Alsdann: Mit dieser Frage sind Sie nicht allein, denn mittlerweile hat sich eingeschlichen, was jemandem wie mir – höre ich das in Gesprächen mit Leuten, die – eigentlich – keine „Simpel“ sind, dann schmerzt mich das.  Drum dieser Beitrag:

als und wie – Vergleichspartikel und Konjunktion

Die Wörter als und wie werden oft als Vergleichspartikel bezeichnet, doch im Grunde handelt es sich bei beiden Wörtern auch um Konjunktionen, denn in Vergleichen kann auch ein ganzer Satz folgen.

Sie läuft schneller als ich.
Sie läuft schneller, als ich in ihrem Alter gelaufen bin.

Heute ist es kälter als gestern.
Heute ist es kälter, als es gestern war.

Er hat es besser gemacht, als ich erwartet hatte.

Mach es so wie ich!
Mach es so, wie ich es gemacht habe!

Mach es so gut, wie du kannst!

 

wie oder als?

Kommen wir nun aber zu der Frage, wann wir welche Konjunktion in Vergleichssätzen verwenden.

Die Regeln sind einfach:

  • Bei Vergleichen mit dem Komparativ (schneller, höher, schöner usw.) verwenden wir als.
  • Bei Vergleichen mit dem ungesteigerten Adjektiv, also dem Positiv (schnell, hoch, schön usw.) steht wie.

Vergleiche mit wie

Mit der Vergleichspartikel wie drücken wir Gleichheit aus. Es gibt also keinen Unterschied zwischen den Dingen, Sachverhalten oder Personen, die wir vergleichen. Das Adjektiv ist dabei nie gesteigert.

Sie ist so groß wie ich.
Er ist nicht so groß wie sie.
Das Buch ist so teuer wie das andere.
Wein trinke ich nicht so gern wie Bier.
Das Auto ist doppelt so teuer wie das andere.
Er ist so stark wie ein Bär.
Das riecht wie Putzmittel.
Sie kann singen wie keine andere.
Jemand wie du sollte da vorsichtig sein.
In Zeiten wie diesen muss man sparsam sein.
Da geht es dir wie mir.

Ich brauche die Antwort so schnell wie möglich.

Ich möchte es so gut machen wie du.
Ich möchte es so gut machen, wie du es gestern gemacht hast.

Vergleiche mit als

Mit der Vergleichspartikel als drücken wir Ungleichheit aus. Es gibt also einen Unterschied zwischen den Dingen, Sachverhalten oder Personen, die wir vergleichen.

Ungleichheit nach dem Komparativ

In Vergleichen benutzen wir das gesteigerte Adjektiv (Komparativ) + als

Er ist größer als ich.
Das Buch ist teurer als das andere.
Sie ist älter als ihre Schwester.
Er spielt lieber Fußball als Basketball.
Zwei Stunden sind für diese Aufgabe mehr als genug.
Wir machen es besser jetzt als nie.

Sie hat es besser gemacht als ich.
Sie hat es besser gemacht, als ich es gestern gemacht habe.

Ungleichheit nach andere, anders, nichts, kein, niemand

Nach andere, anders, nichts, kein, niemand steht in Vergleichen die Vergleichspartikel als.

Ihre neue Frisur ist alles andere als schön.
Das Ende des Films war anders, als ich es erwartet hatte.
Er redet nichts als Unsinn.
Ich will mit keinem anderen sprechen als mit ihr.
Kein anderer als er sollte diese Aufgabe übernehmen.
Ich habe mit niemand anderem gesprochen als mit ihm.

Gleichheit nach als ob, als wenn, als + Konjunktiv

Wir vergleichen das Geschehen mit einem anderen angenommenen (hypothetischen) Geschehen.

Sie tut so, als ob sie es noch nie gehört habe.
Sie tat so, als wenn sie es noch nie gehört hätte.
Sie tut so, als habe sie es noch nie gehört.
Es kam mir vor, als ob ich schon eine Ewigkeit gewartet hätte.
Es kam mir vor, als hätte ich schon eine Ewigkeit gewartet.

Syntax in Vergleichssätzen mit als und wie

In den Sprachniveaus A1 und A2 lernt ihr, dass der Infinitiv, die Vorsilbe trennbarer Verben, das Partizip II oder in Nebensätzen das konjugierte Verb am Ende stehen.

Es gibt jedoch Elemente, die noch dahinter stehen (im Nachfeld):

Ganz am Ende des Satzes, also noch hinter dem Infinitiv, der Vorsilbe trennbarer Verben, dem Partizip II oder dem konjugierten Verb (im Nebensatz) stehen Vergleiche mit als und wie sowie Infinitive mit zu.

Ich will es besser machen als gestern.
Beim nächsten Mal werde ich versuchen, es besser zu machen als heute.
Ich kam mir vor wie ein Idiot.
Sie hat es so gut gemacht wie ich.
Ich denke, dass er es genauso gut gemacht hat wie sie.

Die temporale Konjunktion als

Darüber hinaus gibt es auch die temporale Konjunktion als.

Als wir uns kennenlernten, waren wir noch Studenten.
Als ich ein Kind war, habe ich oft stundenlang gespielt.

Direkte und indirekte Fragen mit wie

Direkte und indirekte Fragen können wir mit dem Interrogativpronomen wie beginnen, wenn wir nach der Art und Weise fragen.

Wie hast du das gemacht?
Können Sie mir bitte sagen, wie ich zum Rathaus komme?
Ich frage mich, wie sie das gemacht hat.
Ich würde gern wissen, wie das geht.

Nach so vielen Erklärungen und Beispielen zu den Vergleichen mit als und wie ist es jetzt an der Zeit, das Gelernte zu üben!

Okt. 2023 | In Arbeit | Kommentieren
Unmittelbar nach dem Angriff ordneten zahlreiche deutsche und andere westliche Experten den Überfall als Versuch ein, eine Annäherung zwischen Israel und der arabischen Welt, insbesondere Saudi-Arabien, durch eine Eskalation der Gewalt zu vereiteln. Die saudische Führung, so die landläufige Meinung, habe kurz davor gestanden, einen Friedensvertrag mit Israel zu unterzeichnen und diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Dies hätten Iran und seine verbündeten Kräfte, Hamas und Hizbullah, mit dem Massaker vom 7. Oktober und der zu erwartenden militärischen Antwort Israels erfolgreich konterkariert. Dass ein Zusammenhang zu diesen Verhandlungen besteht, ist offensichtlich. Dennoch greift die Analyse etwas zu kurz. Womöglich liegt ihr sogar eine potenziell folgenschwere Fehleinschätzung des Kalküls Saudi-Arabiens und der grundsätzlichen Lesart des Konflikts im »arabischen Lager« zugrunde.
Am Vorabend des Angriffs hatte die Biden-Administration mit Nachdruck versucht, eine Einigung zwischen Saudi-Arabien und Israel herzustellen und das Werk des von ihr ansonsten wenig geschätzten Präsidenten Trump und seines Schwiegersohns Jared Kushner von 2020 fortzusetzen. Über die Motive lässt sich zumindest sagen, dass Biden vor den anstehenden Wahlen im kommenden Jahr einen ebenbürtigen Vermittlungserfolg in Nahost vorweisen wollte. Der Wunsch scheint Vater des Gedankens, die Realität Nebensache.

Selbst israelische Experten, die sich zuvor stark für eine israelisch-arabische Annäherung im Geiste der sogenannten Abraham-Abkommen zwischen Israel, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko engagiert hatten, waren zunehmend erstaunt über den amerikanischen Optimismus, der zum Teil schon wie Naivität wirkte. Warum sollte Saudi-Arabien seine wachsende Rolle als Führungsmacht der arabischen und islamischen Welt aufs Spiel setzen und ausgerechnet jetzt einen solchen Deal eingehen, bei dem es die von rechtsextremen und messianischen Kräften dominierte Regierung Netanyahu ohne Gegenleistung stärkt und sämtliche Ansprüche der Palästinenser ignoriert? Und war das von Saudi-Arabien geführte Spektrum, das mitunter als »arabisches Lager« bezeichnet wird, tatsächlich überrascht oder gar erschüttert vom Ausbruch der Gewalt?

.Saudi-Arabien agiert strategisch und zweigleisig –
dazu gehört auch das Spiel mit falschen Erwartungen

.Dieser Einschätzung liegt womöglich ein Unvermögen zugrunde, die – etwas pauschal gesagt – arabische politische Mentalität zu verstehen. Mit Sicherheit aber die grundlegende Annahme, die Araber seien noch immer träge, unfähig zur strategischen Gestaltung, und ausschließlich von kurzfristigen Interessen und dem Bedürfnis getrieben, ihre Macht im Inland zu erhalten. Diese Annahme preist nicht ein, dass insbesondere Riad seit einiger Zeit eine Strategie verfolgt, große Teile der arabischen und muslimischen Welt hinter sich zu versammeln, den Nahen Osten im eigenen Sinne neu zu ordnen und dabei auch ambivalent bis zweigleisig arbeitet, wozu auch das Spiel mit der Täuschung und falschen Erwartungen anderer Mächte gehören kann.

.Wer die saudische Politik der letzten Jahre genauer verfolgt und sich in den Hauptstädten der arabischen Staaten umhört, kann zu einem anderen Schluss kommen. Arabische Regierungen in Algier, Riad, Doha, Kuwait-Stadt oder Bagdad haben in den letzten Jahren aufmerksam die Erfahrung der Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrains mit der Normalisierung beobachtet – skeptisch, aber ohne diese allzu lautstark zu verurteilen wie seinerzeit in den 1970er Jahren, als Ägyptens Präsident Anwar Al-Sadat Frieden mit Israel schloss und von den Staaten der Arabischen Liga großenteils isoliert wurde. Diese arabischen Regime und Regierungen haben allerdings auch verstanden, dass beide Golfstaaten spezifische Interessen verfolgen, die mit wirtschaftlichen, technologischen Interessen, aber auch ihrer Angst vor Iran und der unzureichenden Verlässlichkeit der USA als Schutzmacht am Golf zu tun haben.

.Wer allerdings Erwartungen dahingehend gesetzt hat, dass die Annäherung an Israel den arabischen Unterzeichnerstaaten der Abraham-Abkommen auch Hebel zur Lösung der Palästinafrage in die Hand geben oder zumindest eine Deeskalation zur Folge haben würde, wurde aus Gründen enttäuscht, die mit den Vertragswerken zunächst einmal wenig zu tun hatten. Denn in der Zwischenzeit kam Benjamin Netanyahu und mit ihm die rechteste und extremste israelische Regierung aller Zeiten zustande, die einen definitiven, exklusiven Anspruch der Juden auf Palästina propagierte.

Das saudische Credo war darüber hinaus immer, dass man erst eine Botschaft in Teheran wiedereröffnen würde, dann irgendwann vielleicht in Tel Aviv. Während man also die amerikanischen Gesprächspartner hinhielt und eine Annäherung an Israel in Aussicht stellte, beeilte sich die saudische Diplomatie, Beziehungen zu Iran wiederherzustellen. Dies aus drei Gründen: Der Kalte Krieg mit Iran band nicht nur Ressourcen, sondern hatte auch negativen Einfluss auf saudische Interessen in der Region – am Persischen Golf, wo die meisten Öl-Vorräte lagern, an der Südgrenze im Jemen, aber auch hinsichtlich der zunehmend nach Asien ausgerichteten saudischen Außen- und Handelspolitik, wo Iran nun einmal dazwischenliegt und ein großer Störfaktor sein kann.

Rätselhafter schien vielen Beobachtern hingegen die Motivation Riads für eine Aufwertung des syrischen Regimes, von der saudische Regierungsvertreter auffällig offenherzig sagten, man verfolge gar keine größere Strategie, sondern probiere einfach einen Politikwechsel angesichts früherer Misserfolge in Syrien. Die unter Experten weitverbreitete Erklärung, Saudi-Arabien wolle mit der Wiederaufnahme von Damaskus in die Arabische Liga lediglich den von Syrien ausgehenden Handel mit dem Aufputschmittel Captagon in der Region eindämmen, scheint oberflächlich richtig. Dahinter stand womöglich aber noch ein anderes Kalkül: Man will einen weiteren Zerfall Syriens aufhalten, da dieser nach saudischer Lesart nicht nur Iran, sondern auch Israels Vormachtstellung im Nahen Osten unumkehrbar stärkt. Für eine Lösung des Nahostkonflikts, bei welchem palästinensische Interessen noch berücksichtigt würden, benötigt man den arabischen Frontstaat Syrien. Nicht zu stark, aber auch nicht zu schwach. Ob mit Assad oder ohne ihn.

Die Frage, ob sich Saudi-Arabien dabei tatsächlich für das Schicksal Palästinas und der Palästinenser interessiert, ist legitim. In westlichen Analysen und Berichten überwog in den letzten Jahren die Meinung, das Palästinathema diene arabischen Regimen nur als Propagandainstrument, mit welchem sie die »arabische Straße« hinter sich versammeln wollten. Diese Lesart übersieht die ideologische Grundeinstellung, welche nicht nur islamistische, sondern auch jene Kräfte im Nahen Osten hegen, an deren Spitze sich Kronprinz Muhammad Bin Salman (MBS) und sein Projekt des arabischen Neo-Nationalismus zu stellen wollen scheinen.

Das Interesse der handelnden arabischen Akteure an Palästina mag propagandistisch nützlich, dabei aber trotzdem genuin und eine Motivation politischen Handelns sein. In der arabischen Welt ist man, ob auf der Straße oder in den Palästen, darüber hinaus in weiten Teilen davon überzeugt, dass in der Besatzung, der Unterdrückung der Palästinenser und dem ungelösten Nahostkonflikt der Schlüssel für die regionale Instabilität zu suchen ist. Ausnahmen bestätigen hier die Regel und natürlich ist das politische Verhalten der arabischen Staaten in der Palästinafrage auch widersprüchlich (wie so oft in der internationalen Politik).

Eine weitere kurzsichtige Lageanalyse in europäischen und insbesondere deutschen Medien ist die Analogie zum Jom-Kippur-Krieg von 1973, an dessen 50. Jahrestag die Hamas ihren Angriff auf Israel startete – beziehungsweise genau einen Tag, nachdem das »Jubiläum«, der 6. Oktober trügerisch ereignislos verstrichen war. Wie damals, 1973, wurde Israel an einem jüdischen Feiertag überfallen und wie damals reagierte die israelische Führung mit »Tsaz Schmoneh – Order Nr. 8«, der höchsten Alarmstufe und zeitlich unbegrenzten Einberufung von Reservisten, was man etwa in Doha oder Riad stärker registrierte als in europäischen Hauptstädten. Die Wahl des Datums seitens der Hamas wurde in Europa vielfach als Versuch interpretiert, nicht nur Israel zu demütigen und seine Verwundbarkeit zur Schau zu stellen, sondern auch die arabische Welt – gegen deren Willen – in einen großen, regionalen Krieg zu ziehen.

Der arabische Blick auf 1973

Die Jom-Kippur-Analogie geht allerdings deutlich weiter, was sich nur verstehen lässt, wenn man die bis heute weit verbreitete Sicht der Araber auf 1973 würdigt: Wer schon einmal die Nationalmuseen in Kairo und Damaskus besucht hat, wird erstaunt feststellen, dass der Oktoberkrieg (Harb Tishreen) dort im offiziellen historischen Narrativ als heroischer Akt begangen wird. Obwohl Israel den Krieg damals für sich entschied, hatten die arabischen Staaten den Israelis herbe Verluste beigebracht und – so zumindest die ägyptische Interpretation – einen Bewusstseinswandel herbeigeführt: Infolge dieses Krieges trat Israel in Verhandlungen mit Ägypten, infolge derer Sadat den gesamten Sinai zurückgewinnen konnte: als Preis für Frieden.

In der arabischen Welt ist die Ansicht weit verbreitet, dass nur ein Krieg mit großen Verlusten für Israel eine Ausgangslage für Verhandlungen sein kann, bei denen die israelische Seite auch bereit zu Konzessionen ist. Der Status Quo hingegen habe es Israel erlaubt, Schritt für Schritt Tatsachen zum eigenen Vorteil zu schaffen. Hinzu kommt, dass eine Mehrheit der Araber nicht nur in Palästina, sondern auch in anderen Ländern der Region, davon überzeugt ist, Israel wolle in nächster Zeit das Westjordanland annektieren, die palästinensische Bevölkerung vertreiben, das Al-Aqsa-Heiligtum abreißen und schließlich einen neuen jüdischen Tempel errichten.

Die in letzter Zeit zunehmende Siedlergewalt unter den Augen der israelischen Armee, die hohen palästinensischen Opferzahlen im Westjordanland, die neue Regierung Netanyahu und die empörenden Aussagen ihrer rechtsextremen Mitglieder Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich zu diesem Thema – all das trug nicht gerade dazu bei, derlei Befürchtungen zu zerstreuen. Es war vielmehr Wasser auf die Mühlen der Extremisten, die einem Showdown entgegenfieberten.

In diesem Klima konnte die Hamas das Unbehagen der arabischen Welt davor schüren, dass man tatenlos daneben stehe, während Israel auf allen Seiten siegt. Aus diesem Kontext erklärt sich auch die bemerkenswerte Empathielosigkeit, mit welcher das arabische Lager, mit wenigen Ausnahmen, auf das Massaker an der israelischen Zivilbevölkerung reagierte.

Angesichts der gefährlichen Lage gehen nun Europäer und Amerikaner auf Shuttle-Diplomatie und versuchen, arabische Regierungen zur Mithilfe bei der Eindämmung des Konflikts zu animieren. Diese verhalten und äußern sich ambivalent – vor allem aber üben sie wenig Kritik an dem Vorgehen der Hamas, was nicht gerade darauf hindeutet, dass sie sich durch die Eskalation verraten fühlen.

Womöglich kann eine Ausweitung des Krieges – etwa im saudischen Kalkül – durchaus strategische Vorteile mit sich bringen, welche über einen in solchen Fällen üblichen sprunghaften Anstieg des Ölpreises auf dem Weltmarkt hinausgehen: Die Hamas in Gaza, die einer regionalen pax saudica im Weg stünde, wäre eliminiert. Greift die Hizbullah nun aber mit ihrem großen Raketenarsenal in die Kämpfe ein, bestünde die Chance, dass sie durch israelische – und möglicherweise amerikanische – Bombardements an den Rand ihrer Existenz gedrängt wird. Für den Libanon wäre ein solcher Krieg ein Schrecken. Für die Gegner der Hizbullah in der Region aber eine vielversprechende Gelegenheit, das Land aus dem Klammergriff der schiitisch-revolutionären Organisation zu winden.

Saudi-Arabien wäre damit zumindest perspektivisch einen weiteren Spoiler seiner Führungsansprüche los oder könnte diesen mindestens entscheidend schwächen. Diese Überlegungen ließen sich auch auf Iran ausdehnen, sollte sich die Islamische Republik ebenfalls direkt in den Krieg verwickeln lassen. Es ist allerdings wahrscheinlich, dass man in Teheran die negativen Folgen einer solchen Eskalation durchgespielt hat, das saudische Kalkül richtig einschätzt und – im Gegensatz zu Hizbullah und Hamas – Krieg grundsätzlich als strategische Option, aber nicht als Frage von Sein oder Nichtsein betrachtet.

Schon jetzt ist wahrscheinlich – gleich, wie der Krieg in Gaza ausgeht und welche Opfer er zeitigt – dass Netanyahu sich politisch nicht mehr von dem Debakel des 7. Oktober erholen wird, was für eine »Friedenslösung« nach saudischer Vorstellung von großem Vorteil wäre. Denn auch Netanyahus rechtsextreme Koalitionspartner, die Israels Sicherheit für ihre politischen Ziele aufs Spiel setzten, sind diskreditiert. Ein regionaler Krieg würde Tausende israelische Opfer kosten, auch wenn Israel diesen militärisch gewinnt. Im arabischen Lager besteht eine gewisse Hoffnung, dass Israel daraufhin von seiner bisherigen Logik abrückt, wonach man dank einer haushohen militärischen Überlegenheit langfristig jedes politische Ziel in der Region durchsetzen kann.

1973 geriet der Nahe Osten durch das drohende Eingreifen der Supermächte USA und UdSSR an den Rand eines Weltkriegs, was den Leidensdruck hinsichtlich einer international verhandelten Konfliktbeilegung stärkte. Israel erlitt dramatische Verluste, infolge derer die Likud-Regierung Golda Meir stürzte. Der jüdische Staat ging danach Kompromisse ein. »Jom Kippur« wurde der letzte große Krieg Israels mit seinen arabischen Nachbarn: Hier liegt aus Sicht des arabischen Lagers die wahre Analogie zu 1973.

Wenn also europäische und amerikanische Regierungschefs nun durch den Nahen Osten reisen, um für Frieden und Deeskalation zu werben, und gleichzeitig erklären, sie wollten Israel mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützen, so kann es sein, dass sie freundliche Worte zu hören bekommen. Sie sollten allerdings im Kopf behalten, dass manche ihre Counterparts nicht nur im Frieden, sondern auch im Krieg eine Gelegenheit sehen, die Region neu zu ordnen. Vor allem wenn es ein Krieg ist, an dem sie selbst nicht teilnehmen müssen, sondern lediglich diejenigen Mächte, an deren wechselseitiger Schwächung sie ein gewisses Interesse haben.

Okt. 2023 | In Arbeit | Kommentieren
Okt. 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Ein Jahr lang teilen Polizisten aus Frankfurt am Main rechtsextreme, antisemitische und menschenfeindliche Inhalte in einer WhatsApp-Gruppe. Der Name ihrer Gruppe: „Itiotentreff“. In den 1619 Nachrichten der Beteiligten sah das Landeskriminalamt Hessen mehr als 200 potentielle Straftaten. Die Beteiligten relativieren den Holocaust und verherrlichen den Nationalsozialismus, sie machen sich Menschen mit Behinderung verächtlich und amüsieren sich über Vergewaltigung. „Das ist so widerwärtig, da dreht sich einem der Magen um“, wird ein leitender Ermittler später zitiert.
Zusammen mit dem ZDF Magazin Royale veröffentlichen wir auf Itiotentreff.chat erstmals den gesamten Nachrichtenverlauf, damit Sie sich ein Bild davon machen kannst, welches Verhalten in der Polizei Hessen toleriert wurde.
 

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Okt. 2023 | In Arbeit | Kommentieren

durch? Warum? Wem nützen sie, was hat das mit Macht zu tun, warum profitiert eine gewisse Mehrheit von gewissen Erzählungen mehr als von anderen?“

Sprache schafft Realitäten

Aber ließen sich diese alten Deutungshoheiten nicht auch aufbrechen, ohne eine Menge Sonderzeichen in den alltäglichen Sprachgebrauch einzuführen? So gibt es zum Beispiel auch Menschen, die zwar sagen: Ja, es ist wichtig, Deutungshoheiten aufzubrechen und eine größere Vielfalt sichtbar zu machen. Dies solle sich aber nicht so in der Sprache widerspiegeln, wie das jetzt mit Gendersternchen geschieht oder indem ich die weibliche und männliche Form nutze. Weil, so das Argument, man auch das generische Maskulinum für alle nehmen könne, denn jeder wisse, dass alle damit gemeint seien.
Das hält Horst Simon, Professor für Historische Sprachwissenschaft, für einen Trugschluss:
„Leute glauben, dass sie irgendetwas denken, aber vielleicht stimmt das gar nicht. Es gibt ne Menge Studien im Bereich der Psycholinguistik, die gezeigt haben, dass es doch subtil Unterschiede gibt, ob jemand sagt: Da sitzen zwei Lehrer*innen oder das sitzen zwei Lehrer. In der Art, was dabei konzeptualisiert wird. Und ich glaube, das kann man mittlerweile nach 35 Jahre empirischer Forschung in dem Bereich auch nicht mehr abstreiten, dass es Konzeptualisierungsunterschiede gibt.“

„Unsere Sprache ist ja immer normiert“

Es wäre gut, wenn sich Institutionen wie etwa auch die Medien klare Regeln geben, dass und wie gegendert wird. Sprachnormen seien doch auch in anderen Bereichen etwas völlig Übliches.
„Unsere Sprache ist ja immer normiert“, betont sie. „Wenn ich an die Universität gehe, weiß ich auch, dass gewisse Dinge von mir erwartet werden. Aber ich finde es doch bezeichnend, dass gerade der Bereich des Genderns oder gendersensibler Sprache so aufgefasst wird, als sei das der einzige Bereich, wo Sprache normiert wird. Das stimmt einfach nicht.“
Eine andere Möglichkeit wäre es, gendergerechtes Sprechen einfach über Vorbildwirkung attraktiver zu machen. Denn, so Horst Simon:
„So funktioniert das bei Sprachwandel häufig, dass wir Wörter aufgreifen, verwenden, weil sie irgendeinen Vorteil haben auf der Ebene der Bezeichnungen und auf der Ebene des sozialen Erfolgs. Und manchmal klappt’s und manchmal klappt’s nicht.“

https://www.ardmediathek.de/video/Y3JpZDovL2JyLmRlL3ZpZGVvL2QyZWQ0NTkwLTQ5MWQtNDQ3Zi04MTEyLWQ1YmYzMzc5Mjc4Yg

„Liebe Freunde“ oder doch besser „Liebe Freund:innen“: Wer fühlt sich wann angesprochen? Wir sammeln Argumente:

Auf einen Blick: Gendern – Ja oder nein?
Gendern bedeutet, so zu sprechen und zu schreiben, dass alle Geschlechter gleichberechtigt nebeneinander vorkommen und sichtbar werden.
Die Mehrheit der Deutschen ist gegen das Gendern. Die Debatte um eine gendergerechte Ausdrucksweise wird sehr emotional geführt: Während die einen denken, Gendern würde Frauen und Menschen mit einer divers geschlechtliche Identität sichtbarer machen, fürchten die anderen, dass die deutsche Sprache mutwillig verunstaltet würde.
Über die Nutzung des Gendersternchens gibt es auch innerhalb der Linguistik heftige Debatten.
Die gute Nachricht: Geschlechtersensible Sprech- und Schreibweisen kann man üben, und dabei kommt man oft auch ganz ohne * aus …
Geschlechtersensible Sprache

Definition

Seit einigen Jahren können in Deutschland Menschen, die sich selbst weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen, im Geburtsregister die Option „divers“ eintragen lassen. Das Gendern, also die Verwendung gendergerechter Sprache, soll sprachlich eine Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern schaffen. Alle, die gemeint sind, sollen auch sichtbar gemacht werden. Dazu wird entweder eine neutrale Form verwendet, zum Beispiel „Lehrende“ statt „Lehrer“. Oder eine Sprech- oder Schreibweise, bei der in einem Wort alle Geschlechter mitgemeint sind: Zwischen männlicher und weiblicher Endung wird ein Sternchen, Doppelpunkt oder Unterstrich eingefügt und beim Sprechen eine kurze Pause gemacht: Lehrer:in. Man kann aber auch auf die Nennung beider Geschlechter zurückgreifen: Lehrerinnen und Lehrer.

In der Sprache sichtbar sein
Für Menschen, die sich nicht in die „klassische“ Einteilung Frau oder Mann einfügen, hat die geschlechtersensible Sprache eine große Bedeutung. Für Louie Läuger, Illustrator:in und Autor:in, die sich als nicht-binär positioniert, ist es eine Erleichterung, dass es heute Worte gibt, mit denen Identitäten beschrieben werden können, wie eben zum Beispiel „nicht-binär“. Gendergerechte Sprache sorgt in Louies Augen dafür, dass nicht-binäre Menschen mitgesprochen und damit sichtbar werden. Damit ändert die Sprache auch die Wahrnehmung der Realität.

Louie Läuger
„Wenn jemand gendergerechte Sprache verwendet, signalisiert die Person mir ja sofort: ‚Ich weiß Bescheid, ich versuche, einen sicheren Raum für dich zu gestalten.‘ Und natürlich macht das was mit mir.“
Louie Läuger, Illustrator:in und Autor:in

Alte Debatte, schwierig zu lösen
Die Diskussion über gendergerechte Sprache ist keineswegs neu. Bereits in den 1970er-Jahren gab es fachwissenschaftliche Studien zu bestimmten Sprachformen. Die gesellschaftliche Debatte stammt mindestens aus den 60er-Jahren und kam über die USA nach Deutschland.
Gabriele Diewald, Professorin für Germanistische Linguistik, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Genderlinguistik. Im Interview erklärt sie, warum die Debatte übers Gendern so aufgeregt geführt wird, ob das Gendersternchen dazu geeignet ist, Benennungslücken zu schließen und warum das Sternchen auch innerhalb der Linguistik zu heftigen Debatten führt.

Professorin Gabriele Diewald: Sprache verändert unser Denken

„Gender-Hochdeutsch“ für die „Elite“?
In jüngeren und queer-feministischen Kreisen wird häufiger gegendert. Aber längst nicht alle jungen Menschen finden das Gendern gut. BR-Journalistin Julia Ruhs hat sich im ARD-Mittagsmagazin gegen das Gendern ausgesprochen. Ihrer Meinung nach macht es die Sprache unnötig kompliziert und spaltet letztendlich die Gesellschaft. Außerdem nervt es sie, dass manche glauben, man müsse nur die Sprache ändern und schon wäre die Welt eine bessere. Eigentlich müsse man an der Realität etwas ändern. Auch wenn sie persönlich nichts vom Gendern hält, wäre es für sie etwas Anderes, wenn jemand sie direkt um eine andere Ansprache bitten würde.

Julia Ruhs
„Ich verwende ja auch keinen Spitznamen, den jemand doof findet. Also wenn mir jemand sagt, dass ich den bitte nicht mehr so nennen soll, dann mache ich das nicht.“
Julia Ruhs, Journalistin

 

Zahlen und Fakten

Video (4:06): Welche Länder gendern wie?

 

Wie gendern andere Länder?
In Frankreich akzeptierte die Académie française, die oberste Hüterin der französischen Sprache, im Jahr 2019 neue Wortformen wie feminisierte Berufsbezeichnungen, die es vorher so nicht gab.
Die englische Sprache ist in vielen Fällen ohnehin geschlechtsneutral. Das Pronomen „they“ wird inzwischen häufiger als Ersatz für „he“ oder „she“ benutzt.
Im Spanischen gibt es neue Pluralformen, die neben männlich und weiblich auch das Geschlecht „divers“ berücksichtigen, zum Beispiel „amigues“ anstelle von „amigos“ (Freunde) und „amigas“ (Freundinnen).
Zahlen und Fakten: Quellen (pdf)

Quellen „Welche Länder gendern wie?“ Format: PDF Größe: 125,02 KB

Eine Sprache, die alle verstehen können
Genderinklusive Sprache, die also alle Geschlechtsidentitäten miteinschließt, sollte im Idealfall auch eine „inklusive Sprache“, also möglichst verständlich für alle sein: Menschen mit geistigen Einschränkungen, Menschen, die gerade anfangen, Deutsch zu lernen, Menschen mit Sehbehinderung müssen sie ebenfalls verstehen und anwenden können.
Auf genderleicht.de, ein Projekt des Journalistinnenbund e.V., gibt es viele Tipps, wie man elegant, verständlich und dabei gendersensibel spricht und schreibt. Für eine Sprache, die auch Menschen verstehen, die in „leichter Sprache“ kommunizieren, lautet die Empfehlung von Christine Olderdissen, Projektleiterin von genderleicht.de: so wenig Sternchen wie möglich. Ein Ärgernis für viele ist außerdem die Sprechpause, die man für das Sternchen bzw. den Doppelpunkt macht – vor allem, wenn man darin nicht geübt ist und es sehr übertrieben spricht. Auch dafür hat Christine Olderdissen einen Tipp.

Christine Olderdissen
„Sagen Sie das Wort Bäckerinnung und dann Bäcker:innen. Es ist genau die gleiche Betonung. Und wenn wir das so ein bisschen nach hinten runterfallen lassen, dann ist das so klein und so fein, dass es nicht mehr so auffällt. […] Und trotzdem hören wir in Mini-Sekunden die Botschaft.“
Christine Olderdissen, Genderexpertin

 

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Gendern im Grundgesetz: Das Parlament darf gendern
Annalena Baerbock hat Gesetzestexte mit Gendersternchen angeregt. Der Widerstand dagegen ist politisch, denn in der Verfassung spricht nichts dagegen.
Ein Gastbeitrag von Volker Boehme-Neßler
3. August 2021, 14:54 Uhr 365 Kommentare

Ob Mann oder Frau oder Sternchen in Gesetzestexten stehen, ist verfassungsrechtlich unproblematisch. © Myriam Tirler/ plainpicture
Volker Boehme-Neßler lehrt öffentliches Recht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Gesetze mit Gendersternchen – ist das denkbar? Grünenspitzenkandidatin Annalena Baerbock jedenfalls hat das kürzlich in einem Interview angeregt. Und ganz neu ist die Idee nicht. Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) wollte Gendern im Gesetz schon im September vergangenen Jahres durchsetzen. Was sagt die Verfassung dazu? Nichts, könnte man bei einem flüchtigen Blick meinen. Das Grundgesetz beschäftigt sich doch nicht mit Sprache! Das täuscht allerdings sehr. Je genauer man hinschaut, desto klarere Aussagen zum Gendern von Gesetzen findet man dort.

Gleichheit und Gleichberechtigung sind wichtige Grundwerte der Verfassung. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich, heißt es klar und unmissverständlich schon am Anfang des Grundgesetzes. Und: Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Auch das findet sich so in der Verfassung. Das ist offensichtlich keine Zustandsbeschreibung, sondern ein Ziel. Die Verfassung ist nicht naiv, natürlich sieht sie, dass diese Idealvorstellung noch nicht der Wirklichkeit entspricht. Deshalb verlangt sie vom Staat ausdrücklich, die Gleichberechtigung von Frauen und Männern durch aktive Politik voranzutreiben. Die Politik darf sich nicht auf dem Status quo ausruhen.
Das Beste aus Z+:
Landflucht : Hilfe, die Berliner kommen!
Allerdings gibt es Spielräume. In der Demokratie macht die konkrete Politik der Gesetzgeber, also das Parlament, und nicht die Verfassung. Letztere wird jedoch an einer Stelle bereits selbst ganz konkret. Sie verbietet eine Diskriminierung oder Privilegierung wegen des Geschlechts ausdrücklich. Die europäische Grundrechtecharta erweitert dieses Verbot auf die sexuelle Orientierung.
Die Freiheit des Parlaments ist nicht grenzenlos
Das bedeutet in aller Kürze: Wer das Gendern der Sprache als Tool ansieht, Gleichberechtigung voranzutreiben, kann sich auf die Verfassung und die europäischen Grundrechte berufen. Und so haben sich die Bundesministerien grundsätzlich verpflichtet, die Gleichstellung von Männern und Frauen in Gesetzesentwürfen auch sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Gender-Mainstreaming ist auch in der Normsetzung erlaubt. Ist der Gesetzgeber dazu vielleicht sogar verpflichtet? Das ist eine andere Frage.

Auch das Demokratieprinzip erlaubt dem Parlament, seine Gesetze in geschlechtergerechter Sprache abzufassen. Alle Macht geht vom Volk aus, heißt es in der Verfassung. In der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes ist deshalb das von den Bürgerinnen und Bürgern gewählte Parlament die oberste politische Instanz. Gesetze, über die gestritten wird und die mit Mehrheiten verabschiedet werden, sind das wichtigste Instrument, um die Gesellschaft zu gestalten und das Verhalten der Menschen zu steuern. Was der Bundestag in die Gesetze schreibt, entscheidet er selbst. Die einzige, aber entscheidende Grenze für den Inhalt von Gesetzen ist die Verfassung. Das gilt nicht nur für den Inhalt, sondern auch für die Sprache der Gesetze. Natürlich darf ein Parlament entscheiden, wie es formuliert und welche Sprache es benutzt. Allerdings ist die Freiheit des Parlaments nicht völlig grenzenlos.
Gendern ist unproblematisch, solange es eindeutig ist
Die Grenze zieht dem Parlament das Rechtsstaatsprinzip. Darin ist verankert, dass Gesetze klar, eindeutig und möglichst verständlich sein müssen. Ein schönes Ziel, aber schon ein flüchtiger Blick in die Gesetzbücher zeigt, dass die Wirklichkeit der Gesetzestexte diesem Anspruch oft nicht gerecht wird. Dann ist es die Aufgabe der Gerichte, durch ihre Auslegung der Gesetze und ihre Rechtsprechung für Klarheit zu sorgen.

Dabei geht es um die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger. Sehr deutlich wird das am Beispiel des Strafgesetzbuchs, das ein besonders harter Eingriff in die Freiheit ist. Die Menschen müssen wissen, was genau verboten ist und welche konkrete Strafe auf einen Gesetzesverstoß steht. Dann können sie sich entsprechend verhalten. Ein Gesetzgeber, der unklar und schwammig formuliert, verunsichert die Bürgerinnen und Bürger, macht sie ängstlich und übervorsichtig. Sie wissen ja nicht genau, was verboten ist. Vielleicht verstoßen sie gegen ein Strafgesetz, ohne es zu wollen oder zu wissen. Um nichts zu riskieren, nutzen sie ihre Freiheit im Zweifel dann lieber nicht. Das widerspricht dem freiheitlichen Ansatz des Grundgesetzes völlig.
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Für das Gendern von Gesetzen bedeutet das: Geschlechtergerechte Sprache ist verfassungsrechtlich völlig unproblematisch, solange sie klar und eindeutig ist und dem Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes genügt.
Die Justizministerin und das generische Femininum
Im September vergangenen Jahres startete Justizministerin Lambrecht einen Versuch. Sie legte den Referentenentwurf eines Gesetzes zum Insolvenzrecht vor, der nicht im sonst üblichen generischen Maskulinum formuliert war. Er benutzte durchgehend die weibliche Form. Es ging um Geschäftsleiterinnen, Schuldnerinnen und Inhaberinnen. Also: generisches Femininum statt des generischen Maskulinums. Der politische Widerstand war groß. Die Justizministerin konnte sich damit nicht durchsetzen. Besonders aus dem Innenministerium kam scharfe Kritik. Das Gesetz sei verfassungswidrig, weil es im generischen Femininum formuliert sei. Dadurch seien Männer von der Regelung ausgeschlossen.

Ob das ein stichhaltiges Argument ist, scheint zweifelhaft. Zwar ist das generische Femininum tatsächlich in der Rechtssprache völlig ungebräuchlich. Gesetze, die ungewöhnlich, unklar oder irritierend sind, kommen allerdings in der Praxis immer wieder vor. In diesen Fällen hilft die juristische Methode der Auslegung, den wirklichen Inhalt des Gesetzes zu ermitteln. Das hätte auch hier geholfen. Eine realitätsnahe Auslegung ergibt, dass das Insolvenz- und Sanierungsgesetz für alle Betroffenen gelten soll, unabhängig vom Geschlecht. Welchen Sinn hätte ein Insolvenzgesetz nur für Frauen? Vor diesem Hintergrund wirkt das Argument des Innenministeriums doch vorgeschoben. Nicht alles, was man politisch nicht will, ist auch verfassungswidrig.
Ob Gesetze gegendert werden sollen oder nicht, ist keine Frage des Verfassungsrechts. Es ist eine politische Entscheidung.

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Streit ums Gendern: Nein, die deutsche Sprache diskriminiert Frauen nicht
Bevorzugt unsere Sprache Männer? Studien sollen das angeblich zeigen. Doch Wissenschaftler weisen die These zurück. Eine Analyse.

Gendern mit Sternchen, Doppelpunkten – oder gar nicht? Bei einem Wort wie Bürger würden wir „eher an Männer denken“. Studien hätten das belegt. Wer die Debatte um das Gendern der Sprache verfolgt, hat Aussagen wie diese wahrscheinlich oft gehört. Bislang weniger bekannt ist, dass Sprachwissenschaftler und Germanisten diese These als unhaltbar zurückweisen.

An den besagten Studien kritisieren sie gravierende wissenschaftliche Mängel; die Interpretation der Ergebnisse betrachten sie als falsch und irreführend. Was also geht uns beim Lesen und Hören wirklich durch den Kopf?

Um die Aussagekraft und Relevanz der Studien beurteilen zu können, ist es sinnvoll, sich zunächst eine empirische Tatsache vor Augen zu führen. Wörter wie Bürger, Lehrer, Freunde oder Demonstranten werden von den meisten Menschen als Bezeichnungen für Frauen und Männer benutzt und korrekt geschlechtsneutral verstanden. Gäbe es Verständnisprobleme (wie manche Genderbefürworter behaupten), wäre das längst aufgefallen: Wir müssten uns dauernd erklären, ständig nachfragen.

Lässt das generische Maskulinum an Männer denken?
Unter den meisten Sprachwissenschaftlern ist diese Tatsache auch anerkannt: Das generische Maskulinum werde von den Menschen ganz selbstverständlich verwendet und verstanden, sagt die Linguistin Ewa Trutkowski in der Berliner Zeitung. Dieselbe Position vertreten beispielsweise Heide Wegener und Peter Eisenberg. Und der Linguist Nikolaus Lohse schrieb jüngst: Die Unterscheidung zwischen der neutralen generischen und der spezifisch männlichen Lesart eines Wortes wie Lehrer mache im aktiven Sprachgebrauch „überhaupt keine Probleme“.
Dass dem so ist, wenigsten im alltäglichen Sprachgebrauch, bestätigt eine Studie von 2012 (De Backer, De Cuypere): In gängigen Zeitungssätzen wurden Pluralformen wie Schüler, Mieter, Leser etc. von den Probanden zu 99 Prozent geschlechtsneutral interpretiert. Berufsbezeichnungen wie Ärzte, Apotheker, Politiker usw. zu 94 Prozent. Der empirische Sachverhalt ist eindeutig.

Kommen wir zur Behauptung, wir würden bei den generischen Maskulina „eher an Männer denken“. Was damit gemeint ist, wird in den besagten Studien oft nicht eindeutig definiert. Man kann aber sagen, es geht im Grunde (fast) immer um Gedanken oder bestimmte Vorstellungen, die Wörter auslösen können: die berühmten „Bilder im Kopf“. Dass eine Fokussierung auf solche psychologischen Phänomene ziemlich fragwürdig ist, liegt eigentlich auf der Hand.
Denn zunächst einmal widerspricht es der Erfahrung, dass wir beim Hören oder Lesen von Texten bzw. Sätzen mit Personenbezeichnungen stets „Bilder im Kopf“ hätten, also Vorstellungen von den bezeichneten Personen. Es existieren auch keine wissenschaftlichen Belege für solche Effekte. Ob Texte Bilder im Kopf entstehen lassen, hängt, wie Profi-Schreiber wissen, unter anderem von der sprachlichen Gestaltung ab: Lebhafte Schilderungen und anschauliche Beschreibungen rufen leichter bildhafte Vorstellungen hervor als nüchtern berichtete Fakten und Sachinformationen.

 

Ferner gibt es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass die Bilder im Kopf, wenn sie denn entstehen, stets konkret und ausdifferenziert sind. Wieder zeigt die Erfahrung etwas anderes: Unsere inneren Bilder sind oftmals ziemlich vage.

Was wir mit einem Wort verbinden, ist subjektiv

Oder wie konkret sind Ihre Vorstellungen der bezeichneten Personen bei folgenden Sätzen? „Berlin hat 3,6 Millionen Einwohner.“ „Die Steuerzahler werden wieder kräftig zur Kasse gebeten.“ „Bundesweit starben vergangenes Jahr 376 Fußgänger bei Verkehrsunfällen.“
Die Bilder im Kopf können aber nicht nur unspezifisch sein, sondern auch ziemlich divers. Lesen wir einen Satz wie „Die Zuschauer klatschten“, so denken die meisten von uns wohl eher an eine buntgemischte Menge. Das gilt mit Sicherheit auch bei: „Die Demonstranten hatten sich vor dem Reichstag versammelt.“
Gegen die Mehr-Männer-These spricht ein weiterer Punkt. „Wortassoziationen sind hochgradig subjektiv. Während der eine beim Wort Musiker an einen gemischten Chor denkt, fällt dem anderen ein männlicher Gitarrist ein“, sagt Ewa Trutkowski. Einen Eindruck davon, wie verschieden innere Bilder sein können, geben Debattenbeiträge: Mit dem Wort Ärzte assoziiere er „weiße Kittel“, schreibt über das Gendern Ingo Meyer, Redakteur der Berliner Zeitung. Beim Plural Lehrer denken sie „vor allem an Frauen“, berichten User auf Twitter. „Lehrer“ löse bei ihr gar keine spezifischen Vorstellungen von Personen aus, so eine Nutzerin des Meinungsforums der Welt. Sie verstehe das Wort als Berufsbezeichnung. A propos Berufsbezeichnung: Wie wäre es mit einer Zeitungsnotiz: „ Unbekannte Einbrecher“ haben … Oder würden feministische Genderinnen auch hierbei auf – etwa „Einbrecher*innen bestehen. (Ahem …).
Fassen wir zusammen: Die Behauptung, die Personenbezeichnungen würden primär männliche Vorstellungen hervorrufen, ist offenbar so nicht haltbar. Die Bilder im Kopf können (sofern sie überhaupt ausgelöst werden) neutral, unbestimmt oder „buntgemischt“ sein. Zudem unterscheiden sie sich von Mensch zu Mensch bisweilen erheblich.
Die Vernachlässigung dieser individuellen Unterschiede ist nach Ansicht des Sprachwissenschaftlers Martin Neef eines der Hauptprobleme der Studien. Ein vielleicht noch gewichtigeres Manko: Die Tests vernachlässigen maßgebliche Faktoren bei der Entstehung von Assoziationen. Woran wir bei einem Wort denken, wie wir es verstehen, hängt, wie Sprachwissenschaftler betonen, von einer Vielzahl sprachlicher und außersprachlicher Einflussfaktoren ab.
Kontext macht klar, wie ein Wort gemeint ist
Kontext, Wortart, Numerus (Plural oder Singular), Syntax, relative Häufigkeit von Maskulina und Wortformen auf „-in“ im allgemeinen Sprachgebrauch sowie das Weltwissen sind laut Forschung nur einige der Faktoren, die mitbestimmen, was uns bei Wörtern durch den Kopf geht, wie der Linguist Franz Rainer dargelegt hat.

 

Besonders gewichtig ist nach Ansicht von Wissenschaftlern wie Rainer und Neef der Kontext, in dem ein Wort eingebettet ist, ein Satz steht. Ist in einem Bericht über ein Fußballspiel von den Zuschauern die Rede, so entstehen andere Vorstellungen vom Publikum als bei einem Artikel, der die Zuschauer in einem Zirkuszelt erwähnt. Und heißt es in der Zeitung, „Die Ukrainer sehnen sich nach Frieden“, so denkt (im Kontext des gegenwärtigen Krieges) mit Sicherheit niemand nur an Männer.
Doch in den Studien wird dieser Kontextfaktor übergangen oder sogar gezielt ausgeblendet: Die Forscher testen Wörter oder Sätze entweder kontextlos, oder sie untersuchen Wort-Assoziationen nur in einem einzigen Kontext, was aber Rückschlüsse auf andere Kontexte nicht zulässt, wie die genannten Beispiele hoffentlich verdeutlichen.

Philosoph Precht bei „Markus Lanz“: Das große Nörgeln
In der Regel versammelt Markus Lanz Menschen mit geopolitischer Kompetenz. Diesmal schwadronierten zwei Männer in weit geöffneten braunen Hemden über dies und jenes.

Rainer, Neef sowie der Germanist Fabian Payr („Von Menschen und Mensch*innen“, Springer-Verlag) sehen darin ein besonders gravierendes Problem der Tests. Durch den Kontext werde im normalen Sprachgebrauch in aller Regel klar, ob die geschlechtsneutrale oder die männliche Lesart gemeint sei, sagt Rainer. Falls das einmal unklar sei, würden die Sprecher des Deutschen „spontan eine Doppelform“ nutzen.
Ein weiterer Faktor bei Wortassoziationen können laut Forschung Stereotype oder Rollenbilder sein. Doch auch ihr Einfluss wird in den meisten Experimenten nicht berücksichtigt, bemängelt etwa der Sprachphilosoph Philipp Hübl. Er zweifelt die Aussagekraft der Studien daher stark an.

Doch die Kritik beschränkt sich längst nicht auf die Vernachlässigung solcher Einflussfaktoren. Linguisten und Germanisten haben in den Studien eine bemerkenswerte Menge weiterer schwerwiegender wissenschaftlicher Mängel ausgemacht. Eine der gewichtigsten Unzulänglichkeiten kritisiert etwa der Linguist Martin Neef: Durch die Fragestellung werde „in vielen Tests die männliche Lesart aktiviert“. Mit anderen Worten: Die Tests führen in die Irre.
Zu diesem Ergebnis kam auch die Sprachwissenschaftlerin Gisela Zifonun, als sie sich eine besonders viel zitierte Studie ansah (Gygax et al., 2008). In einem weiteren Experiment (Heise, 2000) fand die Grammatik-Expertin nur einen einzigen generischen Gebrauch des Maskulinums in allen acht Testsätzen. Hinzu kommt, dass die Studien laut Zifonun Wörter (wie so oft) nur in einem spezifischen Kontext untersuchen. Zifonuns Resümee: „Tests dieser Art sagen nichts aus über eine generell mit dem generischen Maskulinum assoziierte mentale Sexus-Zuweisung (…)“ Heißt: Die Aussagekraft solcher Experimente ist im Grunde gleich null.

Wer ist Ihr Lieblingsmusiker? Die Frage ist irreführend
Dass das generische Maskulinum in den Studien verwendet wird, wo es unüblich ist, bemängelt in seinem Buch zum Thema auch der Germanist Tomas Kubelik („Genug gegendert!“, Projekte Verlag 2013). Erschwerend kommt hinzu, dass bisweilen nur der Singular („ein Lehrer“) untersucht wurde. Aber das bedarf vielleicht einer kurzen Erläuterung. Wenn wir im normalen Sprachgebrauch über eine einzelne konkrete Person, ein bestimmtes Individuum sprechen, sagen wir beispielsweise mein Nachbar oder meine Nachbarin, der Schüler oder die Schülerin usw. Oder andersherum: Niemand, der nicht täuschen möchte, sagt, er besuche seinen Nachbarn, wenn es sich um eine Frau handelt.
Wird über konkrete oder imaginierte Einzel-Personen geschrieben, ist es dasselbe. Die Nachrichtenagenturen melden: „Die Fußgängerin wurde schwer verletzt“ oder „Der Radfahrer kam in ein Krankenhaus“. Und im Roman heißt es vielleicht: „Ein Zuschauer sprang von seinem Sessel auf und stürzte aus dem Saal“. Tests der Art „Wer ist Ihr Lieblingsmusiker?“ (Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001) oder „Male einen Arzt“ (Durau, 2021) sind daher irreführend. Denn auch sie legen eine männliche Lesart nahe.

Keine Lust mehr auf hirnlose Kritik:

Die Autorin Sophie Passmann über toxische Feministinnen, Meme-Kultur und den Irrtum, dass Sprache Wirklichkeit schafft.

 

Auchwenn man (n) den Plural verwendet, sind solche Studien unbrauchbar. In einem Experiment sollten die Probanden unter anderem drei berühmte Politiker, Sportler und Sänger nennen (Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001). Es dürfte einleuchten, dass solche Tests weder etwas über etwaige Assoziationen bei der Lektüre einer Zeitung noch im Gespräch aussagen. Und rein gar nichts über das Verstehen der Wörter in Zeitungen oder im Gespräch.
Denn die Einbettung in einen Kontext (der hier fehlt) macht, wie wir wissen, im normalen Sprachgebrauch klar, was mit dem Wort gemeint ist. Geht es um Politiker ganz allgemein („Politiker sind auch nur Menschen“), um eine gemischtgeschlechtliche Gruppe von Politikern („598 Politiker sitzen im Bundestag“) oder um Politiker, deren Geschlecht unbekannt ist („Drei namentlich nicht genannte Politiker aus Union und SPD …“)? Oder geht es spezifisch um männliche Politiker? („Die beiden Politiker haben sich immer wieder die Treue bekundet“ – in einem Artikel über Gerhard Schröder und Wladimir Putin.) Doch selbst in nichtssagenden Experimenten solcher Art wurden nicht nur Männer, sondern lediglich mehr Männer genannt.
Die Mängelliste ist aber noch wesentlich länger. Der Germanist Fabian Payr fand einen besonders großen Schwachpunkt in dem viel zitierten Test, den Gisela Zifonun kritisiert hat (Gygax et al., 2008).
In dieser Studie präsentierten Forscher den Probanden eine Reihe von Satzpaaren. Per Tastendruck sollten die Testpersonen entscheiden, ob der zweite Satz eine sinnvolle Fortsetzung des ersten darstelle. Das Problem laut Payr: Ein (Fortsetzungs-)Satz wie „Wegen der schönen Wetterprognose trugen mehrere der Frauen keine Jacke“ kann so interpretiert werden, dass hier von einer ausschließlich weiblich besetzten Gruppe die Rede ist. „Dann wundern Sie sich natürlich, warum vorher von ‚Sozialarbeitern‘ die Rede war und nicht gleich von ‚Sozialarbeiterinnen‘“, so der Germanist.
Die Studien sind meist nicht einmal repräsentativ
Wenn also die Satzfortsetzungen als „nicht sinnvoll“ oder nicht gleich als sinnvoll eingestuft werden, hat das schlicht mit dem Design der Studie zu tun, und nichts mit dem generischen Maskulinum. Dass Payr richtig liegt, zeigen Befunde aus einer Neuauflage der Studie (Körner et al., 2022). Dort bewerteten die Probanden fast ein Fünftel (18 Prozent) der Fortsetzungen als „nicht sinnvoll“, und zwar sogar dann, wenn nach einem generischen Maskulinum im zweiten Satz von „Männern“ die Rede war.
Dieses und noch ein weiteres relevantes Ergebnis der Studie thematisieren Studienautoren allerdings nicht: Die Probanden verstanden selbst in diesem irreleitenden Experiment generische Maskulina wie etwa Zuschauer, Künstler, Apotheker oder Kinderärzte in 71 Prozent der Fälle als geschlechtsneutral. So oft nämlich ergab eine weibliche Fortsetzung mit zum Beispiel „die Frauen“ für sie Sinn.

Weg aus Berlin, ab ins beschauliche Wien: Keine Misthaufen, keine teure BVG mehr
Unsere Autorin konnte es in Berlin nicht mehr aushalten. Sie zog nach Wien und schrieb bei uns über die Gründe. Nach einem Jahr zieht sie nun Bilanz.

Es ließen sich weitere Punkte nennen, die an den psycholinguistischen Tests kritisiert wurden. Der Germanist Kubelik bemängelt in seinem Buch an verschiedenen Studien, dass das biologische Geschlecht überhaupt erst durch Nachfragen ins Bewusstsein der Probanden gehoben werde. Ein weiterer großer Schwachpunkt der Labor-Experimente: An fast allen Tests nahmen nur Studenten teil, bisweilen gerade mal 20 Probanden. Oft sind nicht einmal die Geschlechter korrekt repräsentiert: Teilweise lag der Frauenanteil unter den Probanden bei über 70 Prozent. Und in einem Fall, einem Experiment von 2012, waren es sogar 100 Prozent: 36 Studentinnen der Universität Bern.
Kurz: Die Ergebnisse aus den ohnehin fragwürdigen Studien, die mit dem üblichen Sprachgebrauch oft nichts zu tun haben, sind noch nicht einmal auf die Gesamtbevölkerung übertragbar. Die Linguistin Gisela Klann-Delius hat das in „Sprache und Geschlecht“ (Metzler-Verlag) problematisiert. Rainer und Neef kritisieren die verwendeten Stichproben ausdrücklich.
Falsch zusammengefasst, fragwürdig interpretiert
Bei dieser Fülle an wissenschaftlichen Mängeln kann man schon mit Kritikern wie Kubelik oder dem Soziologen Stefan Beher zu dem Eindruck gelangen, dass hier nicht unvoreingenommen geforscht wurde. Kubelik hält den Wissenschaftlern vor, sie würden bestimmte Beweise erbringen wollen, statt objektiv und ergebnisoffen zu forschen. Besonders eindrücklich zeigt der Germanist das an Fällen, in denen die Forschungsergebnisse von den Studienautoren stark verzerrt wiedergegeben oder gar falsch zusammengefasst werden. Fragwürdig interpretiert werden sie fast immer.
Ergebnisse, die nicht ins Bild vom frauenbenachteiligenden Maskulinum passen, ignorieren Studienautoren und Genderbefürworter immer wieder. Der erwähnte Test mit den Satzfortsetzungen ist nur ein Beispiel dafür. Franz Rainer hat noch etwas anderes festgestellt, das Anhänger der Gendersprache so gut wie nie erwähnen: Die Tendenz zur männlichen Lesart der untersuchten Wörter („male bias“) ist selbst in den Studien oft „überraschend gering“. Gebe man noch den Kontext dazu, meint Rainer, bleibe „von dem ‚bias‘ meistens nicht mehr allzu viel übrig“.
Entsprechend sind in den Studien auch die Effekte des Genderns nur äußert bescheiden, teils nicht einmal messbar. Doch auch das sparen Genderbefürworter gerne aus, wenn sie sich auf diese „Studien“ berufen. Ein paar Beispiele:
In einem Experiment mit Nachrichtentexten (Blake, Klimmt, 2008) sollten die Probanden den Frauenanteil bei einer Demonstration schätzen. War von „Demonstrantinnen und Demonstranten“ die Rede, lag der angenommene Frauenanteil um nur rund drei Prozent höher als in der Version mit generischem Maskulinum. Bei einem weiteren Text („Ärztinnen und Ärzte“ vs. „Ärzte“) hatte das Gendern „keinen signifikanten Einfluss“. Die Befunde konnten nicht einmal „gegen den Zufall abgesichert“ werden.

 

Bei einem Test mit den bekannten Politikern, Sportlern, Sängern usw. (Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001) waren die Gendereffekte genauso dürftig. Die Probanden sollten insgesamt zwölf Prominente nennen. War die Aufgabe mit generischem Maskulinum formuliert, nannten sie im Mittel 2,4 Frauen. Beim Gendern mit Doppelnennung lagen die Werte gerade mal 0,3 Punkte höher, bei 2,7 Frauen.
In einer weiteren Studie führt die „geschlechtergerechte Sprache“ nur dann zu Nennung von mehr Frauen, wenn Frauen in einer Kategorie (wie einer politischen Partei) in „angemessener oder relevanter Häufigkeit vertreten waren“ (ebenfalls in Stahlberg, Sczesny, 2000, 2001).
Einmal absolut winzig und einmal „statistisch nicht signifikant“ (heißt: die Werte lagen unterhalb der Zufallsschwelle) waren die Effekte von Doppelformen („Ingenieurin oder Ingenieur“ usw.) in einem Test mit Schulkindern (Vervecken, Hannover, 2015): Auf einer Skala von 1 bis 5 lagen die Werte gerade mal um 0,07 bis 0,26 höher als bei Verwendung von generischem Maskulinum.
Noch bescheidenere Resultate maßen Forscher in einer Studie mit Fernsehmoderationen (Jöckel et al., 2021). Getestet wurden unter anderem Beidnennungen und „neutrale Formen“, wie „die Polizei“. Das Gendern hatte (abgesehen von statistisch irrelevanten Abweichungen in Höhe von 0,12, 0,78 bzw. 1,7 Punkten auf einer Skala von 1 bis 21) bei den erwachsenen Versuchspersonen keinen Effekt. Heißt: Es spielte für die Getesteten keine Rolle, ob der Moderator von Polizisten, Polizistinnen und Polizisten oder von der Polizei sprach.
Wörter mit Sprechpausen werden für weibliche Form gehalten
Einzig die Gender-Sprechpause vor dem „innen“ führte zu einer etwas häufigeren Nennung von Frauen. Der Befund mag auf den ersten Blick überraschen, da diese Genderform von vielen Menschen besonders stark abgelehnt wird. Der wahrscheinlichste Grund für den – nicht sehr großen – Effekt findet sich in Rohdaten der Studie, die einer der Forscher freundlicherweise zur Verfügung stellte: Offenbar hatte eine erhebliche Zahl an Probanden die Wörter mit Sprechpause für eine weibliche Form gehalten. Statt „Polizist:innen“ verstanden sie offenbar „Polizistinnen“. Laut den Daten interpretierten mindestens 17 Prozent „Polizist:innen“ als rein weibliche Form, bei „Schüler:innen“ waren es zehn Prozent, bei „Pfleger:innen“ sieben Prozent.
Weitere Fälle winziger oder gar nicht messbarer Gendereffekte in Studien nennt der Germanist Tomas Kubelik in seinem Buch. Wie er zeigt, führte in manchen Tests das Gendern teils sogar zu einem mentalen Männerüberschuss (Kusterle, 2011; Klein, 2004).
Manch einer mag nun vielleicht einwenden, das Gendern hätte laut den Studien also wenigsten in einzelnen Fällen einen Effekt, wenn auch einen sehr kleinen. Doch das übersieht, welche Mängel die Studien schon bei der Fragestellung aufweisen. Etwa, indem sie die männliche Interpretation der Wörter von vornherein nahelegen. Über das generische Maskulinum im normalen Sprachgebrauch sagen solche Tests, wie schon dargelegt, ohnehin nichts aus.

 

Das ist schon fast alles, was man über die Aussagekraft und Relevanz der sogenannten Assoziationstests und ihre Deutung durch Genderbefürworter wissen muss. Außer vielleicht noch dies: Es handelt sich bei der gesamten Forschung zum Thema um lediglich eine Handvoll Untersuchungen, die wieder und wieder zitiert werden. Getestet wurden oft nur fünf, zehn oder zwölf Wörter; im Fall der TV-Moderationen waren es sogar nur drei Wörter.
Damit sollte eigentlich klar sein, dass eine Hauptthese zur Gendersprache nichts weiter ist als eine Behauptung. Es gibt schlichtweg keine wissenschaftlichen Belege, dass „wir beim generischen Maskulinum eher an Männer denken“ (und auch nicht, dass sich „die meisten beim generischen Maskulinum vor allem Männer vorstellen“). Nein, es gibt bloß eine sehr überschaubare Anzahl von Tests, die fast alle mit Studenten durchgeführt wurden und ein paar Maskulina in einem oder wenigen Kontexten untersuchten.
Eine letzte Studie sei hier noch erwähnt. Der Test von 2015 (Vervecken, Hannover) soll belegt haben, dass Gendern zu mehr Gerechtigkeit unter den Geschlechtern beitragen könne. In der Studie hätten sich Kinder „viel eher“ zugetraut, einen typischen Männerberuf wie Ingenieur zu ergreifen, wenn sie Doppelnennungen („Ingenieurinnen und Ingenieure“) statt des generischen Maskulinums hörten. So steht es unter anderem in einer Pressemitteilung der Freien Universität Berlin.
Bei der Berufswahl spielen ganz andere Faktoren eine Rolle
Diese Darstellung ist bemerkenswert. Denn in Wahrheit waren die Effekte der Benennungen, wie oben dargelegt, mal absolut winzig, mal statistisch gesehen nicht vorhanden. Zur Erinnerung: Die Werte lagen auf einer Skala von 1 bis 5 gerade mal um 0,07 bis 0,26 höher als beim generischen Maskulinum.
Das wurde getestet: In einem ersten Experiment sollten die Kinder das Einkommen in verschiedenen Berufen schätzen (1 = sehr wenig, 5 = sehr viel). Geringere Wert interpretierten die Studienautoren dann als eine höhere „Zugänglichkeit“ zum Beruf. In einem zweiten Experiment gaben die Kinder auf einer Skala von 1 bis 5 an, wie zuversichtlich sie sind, als Erwachsene eine Qualifikationsprüfung für einen Beruf wie z.B. Ingenieur oder Maurer zu bestehen.
Bemerkenswert ist neben den winzigen – oder gar nicht vorhandenen – Gendereffekten die Wahl einiger Berufsbezeichnungen. Begriffe wie „Feuerwehrmänner“ oder „Geschäftsmänner“ sind stark sexusmarkiert und keine generischen Maskulina. Das ist nicht nur wissenschaftlich unseriös bei einer Studie, die vorgibt, das generische Maskulinum untersucht zu haben. Wenn man der Logik des Tests folgt, ist es auch psychologisch relevant. Denn dass kleine Mädchen Probleme haben dürften, sich als „Feuerwehrmänner“ oder „Geschäftsmänner“ zu sehen, ist zu erwarten. Berücksichtigt man dies, fallen die gemessenen winzigen Effekte natürlich noch geringer aus.

Bluthochdruck wegen Gender-Sprache? TV-Zuschauer reicht Beschwerde ein
Ein Österreicher legte bei der Medienaufsicht Beschwerde gegen den Sender ORF ein. Weil in einer Sendung von „Kund*innen“ die Rede war, habe er Bluthochdruck bekommen.

Genderbefürworter zitieren die Studie üblicherweise so, als sei mit ihr etwas bewiesen. Dabei übersehen sie aber nicht nur die verschwindend geringen Effekte in einem einzelnen, nicht wiederholten Laborexperiment mit zweifelhaften Fragestellungen und zum Teil inadäquaten Begriffen. Sie übersehen vor allem die eigentlich relevanten Größen. Welche Faktoren bei der Berufswahl eine Rolle spielen, ist aus der Sozialforschung bekannt: Sozialer Hintergrund, Schulabschluss, Arbeitsplatzsicherheit, Verdienstaussichten, Talente, Neigungen und Interessen, der Rat der Eltern und in bestimmten Fällen auch der Beruf eines Elternteils sind einige davon. Dass ein im Laborexperiment gemessener spontaner Spracheffekt auf ein angebliches „Sich-Zutrauen“ hier noch einen nennenswerten Faktor darstellt, erscheint  äußert unwahrscheinlich.
Wer diese Studie zitiert, geht üblicherweise darüber hinweg, dass die Studienautoren selbst genau diese und weitere Einschränkungen machen: Faktoren wie sozioökonomischer Hintergrund, Interesse und Intelligenz dürften nicht außer Acht gelassen werden, wenn man versuche, Berufswahlentscheidungen zu verstehen, schreiben sie. Und auch berufliche Interessen dürfe man nicht vernachlässigen. Nötig seien Wiederholungen des Tests, Langzeitstudien (sogenannte Längsschnittstudien) und so weiter.

Die Mehrheit der jungen Anwälte in Deutschland sind Frauen

Dass sich Frauen nicht davon abhalten lassen, einen Berufsweg einzuschlagen, weil generische Maskulina im allgemeinen Sprachgebrauch und in den Medien gängig sind, zeigen indes die wirklich belastbaren Daten. Von der Grundschule bis zum Gymnasium dominieren Frauen in allen Schulformen mit insgesamt 73,4 Prozent den Lehrerberuf. Etwa 70 Prozent der Medizinstudenten sind weiblich, 72 Prozent der Apotheker in Deutschland sind Frauen und ebenso die Mehrheit der junge Anwälte bei ihrer Erstzulassung.
Wie häufig generische Maskulina übrigens generell in den Medien verwendet werden, zeigt eine Auswertung des Rechtschreibrates von 2021: Auf mehr als zwei Millionen generische Maskulina kamen 15.000 Genderformen. Genderquote: 0,7 Prozent. Die immer wieder zitierten Studien liefern keinen Grund, daran etwas zu ändern.

Martin-Luther-Universität Streit ums Gendern: Professor in Halle fordert „Hochdeutsch“ ein
An der Universität Halle-Wittenberg gibt es Streit über gendergerechte Sprache. Der Politikprofessor Jürgen Plöhn am Institut für Politikwissenschaft hat in seinen Veranstaltungen die Verwendung von nach seinen Worten „ideologisch geprägter“ Gendersprache untersagt. In Arbeiten streicht er sie als sprachliche Fehler an. Gegen seine Bewertungspraxis regt sich Protest.

Die Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg hat sich zu einem geschlechtergerechten Sprachgebrauch verpflichtet. Ein Professor weicht davon ab.
Einige Studierende haben Beschwerde gegen ihn eingelegt – und ihm einen Rüffel der Universität eingebracht.
Der Professor selbst sagt, er wolle keine Ideologien in seine Lehrveranstaltungen einfließen lassen.

Das Leitbild der Universität Halle-Wittenberg in Sachen „Gendern“ ist deutlich. Die Uni hat sich zu einem geschlechtergerechten Sprachgebrauch verpflichtet und erklärt, dass die Verwendung einer solchen Sprache in der Lehre selbstverständlich werden soll.
Professor weicht vom Uni-Leitbild ab
Das war sie aber offensichtlich nicht, jedenfalls nicht bei Jürgen Plöhn, der seit vielen Jahren als außerplanmäßiger Professor lehrt. Er verlangte von den Studierenden eine deutsche Hochsprache: „Ich möchte nichts anderes als das, was alle Studenten, die ich irgendwo gehabt habe von 1985 bis zum Wintersemester letzten Jahres: Diese Sprache verwenden. Und möglichst korrekt.“ Fehler streiche er an, das sei auch Teil der Bewertung und das gelte auch für Gendersprache.
Und wenn da Fehler drinnen sind, dann streiche ich die an und das ist auch Teil der Bewertung. Und das gilt auch für Gendersprache.

Jürgen Plöhn Professor für Politikwissenschaften
Plöhn fühlt sich persönlich diskriminiert
Und die Gendersprache hält Plöhn für diskriminierend Männern gegenüber. Wer die männlichen Bevölkerungsteile nicht mehr für erwähnenswert hält, der drücke seine bewusste Verachtung aus, schreibt Plöhn in der Beschreibung zu einem seiner Seminare. Und wenn er der einzige Leser der so verfassten Seminararbeiten sei, dann sei das ein gezielter Affront gegen ihn.
Studierende reichen Beschwerde ein
Einige Studierende haben dagegen die Bewertungspraxis von Plöhn als Affront gegen sich gewertet – und Beschwerde bei der Stabsstelle Vielfalt und Chancengleichheit eingereicht. Und die Reaktion der Hochschule folgte prompt. Auf Nachfrage von MDR AKTUELL erklärt die Uni:
Herr Plöhn wurde aufgefordert, die einschlägigen Einträge in den elektronischen Informationen zu seinen Lehrveranstaltungen zu entfernen und den Studierenden mitzuteilen, dass sich die Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache nicht nachteilig auf die Leistungsbewertung auswirken werde.
Universität Halle-Wittenberg

Zudem habe man deutlich gemacht, dass eine Diskriminierung von Studierenden nicht toleriert werden könne. Bewirkt habe das nichts. Und auch auf die wiederholte Aufforderung habe der Professor nicht reagiert. Er habe sich zu keinem Zeitpunkt um ein klärendes Gespräch bemüht, erklärt die Uni weiter. Man habe ihn aber nie aufgefordert, selbst eine gendersensible Sprache zu verwenden.
Plöhn verwehrt sich gegen „Genderideologie“
Für Plöhn geht das aber zu weit. So weit, dass er diese Aufforderung in die Tradition totalitärer Regime rückt. Er sei 1992 an die Uni Halle-Wittenberg gekommen, sagt Plöhn, „weil es damals darum ging, die Prägung der Universität durch zwei Diktaturen zu überwinden und nun wissenschaftsorientiert neu aufzubauen. Gegen eine Ideologie, die wissenschaftsfremd ist.“ Diese Linie habe er verfolgt, seit er nach Halle gekommen sei. Und auch eine dritte Ideologie werde er nicht in seine Lehrveranstaltungen eindringen lassen.

Uni: Prüfungen wären rechtlich anfechtbar

Und das wird auch nicht passieren, jedenfalls nicht in diesem Semester, in dem Plöhn keine Seminare anbietet. Und dabei bleibt es wohl auch. Als Reaktion auf seine Bewertungspraxis hat die Uni beschlossen, Plöhns Lehrveranstaltungen keinen Wahlpflichtmodulen mehr zuzurechnen – so können Studierende dort keine Prüfungsleistungen mehr erbringen. Aus Sicht der Uni wären sie rechtlich anfechtbar. In den Prüfungsordnungen werde die gendersensible Sprachform nämlich nicht verboten. Darauf basierende negative Bewertungen beruhten also auf sachfremden Erwägungen, die den Spielraum des Prüfers überschreiten.

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MDRfragt – Das Meinungsbarometer für Mitteldeutschland MDRfragt: Deutliche Mehrheit lehnt Gendersprache ab

von MDRfragt-Redaktionsteam
Stand: 22. Juli 2021, 05:00 Uhr
Die Debatte um die gendergerechte Sprache hält der größte Teil der Befragungsteilnehmerinnen und -teilnehmer für unwichtig und lehnt das Gendern in sämtlichen Kontexten ab, beispielsweise in den Medien oder der Werbung. Zwar stehen Frauen und die jüngere Generation der Gendersprache etwas offener gegenüber, aber auch bei diesen Gruppen überwiegt die Ablehnung. Das zeigt eine aktuelle Befragung von MDRfragt, an der sich fast 26.000 Menschen aus Mitteldeutschland beteiligt haben.

Auf dieser Seite:
Mehr als die Hälfte bevorzugt beim Lesen und Hören die männliche Mehrzahlform
Mehrheit lehnt Gendern in sämtlichen Kontexten ab

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Wie wichtig, wie förderlich, wie erstrebenswert ist eine Sprache, die alle Geschlechter sichtbar und hörbar macht? Über die „Gendersprache“ wird seit Längerem diskutiert und mitunter auch gestritten. Für die MDRfragt-Mitglieder, die sich an unserer aktuellen Befragung beteiligt haben, ist die Debatte vor allem eins: unwichtig. 86 Prozent haben dies angegeben. Nur 14 Prozent sind der Meinung, dass das Anliegen, alle Geschlechter in der deutschen Sprache hör- und sichtbar zu machen, wichtig ist.

Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Viele MDRfragt-Mitglieder haben uns in ihren Kommentaren geschrieben, dass sie der Ansicht sind, es gebe wichtigere Themen, die angegangen werden müssten, als das Gendern:
Sicher haben wir in unserer Gesellschaft noch einige „Baustellen“ was tatsächliche Akzeptanz, Toleranz und Gleichberechtigung betrifft. Ich halte es für falsch, dies mit einem „aufgezwungenem/verordnetem Sprech“ und einer unmöglichen Schreibweise quasi in die Köpfe hämmern zu wollen. Mir persönlich wäre es lieber, wenn wir die Werte tatsächlich (vor)leben und an Haltungen arbeiten.
50-jährige Teilnehmerin aus dem Landkreis Saalfeld-Rudolstadt
Ich bin der Meinung, dass wir als Gesellschaft einfach wichtigere Probleme haben (Klimawandel, Corona, Integration von Flüchtlingen u.Ä.). Ich habe in meinem Umfeld bisher niemanden getroffen, der mir plausibel darlegen konnte, welche Vorteile eine (aus meiner Sicht umständliche) explizite Unterscheidung von männlichen und weiblichen Bezeichnungen bringen sollte.
31-jähriger Teilnehmer aus Leipzig

 

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MDRfragt Große Mehrheit hält geschlechtersensible Sprache für unwichtig
Und: Viele machen sich Sorgen um die deutsche Sprache und die Verständlichkeit:
Textinhalte werden dadurch zerrissen, es wird schwieriger einen Text inhaltlich zu erfassen. Und fast jeder liest sowieso drüber weg bis zu der Stelle, wo der Text inhaltlich weiter geht. Also völlig überflüssig!
70-jährige Teilnehmerin aus Görlitz
Gendern führt auch zu Diskriminierung: Nämlich dann, wenn Menschen der Zugang zu (Schrift-)sprache erschwert wird, wo eigentlich flächendeckend Leichte Sprache gefordert wäre!
35-jährige Teilnehmerin aus dem Landkreis Saalfeld-Rudolstadt
Unsere Sprache hat sich über Jahrhunderte entwickelt und ganz bestimmt nicht mit dem Ziel, eines der Geschlechter zu unterdrücken.
71-jähriger Teilnehmer aus dem Landkreis Leipzig
„Überflüssig“, „Schwachsinn“, „nervig“ – negative Zuschreibungen überwiegen
Wir wollten von den MDRfragt-Teilnehmerinnen und -Teilnehmern wissen, welches Wort sie mit der Genderdebatte verbinden. Die 20 am häufigsten genannten Wörter sind hier visualisiert. Es zeigt sich: Die negativen Zuschreibungen überwiegen. Allein das Wort „überflüssig“ wurde von rund einem Fünftel der MDRfragt-Mitglieder, die sich an der Befragung beteiligt haben, verwendet.

Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
Einige Befürworter der Verwendung von gendergerechter Sprache haben uns in ihren Kommentaren weitere Argumente genannt:
Ich kann verstehen, dass das Gendern Leuten auf die Nerven geht, dennoch ist Sprache wichtig, und solange wir in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft leben, sollten wir darauf achten, dass sich alle Menschen angesprochen fühlen können.
30-jährige Teilnehmerin aus Görlitz
Ich denke wirklich, dass korrektes Gendern für mehr Gerechtigkeit sorgen könnte, wenn auch nur verbal. Auch wenn Gendern allein noch keine echte Gleichstellung herbeiführen kann, ein Schritt zu mehr Selbstverständlichkeit und Selbstbewusstsein ist es doch!
68-jährige Teilnehmerin aus dem Saale-Orla-Kreis
Grundsätzlich wirkt sich Sprache aus, wir sehen das in der Berufswahlorientierung. Sobald Berufsbezeichnungen auch weiblich benannt werden, entscheiden sich Mädchen häufiger auch für klassische männliche Berufe. Davon abgesehen sollte es nicht nur um Männer und Frauen gehen, sondern eben um die mögliche Geschlechtervielfalt. Was tut es uns weh, die Vielfalt zu auszuhalten oder auch zu genießen?
52-jähriger Teilnehmer aus Magdeburg
Etwas mehr Zustimmung zu Gendersprache bei Frauen
Grundsätzlich stehen die MDRfragt-Teilnehmerinnen der Verwendung gendergerechter Sprache offener gegenüber als die Teilnehmer: 18 Prozent der Frauen finden die Debatte wichtig, aber nur 10 Prozent der Männer.

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Wenn es um die Bedeutung des Genderns für die verschiedenen Geschlechter geht, so bezweifeln viele, dass es etwas an der fehlenden Gleichberechtigung ändern könne:
Gendern löst die wirklichen Ursachen für Diskriminierungen nicht einmal im Ansatz. Es macht die Sprache nur unverständlicher, vor allem für jene, die ohnehin schon Probleme damit haben.
65-jähriger Teilnehmer aus der Sächsischen Schweiz
Frauen wäre mit Sicherheit mehr geholfen, wenn es in ähnlichem Umfang eine Diskussion gäbe bzgl. der gleichberechtigten Bezahlung und Besetzung von hochdotierten Posten in Politik und Wirtschaft.
46-jähriger Teilnehmer aus Halle
Eine gerechte Entlohnung ist für Frauen eine deutlich höhere Anerkennung als ein Sternchen an irgendwelchen Personenbezeichnungen. Sicherlich ist in vielen Fällen die Belastung von Frauen und Müttern überdurchschnittlich, aber wieviel Stunden Entlastung bringt so ein Sternchen. Ich bezweifle, dass sich das die vorreitenden Feministinnen jemals so richtig überlegt haben.
70-jähriger Teilnehmer aus dem Erzgebirgskreis
Akzeptanz bei jüngerer Altersgruppe größer
Bei den Altersgruppen lässt sich klar feststellen: Die Jüngeren stehen der Verwendung geschlechtergerechter Sprache deutlich positiver gegenüber als die Älteren. Doch auch hier überwiegt der Anteil derer, die die Diskussion für unwichtig halten.

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3 min
Nachrichten Queere Gemeinschaft und gendergerechte Sprache
Mehr als die Hälfte bevorzugt beim Lesen und Hören die männliche Mehrzahlform
Anhand des Wortes „Student/Studentin“ wollten wir herausfinden, welche Formulierung die Befragten in einem geschriebenen Text für die Mehrzahl bevorzugen.

Dabei sprachen sich mit Abstand die meisten für das generische Maskulinum („Studenten“) aus – sowohl beim Lesen als auch beim Hören.

Etwa ein Fünftel bevorzugt jeweils die Partizip-Variante („Studierende“).

Die Paarform („Studentinnen und Studenten“) finden nur bei einem kleinen Teil der Befragten Zuspruch.

Andere Varianten – wie etwa Stern, Doppelpunkt oder eine kurze hörbare Pause vor dem I – möchte kaum jemand der MDRfragt-Mitglieder lesen oder hören.

Mehrheit lehnt Gendern in sämtlichen Kontexten ab
Wir haben außerdem gefragt, ob die Befragten die Verwendung von Gendersprache in bestimmten Bereichen des Lebens befürworten oder ablehnen. Es zeigt sich: In allen Bereichen ist es einer deutlichen Mehrheit lieber, wenn nicht gegendert wird. So lehnen fast drei Viertel (74 %) die Gendersprache in den Medien ab. Die größte Zustimmung gibt es bei staatlichen Stellen, etwa Ämtern, Behörden oder Ministerien. Aber auch hier befürworten es mehr als zwei Drittel (68 %) nicht.

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Mehr zum Thema Gendersprache in den Medien

Zwischen Sternchen und Ignoranz Wie deutsche Medien mit der Genderfrage umgehen
Viele MDRfragt-Mitglieder fordern, sich bei der Frage nach der Gendersprache nach dem Willen der Mehrheit zu richten:
Warum lässt man die Bevölkerung nicht darüber abstimmen, sondern folgt einer abgehobenen Elite? Manches wäre so zu vermeiden.
70-jährige Teilnehmerin aus dem Vogtlandkreis
Es ist eine von einer Minderheit dominierte Debatte, die in mein ästhetisches Empfinden massiv eingreift und bei mir nur noch Hass schürt.
35-jähriger Teilnehmer aus Dresden
Einige haben uns auch konstruktive Lösungsvorschläge für das Thema geschickt:
Machen Sie es doch wie beim Wetter, die weiblichen oder männlichen Namen der Hoch und Tiefs befinden sich ständig im Wechsel. Ich habe kein Problem damit, für eine bestimmte Zeit nur die weiblichen Nennungen zu lesen oder zu hören, wenn es dann auch die gleiche Zeit wieder das generische Maskulinum gibt.
43-jähriger Teilnehmer aus Dresden
Ich bin für die y-Variante: „Zuhörys“. Da gibt’s keine Abgrenzung, fertig.
40-jährige Teilnehmerin aus Meißen
Im eigenen Sprachgebrauch spielt Gendern kaum eine Rolle
50 Prozent der Befragten haben angegeben, dass sie bei ihrer eigenen Sprache nie auf gendergerechte Formulierungen achten, 24 Prozent tun es selten. Damit spielt für knapp drei Viertel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer das Gendern im eigenen Sprachgebrauch so gut wie keine Rolle. Rund ein Zehntel benutzt häufig geschlechtersensible Formulierungen, 13 Prozent tun es gelegentlich.
Die Befragungsergebnisse zum Herunterladen

Befragung Ergebnisse von MDRfragt zum Thema
Mehr Ergebnisse dieser Befragung

mit Video
MDR-Meinungsbarometer Gleiche Rechte für LGBTQI – wer ist dafür, wer dagegen?
Über diese Befragung Die Befragung vom 02.07.- 12.07.2021 stand unter der Überschrift:
Gendersprache – überbewertet oder unterrepräsentiert?

Insgesamt sind bei MDRfragt 46.425 Menschen aus Mitteldeutschland angemeldet (Stand 21.07.2021, 14.30 Uhr).

25.731 Menschen aus Mitteldeutschland haben online an dieser Befragung teilgenommen.

Verteilung nach Altersgruppen:
16 bis 29 Jahre: 649 Teilnehmende
30 bis 49 Jahre: 4.590 Teilnehmende
50 bis 64 Jahre: 10.630 Teilnehmende
65+: 9.862 Teilnehmende

Verteilung nach Bundesländern:
Sachsen: 13.100 (51 Prozent)
Sachsen-Anhalt: 6.459 (25 Prozent)
Thüringen: 6.172 (24 Prozent)

Verteilung nach Geschlecht:
Männlich: 55 Prozent
Weiblich: 45 Prozent

Die Befragungen sind nicht repräsentativ, aber sie werden nach statistischen Merkmalen wie Geschlecht, Bildung und Alter gewichtet. Die Gewichtung ist eine Methode aus der Wissenschaft bei der es darum geht, die Befragungsergebnisse an die real existierenden Bedingungen anzupassen. Konkret heißt das, dass wir die Daten der Befragungsteilnehmer mit den statistischen Daten der mitteldeutschen Bevölkerung abgleichen. 

Wenn also beispielsweise mehr Männer als Frauen abstimmen, werden die Antworten der Männer weniger stark, die Antworten der Frauen stärker gewichtet. Die Antworten verteilen sich dann am Ende so, wie es der tatsächlichen Verteilung von Männern und Frauen in der Bevölkerung Mitteldeutschlands entspricht.

Dabei unterstützt ein wissenschaftlicher Beirat das Team von „MDRfragt“. Mit dem MDR Meinungsbarometer soll ein möglichst breites Stimmungsbild der Menschen in Mitteldeutschland eingefangen werden – mit möglichst vielen Teilnehmenden.

 

Napoleon-Komplex: Psychopathen wollen größer sein
Der Napoleon-Komplex ist umstritten. Jetzt gibt es eine neue Deutung: Etwaige Kompensationsversuche hätten weniger mit der wahren Körpergröße zu tun als mit dem Wunsch nach Größe.
von Christiane Gelitz

© aluxum / Getty Images / iStock (Ausschnitt)
Wer sich groß fühlen will, kann auch einfach mal die Perspektive wechseln. (Symbolbild)

Gibt es den »Napoleon-Komplex« wirklich? Die Forschung ist uneins. Jetzt hat eine weitere Studie Hinweise darauf gefunden, dass an der Theorie etwas dran ist. Allerdings nicht in ihrem ursprünglichen Sinn, wonach Männer mit kleiner Körpergröße – wie sie dem französischen Feldherrn Napoleon zugeschrieben wird – diesen vermeintlichen Nachteil auf unangenehme Weise zu kompensieren versuchen. Typisch sei das vielmehr für jene, die gerne größer wären, selbst wenn sie gar nicht klein sind, wie die Studie in der Fachzeitschrift »Personality and Individual Differences« zeigt.

Das Forschungsteam aus Polen und Australien hatte mehr als 360 Erwachsene in den USA online befragt, darunter überwiegend weiße heterosexuelle Männer und Frauen. Erfasst wurden unter anderem Machiavellismus, Psychopathie und Narzissmus, das heißt die Neigung dazu, andere Menschen zu manipulieren, gefühllos zu reagieren und nach Bewunderung zu streben. Gemeinsam bilden diese Persönlichkeitsmerkmale die »Dunkle Triade«, eine Kombination von eher unerwünschten, sozial unverträglichen Eigenschaften.

Dieser Artikel ist enthalten in Spektrum Psychologie, Warum das Glück im Norden liegt
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Ihren eigenen Angaben zufolge neigten kleinere Männer zwar tatsächlich eher zu machiavellistischen und narzisstischen Zügen, aber der Zusammenhang war sehr schwach. Mehr als doppelt so stark hingen Machiavellismus und Narzissmus mit dem Wunsch zusammen, größer zu sein – und das Merkmal Psychopathie sogar dreimal so stark. Insgesamt ließen sich bei beiden Geschlechtern mehr als ein Fünftel der Unterschiede in der »Dunklen Triade« aus den Antworten zum Thema Körpergröße vorhersagen. Objektive Maße und subjektives Empfinden erwiesen sich dabei als durchaus verschieden: Die tatsächliche Körpergröße erklärte nur drei Prozent der Unterschiede im Wunsch, größer zu sein.

 

Der Napoleon-Komplex, neu interpretiert
Wenn sich Menschen körperlich nicht groß (genug) fühlen, wollen sie auf andere Weise »großartig« erscheinen, so die Interpretation. Die Forschenden deuten ihre Befunde aus evolutionärer Perspektive: Die »Dunkle Triade« könnte durch natürliche Selektion entstanden sein, um sich im Konkurrenzkampf zu behaupten. Die Annahme, dass es sich um ein rein männliches Phänomen handelt, sei ihren Daten zufolge jedoch falsch.
Bislang sprachen Studien eher dafür, dass der Napoleon-Komplex vorwiegend bei Männern auftritt. Beispielsweise berichtete ein Team um die Psychologin Jill Knapen, dass kleine Männer, nicht aber kleine Frauen angesichts eines deutlich größeren Mitspielers mehr Ressourcen für sich behalten. Die Gruppe interpretierte das eigennützige Verhalten als »flexiblere« Strategie im Wettbewerb um Ressourcen.

Okt. 2023 | In Arbeit | Kommentieren
Die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO war lange die einflussreichste Vertreterin ihres Volkes. Ihr Führer Jassir Arafat war gefürchtet – gewann später aber sogar einen Friedensnobelpreis. Was will die PLO heute – Er nimmt für sich in Anspruch, für alle Palästinenser und Palästinenserinnen zu sprechen. Doch Mahmud Abbas schwieg fünf Tage lang zu den Massakern der radikalen Palästinensermiliz Hamas auf israelischem Territorium, zu den massiven Raketenangriffen aus dem Gazastreifen, zum Kriegsgeheul der schiitischen Terrormiliz Hisbollah im Süden Libanons.

Für Abbas‘ langes Schweigen hatte Bundeskanzler Olaf Scholz nur ein Wort übrig: Es sei „beschämend“, sagte er

Abbas – seit 2004 Vorsitzender der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), seit 2005 Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und seit 2008 Präsident des von der PLO ausgerufenen Staates Palästina – ließ dann doch noch eine dürre Erklärung veröffentlichen. „Wir lehnen die Praxis, Zivilisten zu töten oder sie zu misshandeln, auf beiden Seiten ab, weil sie gegen Moral, Religion und internationales Recht verstößt“, so der 87-jährige Palästinenserpräsident.

Die wichtigsten Fragen und Antworten zur Palästinensischen Befreiungsorganisation PL

Eine deutliche Distanzierung vom Hamasterror würde anders klingen. In einem Gespräch mit dem jordanischen König Abdullah II., so berichtet die amtliche palästinensische Nachrichtenagentur Wafa, habe er dem Monarchen in der vergangenen Woche versichert, die einzig legitime Vertretung der palästinensischen Bevölkerung sei die PLO, die „an internationaler Legitimität, friedlichem Widerstand der Bevölkerung und politischem Handeln festhält, um unsere nationalen Ziele der Freiheit und Unabhängigkeit zu erreichen“.

Antony Blinken (links), Außenminister der USA, reicht Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, zu Beginn von Gesprächen in Jordanien am 13. Oktober 2023 die Hand.
Bilder aus der Vergangenheit: Ein Kämpfer der Kassam-Brigade vor Graffiti des früheren Palästinenser-Führers Jassir Arafat (rechts) und des früheren Hamas-Chefs Scheich Ahmad Yassin.

Antony Blinken (links), Außenminister der USA, reicht Mahmud Abbas, Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, zu Beginn von Gesprächen in Jordanien am 13. Oktober 2023 die Hand.

Abbas, der als Holocaust-Relativierer und -Leugner gilt, hat offensichtlich den Blick auf die Realität verloren. Die PLO, die von 1969 bis zu dessen Tod von Jassir Arafat geführt worden war, hat schon lange an Macht und Einfluss in den internen Kämpfen der palästinensischen Fraktionen verloren, ist nur noch Schatten ihrer selbst. Und Abbas ist ein Staatspräsident ohne Staat. Wo also fing alles an – und wann sank der Stern der PLO?

Was bedeutet PLO?

Die Abkürzung der PLO stammt aus der englischen Übersetzung ihres arabischen Namens: Palestine Liberation Organization, auf Deutsch Palästinensische Befreiungsorganisation.

Ist die PLO eine Partei?

Nein, die PLO sollte möglichst alle Palästinensergruppen unter einem Dach vereinen, um die Interessen des palästinensischen Volks wirksamer im Nahen Osten zu vertreten. Die sehr unterschiedlichen in der PLO vertretenen Interessengruppen verfolgten teilweise von Beginn an extreme Ziele.

Neben der von Arafat als Guerillaorganisation gegründeten Partei Fatah sind die Arabische Befreiungsfront, die Demokratische Front zur Befreiung Palästinas (DFLP), die Arabische Front Palästinas, die Demokratische Union Palästinas (FIDA), die Palästinensische Befreiungsfront (PLF), die Palästinensische Volkspartei (PPP), die Palästinensische Volkskampffront (PPSF) und die Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) Mitglieder der PLO. Die Fatah ist die größte Fraktion der Organisation. Islamistische Organisationen wie die Hamas oder der Islamische Dschihad erkennen den Dachverband nicht an.

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Wann und wie entstand die PLO?

Der frühere ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser gilt als Initiator der PLO-Gründung. Nasser engagierte sich für eine panarabische Bewegung, die das Ziel verfolgte, alle arabischen Menschen in einem großen Nationalstaat zu vereinen. Die PLO sollte darin die arabischen Palästinenserinnen und Palästinenser vertreten. Sie wurde dann 1964 in Jerusalem gegründet.

Welche Ziele verfolgte und verfolgt die PLO?

Zunächst sollte das politische und militärische Potenzial der in Flüchtlingslagern lebenden jungen Palästinenser perspektivisch genutzt werden können. Außerdem wollten Nasser und seine Vertrauten die bis dahin als geheime Widerstandsbewegungen arbeitenden palästinensischen Gruppierungen unter eine Führung stellen. Als Nasser 1967 den Sechstagekrieg gegen Israel verlor, begann Arafat, die Strippen in der PLO zu ziehen.

Der Gründer und Chef der zunächst militant-revolutionären Fatah übernahm 1969 den Vorsitz und richtete die PLO im Sinne eines palästinensischen Nationalismus aus. Das bedeutete: Errichtung eines säkularen Staates Palästina in den Grenzen des alten britischen Mandatsgebiets von 1920, also inklusive der Gebiete des heutigen Israel, des Gazastreifens, des Westjordanlands, des Königreichs Jordanien sowie eines Teils der zu Syrien gehörenden Golanhöhen.

Der erste israelische Premierminister David Ben-Gurion (stehend) verkündet am 14. Mai 1948 in Tel Aviv vor Mitgliedern der jüdischen Ratsversammlung die Gründung des Staates Israel; oben ein Porträt von Theodor Herzl, Begründer des politischen Zionismus. Für Juden in aller Welt war die Gründung des Staates Israel nach dem Holocaust das zweite epochale Ereignis dieses Jahrhunderts. dpa (zu dpa-Themenpaket Israel) (nur s/w) +++ dpa-Bildfunk +++

Wie die Juden ihren eigenen Staat gründeten und warum er seitdem angefeindet wird

Vor 75 Jahren rief David Ben Gurion den ersten jüdischen Staat aus. Zuvor hatte die Weltgemeinschaft die Teilung Palästinas beschlossen. Wie kam es dazu? Welche Folgen hatte der Beschluss? Und: Ist der Konflikt zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn jemals lösbar?

Die PLO richtete sich unter Arafat immer weiter militärisch aus. Der bewaffnete Kampf gegen Israel steht bis heute in der Nationalcharta, dem Grundsatzprogramm der PLO. Darin heißt es auch in Artikel 10: „Guerillaaktionen bilden den Kern des Befreiungskrieges des palästinensischen Volkes.“ Die Charta ist in einer deutschen Übersetzung auf der offiziellen Seite der palästinensischen Vertretung in Berlin einsehbar.

Die PLO wurde im Ausland vor allem durch terroristische Anschläge gegen Zivilpersonen bekannt, dazu gehörte die Geiselnahme von München während der Olympischen Spiele 1972 durch die Gruppierung „Schwarzer September“ und etliche Flugzeugentführungen. PLO-Milizen lösten jedoch durch interne Auseinandersetzungen oder Attentate auch die Bürgerkriege in Jordanien (1970) und im Libanon (1975) aus.

Wann verlor die PLO ihren Einfluss?

Die vermutlich durch einen Unfall eines israelischen Militärfahrzeugs und zwei palästinensischer Taxis ausgelöste erste Intifada 1987 ließ die PLO das erste Mal taumeln. Der Aufstand kam für die damals in Tunis ansässige PLO-Führung völlig unerwartet. Radikalere Organisationen wie die Hamas und der Islamische Dschihad nutzten das entstehende Vakuum und übernahmen zunehmend das Ruder.

Zwar mündeten dieser Aufstand und die Vertreibung von 450.000 Palästinenserinnen und Palästinensern aus Kuwait nach dem zweiten Golfkrieg 1991 im zwei Jahre später beginnenden Osloer Friedensprozess zwischen Palästinensern und Israelis. Doch selbst der Friedensnobelpreis für Arafat 1994 und die Etablierung der Palästinensischen Autonomie halfen nicht: 2000 scheiterten seine Verhandlungen über die Schaffung eines palästinensischen Staates mit dem israelischen Ministerpräsidenten Ehud Barak und US-Präsident Bill Clinton in Camp David an gegenseitiger Kompromisslosigkeit.

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Am 13. September 1993 reichten sich PLO-Chef Jassir Arafat (rechts) und Israels Ministerpräsident Jitzchak Rabin die Hände. Zwischen den beiden steht US-Präsident Bill Clinton. Rabin wurde 1995 von einem israelischen Extremisten ermordet.

Dies löste die zweite Intifada aus, der sich die PLO anschloss und die Terroranschläge in Israel vorsah, vorzugsweise in Bussen und Restaurants. Daran beteiligten sich Arafats Al-Aksa-Brigaden, die auch im aktuellen Konflikt als Angreifer auf Israel auftreten, mit zahlreichen Anschlägen. Der Ansehensverlust im Ausland schadete der PLO weniger als der Hausarrest, unter den Arafat 2001 durch Israel gestellt wurde. Die Organisation verlor in den innerpalästinensischen Machtkämpfen zusehends Einfluss an die radikalen Kräfte wie die Hamas.

Arafat starb 2004. Sein Nachfolger als Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, handelte 2005 mit dem damaligen israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon im ägyptischen Scharm el Scheich einen Waffenstillstand aus, der die zweite Intifada 2005 offiziell beendete.

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Am 13. September 1993 reichten sich PLO-Chef Jassir Arafat (rechts) und Israels Ministerpräsident Jitzchak Rabin die Hände. Zwischen den beiden steht US-Präsident Bill Clinton. Rabin wurde 1995 von einem israelischen Extremisten ermordet.

Was verbindet Hamas und PLO?

Die PLO pocht immer noch auf ihre führende Rolle als Vertretung der palästinensischen Bevölkerung. Als Vertreter ihrer größten Fraktion, der Fatah, unterschrieb Abbas 2011 ein Versöhnungsabkommen mit dem damaligen Hamaschef Ismail Haniyya. Beide beabsichtigten, dass ihre Fraktionen eine gemeinsame Übergangsregierung für den Palästinenserstaat bilden. Doch daraus und aus den Parlamentswahlen wurde erneut nichts. Abbas führt somit seit 2009 seine Amtsgeschäfte ohne demokratische Legitimierung.

Was will die PLO heute?

Die PLO sieht sich als einzige legitime Vertreterin des palästinensischen Volkes. „Sie hat die erste palästinensische Regierung (PNA) ernannt, wobei die PLO dieser bei politischen Entscheidungsprozessen übergeordnet ist“, heißt es bei der Palästinensischen Mission in Deutschland. „Außerdem gibt die PLO die Richtlinien der Politik vor und besitzt mit dem Palästinensischen Nationalrat die höchste Entscheidungsgewalt. Auf internationaler Ebene ist die PLO die einzige Verhandlungs- und Ansprechpartnerin.“

Okt. 2023 | In Arbeit | Kommentieren
  • Potenzial zum Flächenbrand
    Der brutale Angriff der Hamas ist ein Schock für Israel. Wie reagiert die Netanjahu-Regierung? Dem Nahen Osten droht eine beispiellose Eskalation. […]Es ist ein Desaster vor allem für den gewöhnlich so gut informierten israelischen Geheimdienst, der eine solche auf Monate geplante Großoffensive nicht hatte kommen sehen. Nicht nur tappte man völlig im Dunkeln, was die Planungen anging, ganz offensichtlich hielt man dergleichen auch politisch nicht für möglich. Zu stark war wohl der Glaube, die Hamas würde sich im Rahmen einer kontrollierten Feindseligkeit an bestimmte Spielregeln halten und den ganz großen Krieg scheuen. Dass sie das nicht tat, könnte nun auch bedeuten, dass Israel sich an nichts mehr gebunden fühlt. Somit betreten beide Parteien bei der Art der Auseinandersetzung Neuland – und gerade dies lässt die Gefahr einer großen Eskalation, eines Krieges womöglich über Gaza hinaus, exponentiell steigen.
  • Eine besondere Niederlage ist dieser Gewaltrausch für Benjamin Netanjahu, israelischer On-off-Langzeitpremier, der nun inmitten der größten innenpolitischen Auseinandersetzung seines Landes den Kriegsherrn geben muss. So sehr dies zumindest zeitweise die tiefen gesellschaftlichen Gräben zuschüttet, da sich das Land im Angesicht der äußeren Gefahr vereint, ist es doch ein Scheitern der „netanjahuschen“ Vision, den Konflikt managen zu können. Sein Versprechen war es, die Palästinenserfrage in der Wahrnehmung der meisten Israelis zu einem kaum mehr spürbaren Hintergrundrauschen zu reduzieren. Die Lösung des Konflikts bestand nicht mehr in der ungeliebten Zweistaatenlösung, zu der seine rechtsnationale Regierung sogar die Lippenbekenntnisse eingestellt hatte, sondern in der Perpetuierung des Status quo aus Besatzung und Unterdrückung der Palästinenser, den sowohl die weltweit führenden als auch israelische Menschenrechts-Organisationen mit dem in Deutschland so missliebigen Apartheidsbegriff umschreiben.
    Die Marginalisierung der Palästinenserfrage sollte in Netanjahus Logik international einhergehen mit einer Normalisierung der Beziehungen zu den arabischen Herrschern und Potentaten, die mit den Abraham Accords begonnen hat und mit dem gerade noch verhandelten Großdeal mit Saudi-Arabien ihren krönenden Abschluss finden sollte. Dies ist nun in weite Ferne gerückt, nicht nur weil sich die Palästinenser ganz offensichtlich nicht „managen“ lassen wollen, sondern auch weil die mutmaßlich hässlichen Bilder, die die angekündigte Bodenoffensive in den kommenden Tagen in Gaza produzieren wird, die Manövrierfähigkeit selbst des allmächtigen saudischen Kronprinzen erheblich einschränken dürfte. Anders als bei ihren Herrschern ist die Palästinasolidarität bei den arabischen Völkern weiterhin lebendig.
    Quelle: IPG Journal
  • Hubris Meets Nemesis in Israel
    By ruling out any political process in Palestine and boldly asserting that “the Jewish people have an exclusive and inalienable right to all parts of the Land of Israel,” Prime Minister Binyamin Netanyahu’s fanatical government made bloodshed inevitable. But that doesn’t explain Israel’s failure to prevent Hamas from attacking.
    Sooner or later, Israeli Prime Minister Binyamin Netanyahu’s destructive political magic, which has kept him in power for 15 years, was bound to usher in a major tragedy. A year ago, he formed the most radical and incompetent government in Israel’s history. Don’t worry, he assured his critics, I have “two hands firmly on the steering wheel.”
    But by ruling out any political process in Palestine and boldly asserting, in his government’s binding guidelines, that “the Jewish people have an exclusive and inalienable right to all parts of the Land of Israel,” Netanyahu’s fanatical government made bloodshed inevitable. Admittedly, blood flowed in Palestine even when peace-seekers such as Yitzhak Rabin and Ehud Barak were in office. But Netanyahu recklessly invited violence by paying his coalition partners any price for their support. He let them grab Palestinian lands, expand illegal settlements, scorn Muslim sensibilities regarding the sacred mosques on the Temple Mount, and promote suicidal delusions about the reconstruction of the biblical Temple in Jerusalem (in itself a recipe for what could be the mother of all Muslim Jihads). Meanwhile, he also sidelined the more moderate Palestinian leadership of Mahmoud Abbas in the West Bank, effectively beefing up the radical Hamas in Gaza.
    Quelle: Shlomo Ben-Ami auf Project Syndicatedazu: An Israel-Hamas Prisoner Exchange Now
    The government and Prime Minister Benjamin Netanyahu must not try to save Israel’s battered national honor, and that of the army, on the backs of helpless babies, children, teenagers, elderly people and parents, or on the backs of their families here in Israel, who are going crazy with worry and pain. No government, and certainly not the most reckless government in Israel’s history, has the right to traffic in the lives of innocent civilians and decide to sacrifice them on the altar of national pride. We must pay whatever is demanded, with no delays, no fancy maneuvering and no tricks.
    Quelle: HaaretzAnmerkung André Tautenhahn: Während in Israel eine nüchterne Debatte über politische Verantwortlichkeiten stattfindet und dabei massive Kritik am Premierminister und seiner Regierung geübt wird, ist die deutsche Debatte von Lächerlichkeiten geprägt, wie der Frage, ob man das Vorgehen Israels in Gaza nun Vergeltung nennen dürfe oder als Verteidigung bezeichnen müsse.

    dazu auch: Stellungnahme zum aktuellen Gaza-Krieg und der Gewalteskalation in Israel
    Nach diesem Wochenende fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden. Wir sind voller Trauer um die Toten, in Gedanken bei den Trauernden und Verletzten, voller Angst um Freund:innen und Verwandte in ganz Israel-Palästina.
    Wir sind auch wütend, wütend auf die Unterstützer des 75jährigen israelischen Kolonialregimes und die Blockade des Gazastreifens, die zu diesen Ereignissen geführt hat.
    Nun ist eingetreten, wovor viele in unseren Reihen seit Jahren gewarnt haben. 16 Jahre Blockade, Mangel an sauberem Wasser, Strom, medizinischer Versorgung sowie regelmäßige Bombenangriffe haben Gaza zu einem Pulverfass gemacht. Gaza gilt laut UN seit 2020 als unbewohnbar. Was nun geschehen ist, glich einem Gefängnisausbruch, nachdem die Insassen zur lebenslangen Haft verurteilt wurden, nur weil sie Palästinener:innen sind.
    Die israelische Regierung hat eine Kriegserklärung abgegeben, doch der Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung dauert schon 75 Jahre. Vertreibung, Bombardements, Verhungern, Verdursten, Beschränkung von Essen, Strom, Wasser – das sind die Wurzeln der Gewalt.
    Viele in Deutschland zeigen sich gerade solidarisch mit Israel, mit einem Apartheidstaat, der eine rassistische Politik gegen das palästinensische Volk ausübt, die schon Zehntausende das Leben gekostet hat. Doch wer das Blutvergießen tatsächlich beenden möchte, muss sich für eine radikale Veränderung der bisherigen Politik einsetzen, damit alle Menschen in Freiheit leben können.
    Die deutsche Regierung hat seit Jahren keine Außenpolitik in Israel-Palästina. Die Palästinenser:innen werden in Deutschland systematisch entmenschlicht: Sie dürfen für ihre politischen Rechte und Aufforderungen nicht demonstrieren, ihre Geschichte, Identität oder Gefühle zeigen. Die deutsche Politik hat den gewaltlosen Widerstand in Form von BDS oder Demonstrationen immer wieder kriminalisiert und unterdrückt.
    Quelle: Jüdische Stimme

    Daniel Barenboim verurteilt die Hamas-Angriffe und kritisiert die Reaktion Israels
    Über Instagram nimmt der 80-jährige Dirigent Stellung zum Terror gegen Israel und zur Belagerung des Gazastreifens. Die Kommentare sind entsprechend heftig.
    Der Dirigent und langjährige Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper Unter den Linden Daniel Barenboim hat sich per Instagram zu den Angriffen der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung geäußert und diese als „ein ungeheuerliches Verbrechen“ bezeichnet, das er „auf das Schärfste“ verurteile. Er verfolge die Entwicklung in Israel „mit Entsetzen und größter Sorge“. Das Ausmaß dieser menschlichen Tragödie, die noch lange nachwirken werde, zeige sich „nicht nur in den verlorenen Menschenleben, sondern auch in den Geiselnahmen, zerstörten Häusern und verwüsteten Gemeinden“. Der 80-jährige Barenboim bezeichnet aber nicht nur den vielfachen Tod im südlichen Israel, sondern auch in Gaza als Tragödie. Und er kritisiert die Reaktion Israels: „Die israelische Belagerung des Gazastreifens stellt eine Politik der kollektiven Bestrafung dar, die eine Verletzung der Menschenrechte ist.“
    Quelle: Berliner Zeitung

Okt. 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Citroën 2 CV

Ein mögliches Problem an der Berichterstattung über Klassiker ist, dass man kaum Neues berichten und erklären kann. Dachte ich. Bis ich 2015 eine Geschichte über die Technik des Citroën 2 CV veröffentlichte. Darauf meldeten sich nicht wenige Leser, die sagten, dass sie das Auto vollkommen unterschätzt hätten. Man kann das verstehen: Jahrzehntelang wurde zwar ausführlich beschrieben, wie es aussieht, fährt und sich anfühlt. Bereits sein Äußeres war ja bereits zur Vorstellung 1948 exotisch genug dafür und blieb es bis zum Ende.

Der Kleinstwagen war ausdrücklich für Landwirte entwickelt worden.

Zu verstehen jedoch, warum bei diesem Auto auch unterm Blech fast alles ziemlich anders ist, kann eine im Wortsinn tiefergehende Faszination ausmachen. Diese Gelegenheit bietet sich mal wieder, das Auto wurde heute vor 75 Jahren vorgestellt. Langweilen dürfte das jedenfalls nicht. Keine Beachtung schenken wir den unbestreitbar hochinteressanten Wechselwirkungen mit dem soziohistorischen Hintergrund bis hin zur Entwicklung zu einem unkonventionellen Anti-Statussymbol.

Obwohl der Ansatz, auf alles zu verzichten, was über die reine Funktion hinausgeht, ja an sich schon faszinierend ist. Derlei Minimalismus gab es allerdings schon lange vor dem 2 CV, etwa beim Ford Model T. Innovativ war aber nicht dessen Technik, sondern die konsequente Reduktion seiner Produktionskosten. Davon ist beim Fahren nichts zu merken, denn der Ford blieb ein weitestgehend konventionelles Automobil. André Citroën bewunderte Henry Fords Massenproduktion. Durch seinen frühen Tod 1935 erlebte er das 1937 begonnene Projekt TPV (Toute Petite Voiture) nicht mehr. Zuvor hatte er seine Automarke noch dem Reifen-Riesen Michelin verkauft.

Prototyp eines TPV von 1939 im Werksmuseum

Der 2 CV war nicht nach „Schema F plus Lastenheft“ konstruiert, sondern ganz offenbar ausdrücklich mit der Maßgabe, jede überkommene Lösung eines technischen Problems noch einmal neu zu denken. Darin übrigens dem Volkswagen nicht unähnlich, bei dessen Design sich Porsche, ebenfalls beginnend Mitte der 1930er-Jahre, höchstpersönlich keine Denkverbote auferlegt hatte. Man darf die Frage stellen, ob diese beiden Ansätze nach dem Krieg eine Chance gehabt hätten. Erfolgreich waren sie im Nachkriegseuropa aber wohl gerade wegen ihrer besonderen Anlagen.

Vor acht Jahren schrieb ich: „Bis heute ist der Aufwand, den man dazu betrieb, eigentlich völlig rätselhaft. Ein Bruchteil davon hätte im Prinzip bereits völlig genügt, um die Anforderungen überzuerfüllen. Tatsächlich werden die meisten Kunden die letzten zehn Prozent Verbesserung gar nicht bewusst wahrgenommen haben, obwohl darin 90 Prozent der Arbeit steckte. Aber es könnte vielleicht erklären, warum das Auto trotz seiner unbestreitbaren Nachteile an anderen Stellen überhaupt so lange populär blieb“. Gemeint sind das unerreicht komfortable und sichere Fahrwerk mit einer glasklar exakten, direkten und gefühlvollen Lenkung und nicht zuletzt eine überdurchschnittlich leistungsfähige Bremsanlage. Das galt besonders im damaligen Konkurrenzumfeld, in dem Fahrwerke an der Grenze zu gefährlich, maue Seilzugbremsen und schwammige Kugelumlauflenkungen die Regel waren.

Alles, wirklich alles anders als bei konventionellen Autos: 2 CV Chassis und Antrieb

Das ganze Auto ist bis in Details geprägt von einer Gedankenfreiheit im Sinne der Technik. Und zwar in einem Umfang, wie er in der Geschichte des Automobilbaus schon damals selten, heute aber – im Würgegriff des Shareholder-Value – vollkommen undenkbar ist. Das Wort „Technik“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet „List“. So verstanden kann man es gut anwenden auf Konstruktionsmerkmale, die darauf bedacht waren, die Physik mit möglichst geringem Aufwand auf die Seite des Nutzers zu ziehen. Ein „geht nicht“ schien für das Konstrukteursteam nicht zu existieren.

Die 2 CV Fourgonette war ohne großen Entwicklungsaufwand auf der Basis des Viertürers zu verwirklichen.

Im Fall des 2 CV bedeutete das aber eine erstaunliche Entwicklung hin zu einem Produkt, das in der Summe seiner Eigenschaften trotz aller Bescheidenheit oft deutlich besser funktionierte als die damals (und oft heute noch) übliche Technik. Die Konstruktion ohne Vorgänger erwies sich als so ausgereift, dass im Laufe der Jahre nur wenig geändert werden musste. Das meiste war so vorausschauend dimensioniert, dass die Technik eine Verdreifachung der Leistung klaglos mitmachte. Bei aller Einfachheit wurde die Fertigung trotz hoher Nachfrage auch wegen der höheren Produktionskosten 1991 eingestellt.

Vor acht Jahren charakterisierte ich die technischen Lösungen als eine Mischung aus Land- und Renntechnik. Was sich nach einer steilen These anhört, ist aber erklärbar.

Der Fahrerarbeitsplatz war ähnlich ausgestattet wie der eines zeitgenössischen Traktors. Alles blend- und ablenkungsfrei

Am auffälligsten war die Karosserie, deren Hässlichkeit bei der Vorstellung 1948 neben der geringen Leistung dazu beitrug, dass dem Auto keine Zukunft vorausgesagt wurde. Die vielen geraden Flächen erleichterten die Produktion. Das gewellte Karosserieblech, zunächst der Haube, bei den später lancierten Transportern der ganze Kasten, bot eine Versteifung des leichten, dünnen Materials ohne teuren Hinterbau. Ihr damals noch bis zur hinteren Stoßstange reichendes Stoffdach trug nicht nur einer besseren Klimatisierung Rechnung, sie war in erster Linie eine Maßnahme der Gewichtsersparnis. Der Transport von Sperrgut war damit aber auch möglich: Die zeitgenössische Werbung zeigte immerhin den Transport eines ganzen Klaviers in diesem Kleinstwagen.

Die unvergleichlich langhubige Radaufhängung ist nicht allein dem Fahrkomfort geschuldet, sie bietet in Verbindung mit dem geringen Gewicht, den großen Rädern, der guten Bodenfreiheit und einer kurzen Getriebeübersetzung in den unteren Gängen auch eine maximale Durchsetzungsfähigkeit im Gelände, bereits bei den frontgetriebenen Versionen. So brachten es die Allradmodelle nicht nur wegen ihres hohen Preises auf eine geringe Verbreitung – sie lohnten angesichts der Qualitäten der 2WD-Modelle meist die hohe Mehrausgabe nicht.

Die Geländetauglichkeit ist legendär und bewährte sich nicht nur in der Landwirtschaft. Sie ermöglichte auch Fernreisen mit kleinem Budget.

Zudem zentralisierte die Radaufhängung im Gegensatz zu konventionellen Lösungen die Krafteinleitung in den Rahmen, was eine substanzielle Gewichtseinsparung ermöglichte. Sauber konstruiert war auch dessen glatte Unterseite: weder Motor und Getriebe, noch Achsen, Auspuff oder Tank unterragten den völlig flachen Rahmen. Aufsetzen im Gelände blieb so meist ohne Folgen, der Wagen rutschte über Hindernisse. Für Motor und Tank gab es dennoch zusätzliche Skid-Plates als Sonderzubehör. Man sieht daran, dass das Auto auch fest im Blick auf die dritte Welt gedacht war – Frankreich hatte damals noch alle Kolonien.

Etliche Konstruktionsmerkmale aus der Renntechnik prägen das Fahrwerk: Etwa der Verzicht auf jegliche Elastokinematik, was eine maximal exakte Radführung garantiert. Aus diesem Grund haben Sportautos statt der im Serienbau heute üblichen Gummi/Metall-Lagerungen spielfreie Gelenke, die „Zero Clearance Joints“. Wohl einzigartig im Großserienprodukt 2 CV ist die sonst nur im Rennfahrzeugbau bekannte Kniehebel-Federung. Sogar mit Feingewinde an jeder Zugstrebe zur Fahrwerksjustierung. Oder der Einsatz von Trägheitsdämpfern an jedem Rad, wie er 2006 von der FIA in der Formel 1 verboten wurde, weil er die Haftung unfair stark verbesserte.

Der 2 CV offenbart in der Röntgenzeichnung, dass seine Technik gewissermaßen zweidimensional in einer Ebene angeordnet ist.

Aus dem gleichen Grund trugen Rennautos ihre Bremsen am Getriebe. Das verringerte drastisch die ungefederten Massen, bevor man Keramikbremsen einführte. Wie im 2 CV, dort wegen des Verhältnisses der schweren Trommelbremsen zum leichten Auto. Als dann 1981 Scheibenbremsen in den 2 CV einzogen, waren es nicht etwa die bis in die Mitteklasse üblichen Einkolben-Schwimmsättel aus Gusseisen. Es waren vielmehr Aluminium-Festsattelbremsen mit harteloxierten Leichtmetallkolben, wie man sie sonst nur in ausgesprochen sportlichen Autos findet.

Aus landwirtschaftlichen oder Gelände-Nutzfahrzeugen bekannt ist neben der langhubigen Federung der Verzicht auf Gummimanschetten. Bis zur Einführung der homokinetischen Antriebswellengelenke war das tatsächlich der Fall, die äußeren Gelenke der Lenkspurstangen kamen bis zum Schluss mit zwei Häubchen aus. Zudem waren sie bei Spiel nachstellbar, wie heute nur noch bei den letzten verbliebenen Geländewagen von Toyota. Das Lenkgetriebe lag geschützt im Achsträger. Auch die erste Generation der Schwingungsdämpfer war sicher gegen Auslaufen von Flüssigkeit oder Eindringen von Schmutz – es war eine Kombination aus einstellbaren Reibungs- und hermetisch geschlossenen Trägheitsdämpfern. Später fand man sogar eine Möglichkeit, auf Gummibremsleitungen zu verzichten – zugunsten durchgehender Stahlleitungen.

Der 2 CV in der zeitgenössischen Werbung. Die Türen, Heckklappe und Motorhaube konnte man ganz einfach nach oben bzw. seitlich aus ihren Scharnieren hinausschieben.

Maximale Robustheit bei minimalem Aufwand und Gewicht war auch der Grund für die Gebläsekühlung. Volkswagens Claim für den Käfer „Luft kocht nicht, Luft gefriert nicht“ stimmt ja auch für den kleinen Citroën, zudem fallen verletzliche Teile wie Kühler und Schläuche weg. Die Vorteile des Boxermotors, der fast vibrationsfreie Lauf trotz nur zwei Zylindern und der niedrige Schwerpunkt zählten zu seinen Stärken

Wie das alles im Detail funktioniert, haben wir in vier einzelnen Kapiteln genau beschrieben, darunter ist auch eines über den in seinen Intimzonen hochinteressanten, hier ziemlich weitgehend unterschlagenen Motor. Wir werden sie in loser Folge über unseren Teaser schicken. Wer das gleich lesen möchte, findet die Geschichten hier:

Land- und Renntechnik im Citroën 2CV, erster Teil

Land- und Renntechnik im Citroën 2CV, zweiter Teil

Land- und Renntechnik im Citroën 2CV, dritter Teil

Land- und Renntechnik im Citroën 2CV, vierter Teil

(fpi)

Okt. 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Um die Einführung der Kindergrundsicherung wird eine Scheindebatte geführt: Die FDP fürchtet „mangelnde Arbeitsanreize“ für Erziehungsberechtigte. Ein Wutausbruch

10 nach 8 Kindergrundsicherung
Bis Eltern die Unterstützung von Amts wegen erreicht, vergehen oft Monate. Blöd nur, wenn das Kind in der Zwischenzeit essen möchte

Erinnern Sie sich noch an die Diskussion über die Kindergrundsicherung? Was frage ich! Nach den wochenlangen, ermüdenden Diskussionen hat inzwischen wohl jeder die Debatte erfolgreich verdrängt. Zur Erinnerung: Die Grünen-Familienministerin Lisa Paus wollte mit zwölf Milliarden Euro die Kinderarmut in Deutschland bekämpfen, Finanzminister Christian Lindner stampfte das Unternehmen auf 2,4 Milliarden Euro ein. Damit waren aber immer noch nicht alle Fragen innerhalb der Regierungskoalition geklärt.

Am vergangenen Freitag verkündete der erste Parlamentarische Geschäftsführer der FDP, Johannes Vogel, es gäbe für seine Partei noch immer Klärungsbedarf. Dieser betreffe die Frage des Bürokratieabbaus und „die Stärkung von Arbeitsanreizen“. Und täglich grüßt das Murmeltier! Die ganze Debatte über die Kindergrundsicherung hatte doch begonnen mit der ausdrücklichen Absicht, Bürokratie abzubauen. Wie kann es nach Monaten des Diskutierens und einer Einigung immer noch Klärungsbedarf geben? Wenn sich, was den bürokratischen Aufwand anbelangt, nichts gebessert haben sollte, wäre die Kindergrundsicherung gescheitert, bevor sie überhaupt in Kraft tritt.

Natürlich passt die Forderung nach Bürokratieabbau in das Programm der FDP. Allerdings trägt just der bürokratische Wahnsinn, eine Art gesetzlich implementierte Abschreckungsstrategie für potenzielle Antragssteller, dazu bei, dass die Kosten für die soziale Sicherung in diesem Land gedrückt werden können. Ob das beabsichtigt ist oder eher ein „Unfall“ im System, darf jeder für sich deuten.

Im derzeitigen System müssen Menschen, deren Einkommen nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt der eigenen Kinder zu decken, eine Vielzahl von Anträgen bei unterschiedlichen Behörden stellen. Ein Beispiel: Eine alleinerziehende Studentin kann für sich Bafög, für ihr Kind Kindergeld und ergänzendes Wohngeld beantragen. Für letzteres muss sie der Wohngeldstelle ihren Bafög-Bewilligungsbescheid vorlegen, die den Kindergeldanspruch und sonstige Einkommen der Studentin mit ihren monatlichen Kosten verrechnet und so einen Bedarf ermittelt. Da sowohl die Studentenwerke als auch die Wohngeldstellen eine sehr dünne Personaldecke besitzen, kann so etwas schon einmal Monate in Anspruch nehmen. Blöd nur, wenn das Kind in der Zwischenzeit essen möchte.

Ein anderes Beispiel: Eine Alleinerziehende arbeitet Teilzeit und erhält Kindesunterhalt vom Ex-Partner. Sie kann nun beispielsweise mit Bürgergeld „aufstocken“ oder Wohngeld beantragen. Ein Horror, falls ihre monatlichen Einnahmen schwanken, weil sie mal mehr, mal weniger Stunden arbeitet. Dann muss sie vierteljährlich ihre Einkünfte nachweisen, damit diese rückwirkend verrechnet werden können – und eine mögliche Überzahlung von Amts wegen zurückgefordert werden kann.

Ein letztes Beispiel: Nehmen wir ein Ehepaar mit geringem Einkommen, das einen Kinderzuschlag beantragen kann, um den finanziellen Bedarf des Kindes zu decken. Der Kinderzuschlag wird jedoch nur dann ausbezahlt, wenn Einkommen, Kinderzuschlag und eine mögliche Wohngeldzahlung genügen, um den Bedarf der Familie zu decken. Ist dies nicht der Fall, muss die Familie Bürgergeld beantragen. Total logisch, oder?

Es geht ja nicht nur um den prinzipiellen Irrsinn solcher Multi-Behörden-Verfahren. Jeder einzelne Antrag umfasst mindestens ein halbes Dutzend Seiten, das halbjährlich ausgefüllt werden muss. Ob es wirklich sinnvoll ist, Menschen, die ohnehin schon ein Päckchen zu tragen haben, auch noch solche bürokratische Lasten aufzubürden? Ganz zu schweigen von den Bürokratiekosten, die dadurch entstehen, dass Behörden die Bescheide anderer Behörden prüfen und verrechnen.

Der nun vorgelegte Kompromiss zur Kindergrundsicherung stellt eine kleine Vereinfachung dar: Es soll einen Familienservice bei der Agentur für Arbeit geben, der für alle Familien zuständig ist und über Ansprüche aufklären soll. Von einer echten Grundsicherung, gar einem bedingungslosen Grundeinkommen für Kinder, sind wir weit entfernt.

Warum nun so hohe Mehrkosten auf den Staat zukommen sollen, erschließt sich aus den Plänen nicht. Die Erklärung erscheint zynisch: Viele Menschen, die Anspruch auf Sozialleistungen wie Wohngeld oder Kinderzuschlag haben, beantragen ihn nicht. Weil sie nichts von dem Anspruch wissen oder vor der Bürokratie zurückschrecken. Oder weil sie zu stolz sind, zum Amt zu gehen, um „Almosen“ einzusammeln. Beinahe die Hälfte der Wohngeldberechtigten stellt keinen Antrag. Den Kinderzuschlag beantragen nach Angaben des Familienministeriums, das auf eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag geantwortet hat, nur 35 Prozent der Anspruchsberechtigten.

Mit anderen Worten: Die Finanzplanung des Bundes in Fragen der Familienleistungen basiert seit Jahren darauf, dass Anspruchsberechtigte ihren Anspruch nicht wahrnehmen. Wenn Sie das verstehen, haben Sie das Zeug zum Finanzminister!

Lindners Hängematten-Theorie

Dass diese Eigentümlichkeit nicht auffiel, hatte mit einem äußerst erfolgreichen Debatten-Derailing durch Finanzminister Christian Lindner zu tun – womit wir bei der zweiten FDP-Forderung in Fragen der Kindergrundsicherung angekommen wären. Derailing bedeutet übersetzt Entgleisen und meint das Ablenken vom Kernthema einer Debatte. Es ist eine typische Trolling-Strategie in Internetdiskussionen, aber offensichtlich auch unter Politikern verbreitet. Christian Lindner wurde jedenfalls nicht müde zu betonen: „Wir wollen nicht zusätzliche Anreize geben, sich nicht um Arbeit zu bemühen.“ Damit war das Kernanliegen, die materielle Absicherung von Familien, zu einer Frage von Leistungsbereitschaft geworden. Die Bemerkung insinuiert, dass Familien, die Sozialleistungen in Anspruch nehmen, kein Erwerbseinkommen haben. Doch allein beim Bürgergeld liegt der Anteil der Aufstocker bei 20 Prozent. Hinzu kommen noch einmal jene, die Wohngeld beziehen und die ja ebenfalls über ein Einkommen verfügen.

Trotzdem blieb hängen, dass es sich bei der Kindergrundsicherung um eine Art soziale Hängematte handele, womit Lindner im Grunde auf das im angelsächsischen Raum verbreitete Bild der welfare queen anspielt. Aus einem unerfindlichen Grund wurde so eine allgemeine Diskussion über Sinn und Notwendigkeit einer Kindergrundsicherung zu einer Diskussion vor allem über Arbeitsanreize für Alleinerziehende umgemünzt. Ich möchte Lindner hier nicht einmal Absicht unterstellen, aber er folgte damit einer bei Männerrechtlern extrem beliebten Gedankenfigur, wonach alleinerziehende Mütter sich aushalten ließen – von ihren Ex-Partnern und vom Staat.

Immerhin gab es Autorinnen wie Mareice Kaiser, die auf Linders Hängematten-Theorie entgegneten, dass Care-Arbeit ebenfalls Arbeit sei. Das ist zwar richtig, folgt aber dem Derailing. Stattdessen müsste man Lindner die aktuellen Zahlen über erwerbstätige Alleinerziehende entgegenhalten: Gut die Hälfte der Alleinerziehenden mit Kindern unter elf Jahren ist erwerbstätig, davon 43 Prozent in Vollzeitbeschäftigung. Je älter die Kinder von Alleinerziehenden, desto höher der Anteil der Vollzeitbeschäftigten.

Je kleiner die Kinder, desto schwieriger ist es offensichtlich, eine Beschäftigung aufzunehmen. Es macht zudem einen Unterschied, ob man vollständig allein erziehen muss, weil der Ex-Partner beispielsweise den Kontakt verweigert, oder ob man die Betreuung der Kinder gerecht teilt. Ich kenne Alleinerziehende, die in der Woche, in der die Kinder beim Ex-Partner sind, Überstunden machen, um in der Betreuungswoche das Büro rechtzeitig für die Abholung der Kinder verlassen zu können. Das funktioniert allerdings längst nicht in allen Jobs.

Alleinerziehende dürfen auch nicht auf eine Sonderbehandlung in der Arbeitswelt hoffen. Das zeigt ein Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern. Eine Alleinerziehende hatte ihren Arbeitgeber gebeten, keine Wochenendschichten übernehmen zu müssen. Der Arbeitgeber lehnte dies ab; die Frau, eine Bäckereiangestellte, reichte daraufhin Klage ein, scheiterte jedoch vor Gericht. Interessant ist die Begründung des Gerichts: Die Alleinerziehende von den Wochenendschichten auszunehmen, stelle eine „Besserstellung“ derselben im Vergleich zu den anderen Angestellten dar. Man könnte die Sache natürlich als Nachteilsausgleich begreifen. Tut das Gericht allerdings nicht. Stattdessen heißt es im Urteil: „Dass es den anderen Mitarbeiterinnen gelinge, ihre arbeitsvertraglichen und ihre familiären Pflichten miteinander zu vereinbaren, ist demnach kein Grund, diese durch die vermehrte Zuweisung ungünstiger Schichten zusätzlich zu belasten – und gegenüber der Klägerin zu benachteiligen.“ Mit anderen Worten: Die anderen kriegen es doch auch gebacken!

Es ist ziemlich offensichtlich, warum die Alleinerziehende lieber nicht am Wochenende arbeiten möchte: Vermutlich entspricht der Stundenlohn des Babysitters ihrem eigenen, sie ginge also für nichts – oder allenfalls fürs Finanzamt – arbeiten. Womit wir wieder bei den Anreizen fürs Arbeiten wären. Selbst Christian Lindner würde vermutlich nicht umsonst arbeiten wollen. Und dass die Alleinerziehende mit ihren Kindern wenigstens am Wochenende mehr Zeit verbringen möchte, ist ebenfalls verständlich.

Tatsächlich lässt sich das Problem wohl nicht betriebsintern lösen, sondern nur mit einer schlichten Einsicht: Solange wir so tun, als sei die Vereinbarkeit von Familie und Beruf lediglich eine Frage der individuellen Organisation, solange wird es Alleinerziehende geben, die an dieser Organisation scheitern. Nicht, weil sie weniger fähig sind, sondern weil man ihnen eine übermäßige Last aufbürdet. Nicht das Zuviel an Sozialleistungen hält Alleinerziehende in sozialen Sicherungssystemen, sondern der Mangel an gesellschaftlicher Unterstützung.

Okt. 2023 | In Arbeit | Kommentieren

Wenn man nun aber den waltenden Sternen Günstiges nachzusagen vorhat, ohne sich weiter mit diesem Datum beschäftigen zu wollen, dann, alsdann also möchten wir uns mit einem Sterne gemalt habenden Künstler, nämlich mit Jacopo Robusti beschäftigen, welcher durchaus als Glückskind zur Welt kam.
Der Vater ein erfolgreicher Tuchfärber, die Heimatstadt Venedig voller Kaufleute, Handelsherren und Bankiers, die für ein Wirtschaftswachstum sorgten, von dem man anderswo in Europa nur träumen konnte. Dass das reiche Konstantinopel an die Osmanen gefallen war, lag ja schon etwas zurück, und die Seeschlachten, in denen auch Zypern und Kreta verloren gehen würden, noch in einiger Ferne. Die Gesellschaft war in der Republik Venedig, der mächtigen Wirtschaftsmacht an der Adria, verlässlich von oben nach unten geordnet, die Lebensverhältnisse auskömmlich, der Bedarf an schönen Dingen riesengroß – beste Voraussetzungen für eine steile Malerkarriere.

Und weil man sich von Rom nicht allzu viel reinreden ließ, tat sich auch die Gegenreformation noch eine Weile schwer, bevor sie die freigeistigen Künstler und Intellektuellen wieder einfing. Vorerst wurde debattiert und gestritten in den venezianischen Palästen. Und wenn man auf der einen Kanalseite der Lehre des strengen Mönchs aus Deutschland durchaus etwas abgewinnen konnte, dann wollte man auf der anderen kein Iota von der alten Rechtgläubigkeit abzweigen. Da brauchte es nur noch den Maler, der zum Aufruhr der Geister Bilder liefern würde. Il

Tintoretto hat seine Chance sofort erkannt.

Etwas abfällig hatten sie den kleingeratenen jungen Mann „das Färberlein“ genannt. Doch Jacopo Robusti wusste längst, wie man sich Ansehen verschafft. Er war gerade 20, als er seine erste eigene Werkstatt aufmachte. Ein künstlerisches Start-up, das es in ganz kurzer Zeit zu Stadt- und Landesruhm brachte. Der tüchtige Skandal gehörte natürlich auch dazu. Den Stadtheiligen San Marco lässt der Maler wie einen Greifvogel vom Himmel fallen, um den unschuldigen Sklaven vor dem Märtyrertod zu retten. So viel zuckende Körper und aufgebrachte Gemüter, das war schon heftig. Und das gebildete Publikum erkannte den gut kalkulierten Verstoß gegen das Maß- und Regelwerk der Renaissance sogleich. Mit dem Pathos aufgewühlter Seelen, wie es Tintorettos ewiger Konkurrent Tizian kultivierte, wäre der dynamischen Epoche nicht gedient. Davon war er überzeugt.

Genau wie Hollywood – nur gemalt

Noch heute steht man in der „Accademia“, dem Kunstmuseum in Venedig, und denkt: Vielleicht hätte der kleine Mann ja, wenn das Medium schon im Gebrauch gewesen wäre, große Filme gedreht. Gewaltige Leinwandmärchen, wie sie Steven Spielberg, James Cameron oder Ridley Scott erzählt haben.
Und wenn Hollywood in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Studios in der Lagune unterhalten haben würde, wäre er bestimmt der meistbeschäftigste Regisseur gewesen.
Aber auch als Maler hat es Tintoretto weit gebracht. 154 Quadratmeter „Paradies“ im noblen Dogenpalast, 56 monumentale Gemälde für die Scuola San Rocco – das muss man erst mal schaffen, wenn die Arme nicht so weit reichen!

Das Kammerspiel, nein, dafür war Tintoretto nicht zuständig. Unter der ganz großen Bühne hat er es nicht gemacht. Dort war er Sonderklasse. Wie er seine Figuren gibt, als seien sie geradewegs beim Kampfspiel oder beim Liebesspiel, auf der Flucht oder beim Hilfseinsatz in letzter Sekunde, auf dem Höhepunkt der Erregung oder beim entscheidenden Stichwort angekommen, das ist ohne Vergleich.
Und kein anderer seiner Generation war als Kunst-Unternehmer so erfolgreich, bediente Kirche, Stadtadel und Bürgertum so elegant, mühelos und mit sicherem Gespür für die Ausstattungsbedürfnisse einer stolzen Zeit. Dass man mit kunsttheoretischen Skrupeln nur scheitern würde, war Tintoretto von Werkbeginn an klar. Er würde sein anspruchsvolles Publikum nur gewinnen, wenn er ihm furiose Geschichten vorsetzte.

Wirklich aufregend, wie jetzt nur noch die Aufregung zählt. Seit der Antike hat die Kunst doch immerzu erhabene Ruhe, Schönheits-Trost, profane Erlösung versprechen wollen. Bei Tintoretto ist das Menschheits-Drama nie an seinem Ende. Und wenn er ein Bild zu aller Zufriedenheit fertig gemalt hat, dann ist es, als wenn der Vorhang gefallen wäre. Kleine Pause. Umbau. Und beim nächsten Bild geht der Vorhang dann wieder auf.

Okt. 2023 | In Arbeit | Kommentieren

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