maschinenschaden gesprochen, so lautet die Version der Küstenwache. Wenig später sei das Boot gekentert und innerhalb kürzester Zeit gesunken.

Ramponiertes Flüchtlingsboot, welches vor Südgriechenland sank, wodurch viele Menschen gestorben sind, 14.06.2023.

Bootsunglück als Wahlkampfthema

In Griechenland selbst ist das Unglück zum Wahlkampfthema geworden. Am 25. Juni wählen die Griechen ein neues Parlament, derzeit liegt die konservative Nea Dimokratia von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis weit vorne.

Alexis Tsipras, der Chef der größten linken Oppositionspartei Syriza, besuchte gestern Kalamata, den Ort, an den die Überlebenden zunächst gebracht wurden. Für ihn ist die Küstenwache mitschuldig an dem Unglück, sie hätte früher eingreifen müssen.

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Marian Wendt, der Leiter des Griechenland-Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, sieht das anders. Die Küstenwache habe verantwortungsvoll gehandelt und im rechtlichen Rahmen alles Mögliche getan. In einem ausführlichen Thread auf Twitter schreibt Wendt: „Es gibt, wenn sich das Schiff in internationalen Gewässern befindet, weder eine rechtliche Handhabe, mit Zwang zu evakuieren“, noch sei das gegen den Willen der Besatzung möglich und zudem auch technisch schwierig.

Cochetel: Küstenwachen spielen Notlagen immer wieder herunter

Was genau bei diesem Unglück passiert ist, wird sich vermutlich nicht mehr rekonstruieren lassen. Für Cochetel, den meinungsstarken UN-Sonderbeauftragten, gibt es ein grundsätzliches Problem beim Umgang mit den Migrantenbooten. Schiffsnotlagen würden immer wieder von Küstenwachen einiger Mittelmeeranrainerstaaten heruntergespielt, in der Hoffnung, dass die Boote voller Menschen die Fahrt bis in italienische Gewässer fortsetzen werden.

Manche Küstenwachen gingen sogar so weit, Essen, Wasser und Schwimmwesten zu verteilen und Boote wieder vollzutanken, nur um sicherzugehen, dass die Menschen das eigene Hoheitsgewässer wieder verlassen. Aus Sicht des UN-Flüchtlingshilfswerks ist das völlig verantwortungslos.

Player: audioSchiffsunglück Griechenland: Kritik an EU-Flüchtlingspolitik

ARD Rom, tagesschau, 16.06.2023 19:13 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete die tagesschau am 16. Juni 2023 um 20:00 Uh

15.06.2023 • 22:03 Uhr

Nach Bootsunglück im Mittelmeer Küstenwache nimmt mutmaßliche Schleuser fest

  • 41 Menschen treiben in einem Stahlboot zwischen Tunesien und Lampedusa. (Archivbild: 26.04.2023)

    26.05.2023 • 14:05 Uhr

    Zwei Schiffsunglücke Tote und mehr als 500 Vermisste im Mittelmeer

  • Eine Schwimmweste treibt auf dem Mittelmeer
    Player: audioMindestens 55 Migranten vor der Küste Libyens ertrunken

26.04.2023 • 21:49 Uhr

Flucht über das Mittelmeer 55 Menschen ertrinken vor der Küste Libyens

  • Helfer in Italien bergen eine Leiche, nachdem vor der Küste mutmaßlich ein Flüchlingsboot gesunken ist (Archivbild vom Februar 2023)

    Player: audioStark steigende Flüchtlingszahlen auf zentraler Mittelmeerroute

27.02.2023 • 13:16 Uhr

Nach Bootsunglück in Süditalien Zahl der Todesopfer steigt auf 62

  • Das italienische Küstenwachenschiff "Diciotti" vor Sizilien

    FAQ 01.07.2019 • 17:52 Uhr

    Seenotrettung Wer regelt, wie gerettet wird?

  • Flüchtlinge sitzen auf einem Schiff, das sie aus dem Mittelmeer gerettet hat

    Interview 28.03.2019 • 23:56 Uhr

    Flucht übers Mittelmeer „Das müsste jeden Europäer beschämen“

  • Geflüchtete, die von der libyschen Küstenwache zurückgebracht worden.
    Player: audioFlüchtlingsdrama im Mittelmeer
  • Migration nach Europa – Das einträgliche Geschäft der Schleuser

  • Migranten stehen an Bord eines Fischerbootes.

    Player: audioMigration nach Europa – Das einträgliche Geschäft der Schleuser

  • Audio 20.06.2023 • 12:13 Uhr

    Migration nach Europa – Das einträgliche Geschäft der Schleuser

  • Dieses undatierte, von der griechischen Küstenwache am 14.06.2023 zur Verfügung gestellte Bild zeigt zahlreiche Menschen, auf dem Deck eines Fischerboots, das später vor Südgriechenland kenterte und sank.
    Player: audioWer ist schuld am Schiffsunglück in Griechenland? Was man bisher weiß
Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Gendern hat einen schlechten Ruf. Warum wird das Ziel: „Mehr Geschlechtergerechtigkeit in der Sprache“ so falsch verstanden?das Gendersternchen dazu gekommen.

Das ursprüngliche Anliegen feministischer Sprachkritik hatte sich da längst ausgewirkt: Die Häufigkeit von Paarformen – Studentinnen und Studenten – hatte deutlich zugenommen und Partizipialformen als geschlechtsneutrale Varianten wurden ausprobiert. Das Wort Studierende ist seit mindestens zehn bis fünfzehn Jahren an deutschen Hochschulen sehr verbreitet. Auch feminine Berufsbezeichnungen wurden schon gezielter in Texten eingesetzt, z.B. die Ärztin.

Das alles geschieht auf der Ebene der vorhandenen sprachlichen Mittel. Das Genus-System des Deutschen ist grundsätzlich dafür ausgelegt, die Unterscheidung zwischen männlichen und weiblichen Personen zu signalisieren.

Anders verhält es sich mit dem Genderstern. Er will über die Sprache hinausweisen, als typographisches Zeichen gehört er jedoch nicht zur Sprachsystematik. Dieses Symbolhafte, dieses Verweisen auf ein gesellschaftliches Anliegen, das ist neu in der Schriftsprache.

 

Von Zeitung bis Fernsehen wird das Genderthema als Konflikt inszeniert. Geht es nur um Klickzahlen und Einschaltquoten? Was steckt wirklich dahinter?

Der Konflikt wird immer so dargestellt: Auf der einen Seite stehe die linke Identitätspolitik mit ihrem Anliegen, gendergerecht oder politisch korrekt zu formulieren. Das würde von einer kleinen, ideologisierten Gruppe verfolgt, was bei einer allgemeinen Öffentlichkeit keine Anerkennung finde. Dieser Gruppe stehe der gesunde Menschenverstand gegenüber.

Ich sage: Der eigentliche Konflikt wird noch gar nicht verstanden. Tatsächlich haben wir auch auf der Gegenseite eine organisierte Gruppe, der es sehr gut gelungen ist, die vorgeblich linkspolitische Gruppe als einseitig engagiert in den Medien darzustellen. Stattdessen muss man sich vergegenwärtigen, dass diese Gegnerschaft mit Interessen verbunden ist, vertreten vom Verein Deutsche Sprache (VDS). Das ist ein Interessensverein für die deutsche Sprache, für eine bestimmte Auffassung von Sprache. Diese Auffassung zu vertreten ist natürlich das gute Recht der hier organisierten Menschen.

Buchcover Sprachkampf von Henning Lobin

erschienen im Dudenverlag

In meinem Buch „Sprachkampf“ weise ich allerdings nach, dass die AfD den Streitgegenstand Sprache aufgegriffen hat als etwas, womit sie sich gut positionieren kann. Mit diesem Gegenstand lockt sie gewissermaßen ein gemäßigtes, kulturaffines Bürgertum an und versucht auf diese Weise die Auseinandersetzung um die deutsche Sprache für sich zu instrumentalisieren.

Mit meinem Buch will ich diese Polarisierung überhaupt erst mal beschreiben, um deutlich zu machen, dass wir auf der einen Seite nicht nur eine durchgeknallte Gruppe von Genderideologinnen und -ideologen haben, wie es immer dargestellt wird.

Wenn es mit dieser Erkenntnis gelingt, die auf der einen wie auf der anderen Seite vorhandenen Interessen auszuklammern, die über das Sprachliche hinausgehen, dann hätten wir endlich eine Basis, uns sachgerechter über die eigentlichen sprachlichen Anliegen zu verständigen.

 

Nehmen die Medien den Verein Deutsche Sprache zu ernst?

Der gut organisierte Verein macht eine geschickte Pressearbeit und ist erfolgreich darin, sich in der politischen Sphäre zu vernetzen. Mit vielerlei Aktionen, Umfragen, Aufrufen und Veranstaltungen frischt er seine Bekanntheit immer wieder auf. Bei einem Bericht mit Bezug zum VDS wäre es gut, sich mit den Positionen des Vereins und dem Kontext, in dem er agiert, genauer auseinanderzusetzen und nicht nur einzelne Aussagen der Pressemitteilung zu zitieren. Bei anderen Interessensverbänden wird ja journalistisch auch näher hingeschaut. Sich für Sprache zu engagieren ist mit Interessen verbunden, es ist keine unschuldige Angelegenheit mehr. In meinem Buch sage ich nicht, wo der VDS politisch steht oder dass er gar als rechtslastig einzuordnen ist. Was ich aber sage, ist, dass sich die AfD des Sprachthemas angenommen hat und sich dabei in Diktion und Stil am VDS orientiert.

 

Gießen manche Medien absichtlich Öl ins Feuer?

Meine Hoffnung ist, dass wir nach und nach ein differenzierteres Diskursniveau erreichen. Zunehmend gibt es redaktionelle Beiträge in den Zeitungen und nicht mehr nur Gastbeiträge, die als Wechselspiel endlos Position auf Position präsentieren, mit den immer gleichen Argumenten. Es wäre einerseits nötig, mit journalistischen Mitteln und auch mal investigativ hinter die Kulissen zu schauen, bei allen Beteiligten, anderseits mit einer vernünftigen Darstellung des sprachwissenschaftlichen Pro und Kontras eine Basis für Bewertungen und Entscheidungen zu schaffen.

 

Fehlt es an Stellungnahmen aus der Linguistik?

Eigentlich sind schon eine ganze Reihe von Artikeln und Stellungnahmen publiziert worden, vielleicht zu oft nur in wissenschaftlichen Publikationsorganen. Ich meine, man sollte sich nicht zu fein sein, auch abwegigen und grob entstellenden Argumenten öffentlich entgegenzutreten, damit sie nicht unwidersprochen im Internet herumwabern. Also zum Beispiel die Behauptung: Genus habe nichts mit Sexus zu tun. Das ist eine falsche, undifferenzierte Aussage, die selbst solche Germanistinnen und Germanisten, die gendergerechte Sprache ablehnen wie etwa Peter Eisenberg, nicht unterschreiben würden. Genus ist ein Indikator für Sexus in einigen Gebrauchszusammenhängen. Man sollte sich hier einbringen, wie es etwa die Linguistinnen Gabriele Diewald und Damaris Nübling zu dieser Frage getan haben. Auch in einer öffentlichen und aufgeheizten Diskussion ist es wichtig, sich mit Fachwissen zu positionieren.

 

Der Spiegel hat am Wochenende vorm Frauentag mit einem Titel im Dudendesign provoziert: „Ist das noch Deutsch?“

Bei der Titelgeschichte zur gendergerechten Sprache war es interessant zu sehen, dass sich der Spiegel einer Positionierung enthalten hat, auch wenn der Titel etwas anderes anzudeuten scheint. Der Gewinn war die Darstellung des sehr komplexen Panoramas – mit vielen beteiligten Personen, den Firmen, Verbänden und Agenturen und auch denjenigen, die das Gendern vielleicht aus rein praktischen Gründen ablehnen. Und das alles außerhalb dessen, was in der Sprachwissenschaft dazu gesagt wird. Auch die Süddeutsche hat mit einem Artikel am Wochenende damit begonnen, das Thema redaktionell ausführlicher zu bearbeiten. Das alles bringt das Thema auch den Menschen nahe, die es für sehr sperrig halten.

 

Umfragen zufolge halten die deutschen Frauen nichts vom Gendern. Veröffentlicht wird aber nie, welche Fragen gestellt wurden.

Die Befragungsmethodik ist immens wichtig und ja selbst ein Forschungsgegenstand in der Psychologie. Ergebnisse einer vom VDS in Auftrag gegebenen Umfrage mit missverständlichen Fragen wurden sogar auf der Titelseite der FAZ gemeldet und vielfach zitiert. Wie es dazu gekommen ist, habe ich in meinem Buch dargestellt. An meinem Institut wurden in Verbindung mit dem Sozioökonomischen Panel selbst auch Umfragen durchgeführt, und diese haben ergeben, dass 79,5 Prozent aller Befragten andere Formen als das generische Maskulinum bevorzugen. Formen der geschlechtergerechten Sprache wie z.B. die Beidnennung oder das Partizip waren sehr willkommen, nur 17 Prozent waren mit dem generischen Maskulinum zufrieden. Wir haben zu diesen Sprachformen anhand von konkreten Auswahlentscheidung gefragt und nicht pauschal nach der Meinung zum „Gendern“.

 

Ein Kritikpunkt ist stets: „Sprachpolizei! Uns werden Vorschriften gemacht, wie wir zu sprechen und zu schreiben haben.“

Wir haben gar keine Institutionen, die Sprache vorschreiben. Behörden oder Firmen haben dagegen immer schon Regularien für Formulierungen in Standardbriefen gehabt, das erstreckt sich nun auch auf die geschlechtergerechte Personenkennzeichnung. Wer nun ein Schreiben und sei es eine Wahlbenachrichtigung mit Genderstern erhält, empört sich vielleicht darüber. Es wird eine Perspektive eingenommen, dass allein schon die Konfrontation mit einer solchen sprachlichen Form als etwas Übergriffiges bewertet wird. Dabei müssen wir in sprachlicher Hinsicht immer aushalten, wie andere sich ausdrücken, selbst wenn uns das nicht gefällt. Einen Stadtrat kann man abwählen, Produkte eines Versandhändlers, der gendert, muss man nicht kaufen. Aber eine Sprachpolizei gibt es nicht.

 

Könnte denn der Rat für deutsche Rechtschreibung nicht endlich mal das Gendersternchen akzeptieren?

Meine persönliche Meinung: Er sollte es nicht tun. Die Frage des Gendersterns ist eine Frage des Sprachgebrauchs. Der Stern gehört nicht zum Bereich der Standardisierung von sprachlichen Formen und nicht zum Kernbestand der deutschen Orthographie, da haben wir nur Punkt, Komma, Semikolon, Binde- und Trennungsstrich, Apostroph, Anführungszeichen, Ausrufezeichen, Fragezeichen, Schrägstrich, Klammern. Sie haben eine bestimmte rein sprachliche, geregelte Funktion. Es gibt daneben viele andere Zeichen, die typographische Funktionen haben oder Texte gliedern. Die sind ebenfalls nicht im orthografischen Regelwerk erfasst, aber eben auch nicht falsch.

 

Im Textlabor von Genderleicht merken wir, dass sich viele klare Regeln für Gendersternchen & Co wünschen.

Wir müssen uns im Rechtschreibrat darüber verständigen, dass es auch Formen schriftsprachlicher Konventionen gibt, die außerhalb der Orthografie eher im Bereich der Typographie liegen. Es gibt hier eine Art Zwischenebene, die nicht gleichbedeutend ist mit einem orthographischen Fehler. Wie wir diese Zwischenebene erfassen und vielleicht doch mal Hinweise geben können zu einer geeigneten Verwendung des Gendersterns, das werden wir im Rechtschreibrat diskutieren.

 

Sie nennen Ihr Buch Sprachkampf. Wann kommt es zum Waffenstillstand?

Ich bin da ganz optimistisch. Zurzeit ist noch viel Druck im Kessel, auch durch die Auseinandersetzung rund um den Duden und höchstrichterliche Rechtsprechung zuvor. Aber eine derartige Intensität der Auseinandersetzung wird nicht aufrechtzuhalten sein. Momentan vergeht kaum ein Tag ohne Erwähnung des Themas in den Medien, aber das Interesse wird wieder abflauen.

Wir werden uns daran gewöhnen müssen: Einige werden den Genderstern nie einsetzen und andere werden dagegen sehr konsequent mit Sternchen schreiben. Auch diese Texte müssen wir lesen, wenn wir miteinander im Kontakt bleiben wollen. Das ist eine Situation der Vielfalt, der Diversität in der Sprache, auf die müssen wir uns einfach einstellen.

 

 Gendern im Journalismus, Sprachpolitik

von | 11. März 2021 | Gendern im Journalismus, Sprachpolitik

Sprachkampf von Henning Lobin
Reihe: Duden-Sachbuch
ISBN: 978-3-411-74004-8

 

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Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

(Unser Resümee) In der SZ ist Marie Schmidt genervt, hätte sie sich doch gewünscht, dass der Rat Klarheit geschaffen und den Kulturkampf ums Gendern beendet hätte: „Die Diskussion sei kontrovers gewesen, sagte der Vorsitzende Josef Lange nach der Sitzung des Rates, die ja nun auch kaum ein Ergebnis gezeitigt hat. Das könnte man als Zeichen verstehen, dass sich der Rat ebenso blockiert zeigt wie die Gesellschaften des Westens in ihren Kulturkämpfen insgesamt.“ Auf ZeitOnline wäre auch Johannes Schneider für eine Entscheidung dankbar gewesen: „Eine Verbannung des Gendersterns aus öffentlich-offiziellen Schreiben hätte auch diejenigen entlastet, die ihn eigentlich befürworten. So wäre nicht jede Entscheidung eines Fachreferats zu einem Statement im Kulturkampf geworden, so hätte sich niemand beim Verfassen einer Abi-Klausur bemüßigt gefühlt, im Graubereich ein progressives Zeichen zu setzen. Keinem Menschen kann schließlich abverlangt werden, guerillamäßig am Arbeits- und Ausbildungsplatz gegen einen klar gefassten Common Sense anzugehen, der nicht explizit menschenfeindlich ist, egal als wie reaktionär und ausschließend man den auch sonst empfinden mag.“

Gut so, dass keine Entscheidung getroffen wurde, meint indes Matthias Heine, der das Gendern in der Welt ohnehin für „Politjargon“ hält: „Wer gendert, beurkundet damit seine Fortschrittlichkeit, seine feministische Linientreue und ganz generell die Zugehörigkeit zu jenem Lager, das bis vor Kurzem glaubte, es hätte die unbestrittene kulturelle Hegemonie errungen. Die Frage, ob Sternchen, Doppelpunkt oder Unterstrich die beste orthografische Genderpraxis sind, ist im Grunde nur die Frage nach dem besten Parteiabzeichen des beschriebenen politischen Lagers. Darüber zu entscheiden ist nicht Aufgabe einer politisch neutralen Instanz, wie es der Rechtschreibrat sein sollte.“

 

 

Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Für den Kommunismus in seiner tschechischen Heimat begeisterte er sich zunächst glühend, dann blieb es lange ein Hin und Her, bis ihn die Niederschlagung des Prager Frühlings vollends desillusionierte. Ab 1975 lebte er in Paris, von seiner Heimat ausgebürgert, mit der im folgenden lange fremdelte. Im Exil schrieb er Bestseller wie „Die unerträgliche Leichtigkeits des Seins“ aus dem Jahr 1984. „Es gehört zu den wenigen zauberhaften Geschichten des gruseligen 20. Jahrhunderts, dass das Regime in Prag unterging, während aus Milan Kundera, den sie fertig machen wollten, einer der meistgelesenen Schriftsteller der Welt wurde“, schreiben Joseph Hanimann und Nils Minkmar in der SZ. „Für uns Tschechen blieb er ein Mann der vielen Geheimnisse„, schreibt sein Schriftstellerkollege Jaroslav Rudiš in der FAZ – Kunderas Landsleute mussten nach dem Prager Frühling oft lange warten, bis sie ein neues Kundera-Buch in Händen halten konnten: „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ etwa erschien auf Tschechisch zunächst in kleiner Auflage in Kanada und offiziell in Tschechien erst in diesem Jahrtausend. „Einige Hundert hat man in die sozialistische Tschechoslowakei reingeschmuggelt. Die Bücher wanderten von Haushalt zu Haushalt. Man hatte nur eine einzige Nacht zum Lesen gehabt, denn am nächsten Tag war schon der nächste Leser dran. Deren Liste war lang. So konnten nur die Glücklichen das Buch lesen. Dann ist etwas Besonderes passiert. Die Liebesgeschichte von Tomáš und Tereza wurde einfach erzählt. In den Kneipen. In den Cafés.“

Kunderas „Ruhm gründet auf der einmaligen Verbindung von leichter Erzählkunst und Reflexion, an denen er seine Leser zu beteiligen schien, als hole er nur Bauklötze aus der Kiste und schaffe mit ein paar Bewegungen aus dem Handgelenk ein Dorf, ein Schlafzimmer, einen Fluss“, schreibt Paul Ingendaay in der FAZ. „Die Energie, die er brauchte, sich vom kommunistischen Regime zu lösen, macht einen Gutteil der befreienden Kraft seines Schreibens aus“, hält Arno Widmann in der FR fest. „Er konnte seinen Leserinnen und Lesern die Augen öffnen dafür. Und – vielleicht wichtiger noch – ihren Geist.“ Etwa bei der Entdeckung Mitteleuropas: „Wer nach dem Krieg in der zweigeteilten Welt aufwuchs, der unterschied zwischen West und Ost. Alles, was unter der Herrschaft der Sowjetunion stand, war für mich Osteuropa. Dagegen rebellierten aufmüpfige Intellektuelle auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs seit den 60er Jahren immer lauter. … Sie weigerten sich, sich als natürliche Bundesgenossen der Sowjetunion zu betrachten.“

Kundera „lehnte aus Prinzip alle Prinzipien ab„, schreibt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel: So blieb Kundera sich im steten Wandel treu. „Literarisch reihte er sich ein in eine Tradition, als deren frühe Höhepunkte er Miguel de Cervantes‘ ‚Don Quijote‘ und Denis Diderots ‚Jacques der Fatalist und sein Herr‘ verehrte, um dann Franz Kafkas Schuldgebirge und Hermann Brochs Irrationalitätslabyrinthe zu durchqueren.“ Ulrich Rüdenauer hält auf ZeitOnline Kunderas „Buch vom Lachen und Vergessen“ hoch: Das ist „ein Roman, der in einer virtuosen musikalischen Komposition und in verschiedenen Variationen Niederlagen und Verwerfungen durchspielt; die Handlung ist aufgesplittert, muss erst vom Leser zusammengesetzt werden. … Gerade die formale Freiheit, die in diesem Buch liegt, die episodenhafte Verknüpfung reflexiver und erzählerischer Passagen, scheint einen noch größeren Affront darzustellen als sein mit totalitären Mechanismen abrechnender Inhalt. Schon einzelne Sätze in diesem Roman hätten Kundera in der kommunistischen Tschechoslowakei zur Persona non grata machen können.“ Weitere Nachrufe schreiben Karl-Markus Gauss (NZZ) und Alexandra Mostyn (taz).

Nur am Rande erwähnt wird in einigen Nachrufen die KunderaAffäre, die Adam Hradilek 2008 im tschechischen Magazin Respekt bekannt machte, nachdem er einen Polizeibericht von 1950 über eine Anzeige gefunden hatte, die in einem Polizeirevier in Prag gemacht wurde: Kundera, damals Student, hatte laut diesem Bericht einen Kurier des amerikanischen Geheimdienstes, Miroslav Dvoracek, an die Polizei verraten. Dvoracek büßte dafür 14 Jahre in einem Arbeitslager. Kundera bestritt die Anzeige (siehe auch unser Dossier zur Kundera-Affäre). „Der individualistische Bonvivant also als eilfertiger Denunziant, der spätere Ideologieverspotter als lebenslanger Verdränger?“, fragt Marko Martin in seinem Kundera-Nachruf in der Welt. „Kundera stritt eine Verwicklung in den Fall ab, bekannte sich jedoch zu seiner parteigläubigen Frühphase. Prager Intellektuelle, die ihm nicht gewogen waren, erinnerten allerdings daran, dass auch zu Beginn der Siebzigerjahre Kundera vor allem an sich selbst gedacht und das Petitions- und Bürgerrechtlerengagement eines Václav Havel aus kalter olympischer Distanz betrachtet hatte. Dennoch: Wer außer Kundera hatte die ästhetischen und moralischen Zumutungen, mit denen der Alltagstotalitarismus seine Bürger kujonierte, derart präzise beschrieben und in wissendem Gelächter einen möglichen Ausweg skizziert?“

Juli 2023 | In Arbeit | Kommentieren

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