Ein toter Blei liegt am frühen Morgen im flachen Wasser vom deutsch-polnischen Grenzfluss Oder.

Ein toterFisch liegt  im flachen Wasser vom deutsch-polnischen Grenzfluss Oder.
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Die Menschheit macht sich schuldig an einem Ökozid. Noch nie seit dem Ende der Saurier verschwanden in so kurzer Zeit so viele Tier- und Pflanzenarten. Das hat verheerende Folgen – auch für uns selbst

 

Es ist Frühsommer, eine gute Zeit, um Vögel zu sehen. Eckhard Gottschalk biegt von der Landstraße auf einen Feldweg. Rechts ein Acker, links ein Acker und hinter uns auch. Nur vor uns strahlt eine bunte Wiese, eine Rarität, das sieht man gleich. Spaziergänger stehen davor und fotografieren Kornblumen. Gottschalk parkt und stapft los. Er will uns eine Spezies zeigen, von der wir seit Großmutters Zeiten nichts mehr gehört und gesehen haben: ein Rebhuhn. „Ich kann aber nichts versprechen“, sagt er.

 Manuel Liebermann 57, ist Biologe an der Universität Göttingen, genauer gesagt ist er Ornithologe, also Vogelkundler. Sein Schwerpunkt sind Vögel der Agrarlandschaft. In Südniedersachsen koordiniert er ein Schutzprojekt für Rebhühner: Landwirte stellen einen Teil ihrer Felder als Blühflächen zur Verfügung und erhalten dafür Ausgleichszahlungen. Früher, so erzählt es Gottschalk, hockten massenweise Rebhühner in den Feldern. „Wenn man aus Versehen eine Gruppe aufschreckte, sind sie laut zeternd und mit wildem Flügelschlag aufgeflogen.“
Am Rebhuhn lässt sich eines der größten Dramen unserer Zeit gut erklären: das Sterben der Arten. Der kugelig-kompakte Charaktervogel ist ein Indikator für Biodiversität: Wo er sich wohlfühlt, fühlen sich auch andere Tiere und Pflanzen wohl.Aber das Rebhuhn fühlt sich nicht mehr wohl. Perdix perdix, das ist sein altgriechischer Name, hat in den vergangenen Jahrzehnten so dramatische Verluste wie kaum eine andere Vogelart erlitten. Über 90 Prozent gingen seine Bestände seit den achtziger Jahren zurück. Einen ähnlich hohen Schwund wie das Rebhuhn verzeichneten der Kiebitz und die Turteltaube, typische Allerortsarten, könnte man meinen. Auch der markante Gesang von Feldlerche und Goldammer ist flächendeckend aus unseren Fluren verschwunden.

Ein Rebhuhn sitzt in einem Gehege.

Sina Schuldt/dpa/Archivbild Ein Rebhuhn sitzt in einem Gehege.

Alle Vögel sind – nicht mehr da

Der nationale Vogelschutzbericht des Bundesamts für Naturschutz (BfN) stuft inzwischen die Hälfte der rund 260 in Deutschland heimischen Brutvogelarten als gefährdet ein. Weil die Bestände in vielen Regionen Europas stark zurückgehen, befürchten Ökologen ein regelrechtes Vogelsterben. Nicht nur einzelne Populationen seien bedroht, sondern die Summe aller Arten.

Hoch subventionierte Agrarindustrie schädigt Europas Artenvielfalt

Überall auf der Erde schreitet die massive Naturzerstörung voran. Es ist ein Ökozid. Im Amazonasbecken in Südamerika verlieren so viele Spezies wie sonst nirgends ihre Heimat, weil dort für Viehzucht, Soja und Palmöl Quadratkilometer um Quadratkilometer Regenwald gerodet wird. Wegen des exzessiven Einsatzes von Insektiziden müssen in China neben Bienen nun auch Menschen ausschwärmen, um Obstplantagen zu bestäuben. In Afrika bedrohen gleichzeitig Raubbau und Dürre die großen Säugetiere. In Europa schädigt eine hochsubventionierte Agrarindustrie unsere biologische Vielfalt. Der Homo sapiens ist dabei, seine eigene Lebensgrundlage zu vernichten.
Brandrodung im Amazonas-Regenwald, Brasilien, Amazonasgebiet slash and burn cultivation in the Amazon rain forest, Braz

imago images/blickwinkel Brandrodung im Amazonas-Regenwald, Brasilien.

Jeden Tag ( jeden Tag!verschwinden 150 Tier- und Pflanzenarten von der Erde

„Der Mensch ist Teil der Natur, und sein Krieg gegen die Natur ist zwangsläufig ein Krieg gegen sich selbst“, schrieb die US-Biologin und Pionierin der Umweltschutzbewegung, Rachel Carson, vor 60 Jahren in ihrem Buch „Der stumme Frühling“. Ihre Dystopien sind heute teils Realität. Jeden Tag verschwinden bis zu 150 Tier- und Pflanzenarten für immer von unserer Erde.An sich gehört Artensterben zur Evolution, ebenso wie die Entstehung neuer Spezies. Eine Mückenart spaltet sich in Unterarten auf, Vulkanismus löscht eine Salamanderart aus, die es nur auf dieser einen Insel gibt, weniger gut an die Umwelt angepasste Spezies werden von anderen verdrängt.

Das sechste Massensterben hat begonnen – diesmal ist der Mensch der Meteorit

Neu ist das Tempo, mit dem Arten sterben, bis zu 1000-mal schneller als in der Vergangenheit, haben Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ausgerechnet. Der Weltbiodiversitätsrat IPBES warnt, dass in wenigen Jahrzehnten eine Million Tier- und Pflanzenarten verloren gehen könnten – wenn die Menschen nicht umdenken, das Land und die Meere anders nutzen, die Umwelt besser schützen, den Klimawandel eindämmen.Es ist der Beginn eines Massensterbens. Davon hat es in den letzten 500 Millionen Jahren Erdgeschichte erst fünf gegeben, zuletzt vor 66 Millionen Jahren, als ein Meteorit mit 14 Kilometern Durchmesser auf die Erde krachte und die Dinosaurier vernichtete. Zwar entstanden Millionen neuer Arten, diesen Ausgleich der Natur macht aber inzwischen die Zerstörung durch den Menschen zunichte, sagt der Hamburger Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht: „Beim sechsten Massensterben ist der Mensch der Meteorit.“

Einschlag vor vielen Millionen Jahren: in Australien haben Forscher Spuren eines gewaltigen Meteroitenkraters entdeckt (Symbolbild)

rts Einschlag vor vielen Millionen Jahren: in Australien haben Forscher Spuren eines gewaltigen Meteroitenkraters entdeckt (Symbolbild)

Umweltschützer warnen seit 50 Jahren vor den Grenzen des Wachstums

Als die Weltnaturschutzunion IUCN im Juli ihre Rote Liste der bedrohten Arten aktualisierte, war sie länger als je zuvor. Von den bislang 147.500 erfassten Tieren und Pflanzen steht fast ein Drittel in Gefährdungskategorien – vom Monarchfalter bis zum Tiger. In Deutschland, wo das BfN eigene Listen für Säugetiere, Insekten, Amphibien, Reptilien und Wildpflanzen führt, ist der Schwund ähnlich hoch. Unter anderem von Feldhamster, Luchs, Zwergwal, den Europäischen Aalen und Stören und vielen Mehlbeerarten sind nur noch „Restbestände“ übrig, ihr Überleben gilt als unwahrscheinlich.

Umweltministerin Lemke: Artensterben mindestens so dramatisch wie Klimawandel

Seit einem halben Jahrhundert warnen Umweltschützer immer wieder vor den Grenzen des Wachstums. Das Artensterben sei dabei mindestens so dramatisch wie der Klimawandel, räumt die grüne Umweltministerin Steffi Lemke ein. Dennoch spielt es in der öffentlichen Wahrnehmung eine geringere Rolle. Der biologische Schwund wird oft eher als Nebenwirkung des Klimawandels verstanden statt als eigenes Problem. „Um es zu lösen, brauchen wir intakte Lebensräume, die aber nur von einer intakten Artengemeinschaft aufgebaut werden können“, sagt Matthias Glaubrecht.
Zahlreiche Baumarten stehen entlang des Streuobstlehrpfades in Hausen, der Modellgemeinde des UNESCO-Biosphärenreservates Rhön.

Nicolas Armer/dpa Zahlreiche Baumarten stehen entlang des Streuobstlehrpfades in Hausen, der Modellgemeinde des UNESCO-Biosphärenreservates Rhön.

Selbst Schutzgebiete in Deutschland sind inzwischen belastet

Warum das Rebhuhn an Boden verloren hat, hat mit unserer Landnutzung zu tun. Ursprünglich bewohnte der Vogel mit dem graubraunen Tarnkleid und dem rötlichen Gesicht Steppen und Heidelandschaften. Doch als die Mitteleuropäer den Wald rodeten, um ihre Kulturlandschaften mit Wiesen und Feldern anzulegen, schufen sie für ihn und viele andere Arten neue Lebensräume.Damals waren die Äcker viel kleiner, und die Vielfalt der Feldfrüchte war viel größer. Es gab keine Gifte gegen störende Insekten. Schweine und Kühe weideten draußen. Die Felder waren das perfekte Biotop für den Hühnervogel: Hohe Gräser und Kräuter boten ihm Unterschlupf. Die Weibchen konnten darin gut versteckt vor Räubern wie Füchsen brüten. Ihre pro Gelege bis zu 20 Küken fanden darin ausreichend eiweißhaltige Kost. In den ersten Lebenswochen ernährt sich der Nachwuchs ausschließlich von Insekten.

Man muss kein Experte sein, um zu sehen, dass das Nahrungsangebot auf blühenden Wiesen größer ist als auf Ackerflächen. „Heutzutage sind auf den meisten Feldern nur wenig kleine Flug- und Krabbeltiere zu finden, sodass die Rebhuhneltern ihre Küken in Feldraine, Brachen und Blühflächen führen“, sagt Gottschalk.

Ein Marienkäfer krabbelt auf den Blüten eines Wald-Engelwurz (Angelica sylvestris).

Soeren Stache/dpa-Zentralbild/dpa Ein Marienkäfer krabbelt auf den Blüten eines Wald-Engelwurz (Angelica sylvestris).

Dramatisches Insektensterben: Biomasse seit 1989 um 75 Prozent gesunken

Seit gut fünf Jahren ist das Insektensterben ein großes Thema. Da erschien im Fachmagazin „Plos One“ eine Studie zur Auswertung von Insektenforschern aus Krefeld. Seither vergeht kaum ein Tag, an dem die Studie im In- und Ausland nicht zitiert wird. Die Mitglieder des Entomologischen Vereins hatten Kleinstgetier über 27 Jahre akribisch in Fallen gesammelt. Ihre Ergebnisse erschütterten die Welt: Die Biomasse der Fluginsekten war zwischen 1989 und 2016 um mehr als 75 Prozent zurückgegangen. Viele Menschen erfuhren nun, warum trotz langer Autofahrten die Windschutzscheibe sauber blieb.Die Studie war auch deshalb brisant, weil die Messungen in Naturschutzgebieten stattfanden, wo Beackerung eigentlich tabu sein sollte, aber Dünger und Pestizide aus konventioneller Landwirtschaft trotzdem den Lebensraum schädigten.

Gewöhnlicher Teufelsabbiss

dpa/Udo Steinhäuser/Loki Schmidt Stiftung Der Gewöhnliche Teufelsabbiss wurde von der Loki Schmidt Stiftung zur Blume des Jahres 2015 ausgewählt.

Flurbereinigungen als Beginn der biologischen Tragödie

Ökologen sehen in Deutschland die sogenannte „Flurbereinigung“ als Beginn der biologischen Tragödie. Um effektiver zu wirtschaften, wurden viele kleine Äcker zu wenigen großen zusammengefasst, die für die Vielfalt wichtigen Randstreifen, Brachen und Hecken verschwanden. Artenreiche Feuchtgebiete wichen Hochleistungswiesen.Die Intensivierung der Landwirtschaft setzte eine Kaskade in Gang – Massentierhaltung, Überdüngung, massiver Einsatz von Pflanzenschutz- und Insektenvernichtungsmitteln, den Pestiziden. Als Folge der Monowirtschaft verschwand ein Großteil der Pflanzen, die heute an Naturbeschreibungen alter Romane erinnern: der Gute Heinrich, das Acker-Löwenmäulchen, der Teufelsabbiss.

Damit nahmen die Mitteleuropäer dem Rebhuhn seinen Lebensraum wieder weg.

Trockene Pflanzen eines Maisfeldes sind zu sehen.

Soeren Stache/dpa/Symbolbild Trockene Pflanzen eines Maisfeldes sind zu sehen.
Wenn aus Wiesen Wüsten werden
Josef Reichholf, einer der bekanntesten deutschen Ökologen, veranschaulicht den Niedergang der Natur in seinen Vorträgen gern mit Bildern seines Heimatortes, der kleinen Gemeinde Aigen am Inn in Niederbayern. Seine erste Aufnahme stammt von 1960 und zeigt sein Heimatdorf umgeben von Wiesen und Bäumen, von einer blühenden Landschaft. Ein weiteres Foto zeigt sein Dorf 20 Jahre später: Meterhohe Maisplantagen säumen die Siedlung wie eine Mauer. Das letzte Foto wurde nach der Maisernte geschossen, die Umgebung ist nun braun und karg. Reichholfs Stimme klingt bitter: „Von Herbst bis Mai wirkt unser Dorf wie eine Insel in einer Vollwüste.“

Der Mais hat großen Durst auf chemischen Dünger und Gülle aus den Ställen. Beides enthält viel Stickstoff. Mit der forcierten Nutzung der Energiepflanze für Biokraftstoffe hat sich die Anbaufläche mit gut 2,6 Millionen Hektar fast verdoppelt. Immer mehr Stickstoff gelangt in die Böden. Zusätzlich reichern sich Stickstoffverbindungen wie Ammoniak aus der Luft in der Natur an. Alles, was Ertrag bringen soll, profitiert davon, alles andere leidet. Auf solchen Flächen wuchern Brennnesseln und Löwenzahn. Aber Pflanzen und Tiere, die auf magere Böden angewiesen sind, gehen verloren. Reichholf nennt den Stickstoff deshalb „Erstick-Stoff für die Artenvielfalt“.

Ein verstecktes Rehkitz in einer Wiese bei Nördlingen.

Ein verstecktes Rehkitz in einer Wiese bei Nördlingen.

Insekten fehlen als Bestäuber und in den Nahrungsketten

Wiesen werden heute dreimal so häufig gemäht wie früher. Nur wenige Pflanzen, Gräser zumeist, überstehen diesen Rhythmus. Er lässt den Insekten nicht genug Zeit, eine neue Generation hervorzubringen. Die Schlagkraft moderner Kreiselmäher gibt Kleintieren und Jungwild kaum Möglichkeit zur Flucht. Selbst die der Natur gewidmeten Staatsforste seien für Wildbienen und Schmetterlinge lebensfeindlich geworden, sagt Reichholf: „Im Sauberkeitswahn und ohne Rücksicht auf Verluste werden dort auch Seitenstreifen und Hügel abrasiert, als handele es sich um penible Parkanlagen.“Auf der anderen Seite werden mit viel Aufwand bedrohte oder bereits ausgestorbene Großvogelarten wie Waldrapp und Schwarzstorch neu angesiedelt. „Im Inntal ist es jetzt leichter möglich, einen Seeadler zu sehen als eine Goldammer“, sagt Reichholf. „Das ist eine total verrückte Situation.“

Toxische Beziehung der EU zur Agrarlobby

Die Krefeld-Studie beförderte das Insektensterben ins Bewusstsein vieler Menschen und auf die politische Agenda. Die Bundesregierung verabschiedete ein Insektenschutzgesetz, und auch die EU-Kommission will nach langen Verschiebungen den Pestizideinsatz bis 2030 halbieren. Ob sich die EU aber tatsächlich aus der toxischen Beziehung mit der Agrarlobby lösen kann, bezweifeln Umweltschützer. Der größte Feind des Artenschutzes seien die Agrarsubventionen aus Brüssel.

Die in Europa verbotenen Neonicotinoide werden weiter für den Export in Drittländer produziert. Obwohl die Substanzen auf Bienen, Schmetterlinge, Vögel, Wasserlebewesen und wichtige Bodenorganismen als Nervengift wirken und sie nachweislich schwer schädigen können, werden sie über Notfallzulassungen auch in Deutschland weiter ausgebracht.

Sie ist nicht nur wegen des süßen Honigs und des duftenden Wachses populär. Wir verdanken der Honigbiene vor allem jede Menge Bestäubungsarbeit. Leider wird die Insektenart zunehmend zum Sorgenkind: Unter anderem setzt ihr die Varroamilbe zu. Nur gestochen werden möchte man nicht so gerne. Für die Biene ist das aber selbst kein Spaß. Nachdem sie zugestochen hat, stirbt sie.

iStock/Collinswood Images Sie ist nicht nur wegen des süßen Honigs und des duftenden Wachses populär. Wir verdanken der Honigbiene vor allem jede Menge Bestäubungsarbeit. Leider wird die Insektenart zunehmend zum Sorgenkind: Unter anderem setzt ihr die Varroamilbe zu. Nur gestochen werden möchte man nicht so gerne. Für die Biene ist das aber selbst kein Spaß. Nachdem sie zugestochen hat, stirbt sie.
Apfel, Tomate, Gurke: Insekten existenziell für Bestäubung von Obstpflanzen
Dabei bilden Insekten das Fundament vieler Ökosysteme und sind für die Ernährung zahlreicher größerer Arten essenziell, auch für die des Menschen. Zwei Drittel der einhundert weltweit wichtigsten Nutzpflanzen sind abhängig von ihrer Bestäubung. Ohne sie hätten wir weder Apfel noch Avocado, weder Tomate noch Gurke, weder Erdbeeren noch Kirschen. Wissenschaftler schätzen den Wert der tierischen Hilfe auf jährlich 235 bis 577 Milliarden US-Dollar.Viele andere Tier- und Pflanzenarten gehören zu Nahrungsketten und Kreisläufen, die aus dem Gleichgewicht geraten, wenn sie fehlen. Wälder speichern Kohlenstoff und Wasser, Würmer machen den Erdboden fruchtbar, andere Tiere verteilen Samen und gestalten Landschaften. Gleichzeitig aktivieren die in Symbiose mit Pflanzenwurzeln lebenden Bodenpilze und Bakterien das Erdreich und beeinflussen so wesentlich die Stoffkreisläufe und Wachstumsprozesse. „Durch ihr komplexes Netzwerk bauen Arten irdische Ökosysteme auf, von deren unentgeltlicher Leistung wir dann profitieren“, sagt Biologe Matthias Glaubrecht. Der IPBES hat kürzlich festgestellt, dass weltweit jeder fünfte Mensch unmittelbar von mehr als 50.000 wild lebenden Arten abhängig ist, um sich zu ernähren, Handel zu betreiben, Energie zu gewinnen.

Seit Jahrzehnten richtet der britische Tierfilmer und Naturschützer David Attenborough seine Appelle an die Menschheit: „Die Wahrheit ist: Die natürliche Welt verändert sich. Und wir sind völlig abhängig von dieser Welt. Sie liefert uns Nahrung, Wasser und Luft. Sie ist das Wertvollste, was wir haben, und wir müssen sie verteidigen.“

Ein Drittel der Meere überfischt

Doch für das Sterben einzelner Spezies interessieren sich in der Regel nur einige wenige Experten. Nur selten nimmt die Öffentlichkeit Anteil, wie jetzt bei der Umweltkatastrophe in der Oder. Am Stettiner Haff im deutsch-polnischen Grenzgebiet führte vermutlich eine toxisch wirkende Algenart zu dem Massensterben, mehr als 200 Tonnen Fische verendeten qualvoll. Dazu gehörten auch 20 000 junge Baltische Störe eines Wiederansiedlungsprogramms für die dort ausgestorbene Art. Nach Meinung der Experten ließen große Salzeinleitungen aus einem Klärbecken eines polnischen Bergbaukonzerns die Giftpflanze wuchern. Solche Verunreinigungen seien bei niedrigem Wasserstand und hohen Temperaturen mindestens fahrlässig.

Die Katastrophe lenkt den Blick auf ein seit Jahrzehnten oder eigentlich seit Jahrhunderten bestehendes Problem unserer Gewässer: Neben dem Bau von Staudämmen und Wehren zerstören Schadstoffe die artenreiche Fauna und Flora unserer Flüsse und am Ende die der Meere.

Die Folgen für die Ostsee erklärt Rainer Froese, Meeresökologe und Experte für Fischereiwissenschaft am Helmholtz-Zentrum GEOMAR, bei einem Hafenspaziergang an der Kieler Förde. Es ist ein sommerlicher Tag, die Leute baden im Meer. Vor einem in die Jahre gekommenen Schaukasten bewundern Besucher eine Grafik. Zu sehen ist ein Dutzend kleiner Meeresbewohner der Bucht, von Seestern und Herzmuschel bis Seeanemone.

Froese deutet auf eine grüne Masse am Meeresboden. „Schmieralgen“, sagt er. Sie gedeihen durch den Eintrag von Stickstoff und Phosphor aus Abwässern und Dünger. „Vor allem im tieferen Wasser entstehen sauerstoffarme Zonen, wo Bodenfresser wie der Dorsch keine Nahrung mehr finden“, erklärt der Biologe. Er nennt sie Hungerdorsche: „Sie sehen aus wie schwimmende Gräten.“ Unser Riesenhunger auf Meerestiere verantwortet inzwischen mehr als ein Drittel der überfischten Bestände, wie im neuen Fischereibericht der Welternährungsorganisation FAO steht. In der westlichen Ostsee sind Aal und der als Schillerlocken verkaufte Dornhai nahezu ausgestorben. Froese konstatiert: „Wenn Sie die essen, kann genauso gut gebratener Panda auf der Speisekarte stehen.“

Selbst die Bestände von Dorsch und Hering
sind gefährlich geschrumpft

Auch die Populationen von Dorsch und Hering sind derart gering, dass sie große Laichgebiete nicht mehr mit Eiern versorgen können. Dazu kommt, dass die klimabedingt höheren Temperaturen die meisten Fische dazu veranlassen, ihre Eier zu früh abzulegen, bevor die Larven genug Nahrung finden. Im wärmeren Wasser der Ostsee konkurriert auch die eingeschleppte Rippenqualle um das Plankton als Futter. Im Ergebnis gebe es nur noch einen Dorschjahrgang statt der üblichen zehn bis zwölf, und der sei von 2016.

Seit diesem Jahr haben die EU-Fischereiminister die Fangquoten zwar stark beschränkt, aber gleichzeitig Ausnahmen eingeräumt. Froese warnt vor dem Kollaps der Bestände: „Um Dorsch und Hering erhalten zu können, muss die Fischerei auf sie komplett gestoppt werden, bis sie sich mehrfach erfolgreich fortgepflanzt haben.“

Dorsch liegt in einer Kiste.

Dorsch liegt in einer Kiste.
Bestand von Deutschlands einziger Walart auf 500 Tiere geschrumpft
Deutschlands einzige Walart ist als Beifang das größte Opfer in der zentralen Ostsee. Die Population der Schweinswale zählt nur noch 500 Tiere. Ihre häufigste Todesursache sind Stellnetze. Auf der Jagd nach Beute schwimmen sie hinein, verfangen sich in den feinen Maschen und ersticken. Selbst in eigens ausgewiesenen Schutzgebieten ist der Fischfang mit Stellnetzen noch erlaubt. „Paper Parks“, sagen Umweltschützer, Schutzzonen, die nur auf dem Papier existieren.2022 könnte für den Artenschutz noch ein entscheidendes Jahr werden. Anfang Dezember soll in Kanada die mehrfach verschobene Weltbiodiversitätskonferenz in konkreten Maßnahmen und Zielen münden, um das Artensterben zu bremsen und die genetische Vielfalt zu erhalten.

Lokale Biotope, wie sie Eckhard Gottschalk bei Göttingen geschaffen hat, wären eine Lösung. In wenigen Jahren habe sich der Bestand des Rebhuhns vervielfacht. Wenn man alle zehn Kilometer so ein Biotop schaffe, könnte dies viele Arten erhalten. Gottschalk hält eine Lautsprecherbox über seinen Kopf. Der aufgezeichnete Ruf eines Rebhahns ertönt einige Male: „kirreck“. Und tatsächlich taucht ein weiterer Hahn am Himmel auf. Es ist ein ergreifender Moment. Wahrscheinlich haben wir einen solchen Vogel das letzte Mal leibhaftig gesehen.

Landwirt über Dürre-Folgen: „Auswirkungen sind brutal“

 Landwirt über Dürre-Folgen: „Auswirkungen sind brutal“
Sep 2024 | In Arbeit | Kommentieren

Was durch die AfD droht, offenbart sich meist besonders, wenn die Rechten sich unbeobachtet fühlen. So gehört in Sachsen auf kommunaler Ebene der Schulterschluss mit dem Neonazismus längst zum Alltag. Die taz konnte im Landkreis Görlitz Belege dafür sammeln, wie eng AfD-Lokalpolitiker mit Neonazis, Hooligans, völkischen Gruppen und Reichsideologen gemeinsame Sache machen. Und: Wie bei ihnen keine Hemmung besteht, offen den Nationalsozialismus zu verherrlichen.

Am 22. Juni trafen sich Rechtsextremisten zu einer Sonnenwendfeier in der Oberlausitz, im Dorf Strahwalde im Landkreis Görlitz. So wie vielerorts, wo Rechte sich aus diesem Anlass zusammenfinden, knüpfte der Ablauf des Fests an den Nationalsozialismus an: Etwa 150 Erwachsene und Kinder trafen sich zu einem Ritual mit Fackeln, Trommeln und Lagerfeuer, sangen Lieder der Hitlerjugend und ehrten einen SS-Standartenführer. Die anwesende Polizei nahm laut Zeugen die Personalien der Teilnehmer auf, schritt aber nicht ein.

Anders als in Niedersachsen standen in der Oberlausitz in Strahwalde allerdings AfD-Lokalpolitiker Seit an Seit mit den Neonazis. Mehr noch: Das Event wurde von Mandatsträgern der AfD mitgestaltet, darunter ein Gemeinderat aus Mittelherwigsdorf sowie ein Stadtrat aus Niesky.

Eigentlich wollten die Teilnehmenden unter sich bleiben. Doch die taz kann durch eigene Recherche vor Ort sowie Foto- und Videomaterial belegen: Die Feier in Strahwalde war ein NS-verherrlichendes Stelldichein der extrem rechten Szene inklusive AfD.

SS-Verehrung und Lieder der Hitlerjugend

Das Event begann bereits am frühen Nachmittag zunächst mit „Volkstänzen“, einer Laientheaterdarstellung und „Sportwettkämpfen“. So stand es auf einer Programmtafel an einem Zeltpavillon auf einer Wiese des Dorfes. Auf dem Gelände tummelten sich Männer mit weißen Leinenhemden, Cord- und Lederhosen samt Gürteln mit Koppelschlössern, Frauen mit langen Röcken und Kinder im Kita- und Grundschulalter.

Drei Jugendliche bereiten am 22. Juni 2024 in Strahwalde ein Lagerfeuer vor.

Sonnenwendfeier : Nationalsozialistische Indoktrination von Kindern- und Jugendlichen

Höhepunkt war ein Ritual am Abend, bei dem die Teilnehmenden in einem großen Kreis mit Fackeln gemeinsam einen etwa zehn Meter hohen mächtigen Holzstapel entzündeten. Begleitung auf Landknechtstrommeln, Kreistänze und Feuersprüche inklusive. Dies ist durch Foto- und Videomaterial dokumentiert, das der taz vorliegt. Geschworen wurde unter anderem auf die „deutsche Jugend“, geredet „zur Ehre des Löbauer Standartenführers Max Wünsche und all den Ritterkreuzträgern“. Die Runde antwortete jeweils mit einem „Heil Sonnenwende“.

Diese Aussagen wurden der taz von mehreren Zeugen vor Ort bestätigt, die Polizei bestätigte der taz den wiederholten Ausspruch „Heil Sonnenwende“. Der SS-Standartenführer Wünsche war Ordonnanzoffizier bei Adolf Hitler und befehligte im Zweiten Weltkrieg die 12. SS-Panzer-Division „Hitlerjugend“, in der massenhaft Hitlerjungen für den Kriegsdienst rekrutiert wurden. Mit dem Ritterkreuz wurden Soldaten während des Nationalsozialismus für „Tapferkeit vor dem Feind“ ausgezeichnet.

Nach dem Entzünden des Feuers sangen die Teilnehmenden gemeinsam das Propagandalied „Nur der Freiheit gehört unser Leben“, das der NS-Dichter Hans Baumann für die Hitlerjugend schrieb. Der Gesang ist durch Videos dokumentiert, die der taz vorliegen.

AfD-Lokalpolitiker gestalten Sonnenwendfeier mit

Erkennbar an der Vorbereitung der Zeremonie beteiligt war der Sozialpädagoge Robert Thieme, der im Juni für die AfD für den Stadtrat in Zittau kandidierte, sowie Thomas Christgen, der im Juni in den Stadtrat von Niesky gewählt wurde. Fotos, die der taz vorliegen, zeigen die beiden bei Absprachen in kleinerer Runde vor der Zeremonie. Ältere Fotos dokumentieren Christgen in einem T-Shirt der Kameradschaft „Schlesische Jungs“ und auf einer Demo hinter einem Transparent der NPD.

Neben einem Holzstapel stehen Stephan Jurisch, Robert Thieme und Thomas Christgen

Stephan Jurisch, Robert Thieme und Thomas Christgen besprechen sich vor dem Sonnenwend-Ritual in Strahwalde am 22. Juni 2024

Der AfD-Politiker Frederic Höfer, Bodybuilder und Autor im Verlag „Jungeuropa“, wirkte am Nachmittag beim Programm der Veranstaltung mit, ebenso der Militärhistoriker Peter Hild, der für die AfD in den Gemeinderat in Mittelherwigsdorf gewählt wurde. Auch in Strahwalde dabei: Markus Wertz, Aktivist der Parteinachwuchs-Organisation „Junge Alternative“, sowie Kurt Hättasch aus dem AfD-Vorstand im Landkreis Leipzig. Hättasch wurde 2024 in den Stadtrat von Grimma gewählt.

Robert Thieme wies auf Anfrage der taz die Vorwürfe zurück und drohte rechtliche Schritte an, sollte die taz „unzutreffende Behauptungen“ publizieren. Christgen, Höfer, Hild, Wertz und Hättasch antworteten nicht auf Anfrage der taz.

Vernetzung mit extrem rechten Gruppen

Welcher Vernetzung das Event diente, zeigt ein Blick auf die weiteren Teilnehmenden. Neben den AfD-Politikern war ein verurteilter Gewalttäter und Hooligan von Dynamo Dresden dabei sowie Anhänger der paramilitärischen Reichsbürger-Organisation „Vaterländischer Hilfsdienst Meißen“. Zudem anwesend: Aktivisten der völkischen „Wanderjungend Oberlausitz“, von der rechtsextremen Kameradschaft „Werra Elbflorenz“ und der Jugendgruppe „Sturmvogel“, die Kinder und Jugendliche völkisch-neofaschistisch indoktrinieren will.

Anmelder und Veranstalter der Sonnenwendfeier war Stephan Jurisch. Er ist Vorsitzender der Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland, eines rechtsextremen Vereins, der mit dem sogenannten „Trauermarsch“ in Dresden jahrelang eine der wichtigsten Neonazi-Demonstrationen Europas organisierte. Jurisch bestätigte auf Anfrage der taz, die „Privatveranstaltung“ angemeldet zu haben, wies den Vorwurf der NS-Verherrlichung zurück und drohte im Fall einer entsprechenden Berichterstattung rechtliche Schritte an.

Mit Simon Kaupert und Maximilian Schmidt waren auch zwei Video-Aktivisten auf dem Treffen zu sehen, die der Identitären Bewegung zuzuordnen sind. Schmidt begleitete den AfD-Europaabgeordneten Maximilian Krah im Dezember zu einer Trump-Gala in New York, Kaupert arbeitete für den rechtsextremen Verein „Ein Prozent“ sowie den Propagandasender Auf1. Bei der Sonnenwendfeier in Strahwalde filmten beide das Geschehen. Kaupert und Schmidt antworteten nicht auf Anfrage der taz.

Eigentlich ist die Stadt Herrnhut, zu der das Dorf Strahwalde zählt, nicht als Neonazi-Hochburg berüchtigt. In der evangelisch geprägten Stadt, die historisch für ihre internationale Missionsarbeit bekannt ist, ist man stolz auf die eigene Weltoffenheit. Doch wie in der ganzen Republik konnte die AfD auch in Herrnhut bei den jüngsten Wahlen deutliche Zugewinne erzielen. Mit 37 Prozent sammelte die rechtsextreme Partei in der Gemeinde bei der Europawahl die mit Abstand meisten Stimmen.

Demokratie-Inititative sieht Nachholbedarf

Willem Riecke, Bürgermeister von Herrnhut von der lokalen „Herrnhuter Liste“, bestätigte der taz, dass es im Vorfeld eine private Anmeldung zu einem Feuer auf privatem Grund gegeben habe. „Wir hatten keinerlei Kenntnis und auch keine Vermutung vom Charakter dieses Feuers. Insofern ist es genehmigt worden – wie andere an diesem Tag auch.“ Erst zwei Tage vor dem Event sei ein Hinweis eingegangen. Doch weder Landratsamt noch Polizei hätten eine Möglichkeit gesehen, das Feuer zu verbieten. „Die Stadt Herrnhut lehnt derartige Veranstaltungen (ob privat oder öffentlich) konsequent ab. Solche Dinge haben auf unserem Gemeindegebiet keinen Platz“, erklärte Riecke. Für die Zukunft wolle man sich im Stadtrat besprechen und auch externe Beratung in Anspruch nehmen.

Die Demokratie AG Ostsachsen, ein Netzwerk freier Träger, äußerte sich besorgt über die Entwicklung. Unter den in diesem Jahr im Landkreis Görlitz veranstalteten Sommersonnenwendfeiern hätten erneut einzelne „den offenen Anschluss an völkische und nationalsozialistische Brauchtumspflege zelebriert“, heißt es in einer Erklärung. Die Veranstaltung in Strahwalde habe dabei besonders herausgestochen. Dass die Feier direkt im Ort und im Beisein der Polizei stattgefunden habe, zeige, „dass die Ver­an­stal­te­r*in­nen sich durch ausbleibende Konsequenzen und fehlgeleitete Toleranz legitimiert sehen.“Ostwahlen 2024

Das Netzwerk beklagt „ein fehlendes Hintergrundwissen seitens der Be­am­ten zu völkisch-nationalistischer Vereinnahmung“ solcher Rituale. „Wir erwarten von der Polizei, dass sie sich mit den ideologischen Hintergründen solcher Veranstaltungen und den Gefahren, die von ihnen ausgehen, auseinandersetzt, anstatt das Problem herunterzuspielen“.

Die zuständige Polizeidirektion Görlitz erklärte, im Zusammenhang mit der Veranstaltung habe man keine strafbaren Handlungen festgestellt. „Die Sonnenwendfeier verlief grundsätzlich friedlich und ohne Störungen.“ Der Verfassungsschutz beschäftigte sich mit der Einordnung der Feier. Nach Informationen der taz wurde von Zeugen nach der Veranstaltung Anzeige wegen Volksverhetzung und wegen des Verbreitens von Propagandamitteln verfassungswidriger und terroristischer Organisationen erstattet. Die Polizei hat Ermittlungen aufgenommen.

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Aug 2024 | In Arbeit | Kommentieren

Anlässlich des Europäischen Holocaust-Gedenktags für Sinti und Roma am 2. August sagt Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, der DW, dass Auschwitz Europa zu Menschlichkeit verpflichte.

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Ein Mann in Anzug (Romani Rose) im Porträt
Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und RomaBild: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma / Jarosław Praszkiewicz

Romani Rose, Jahrgang 1946, wurde in einer Sinti-Familie geboren, die aus Schlesien stammte. Vieler seiner Familienangehörigen wurden in Auschwitz und anderen deutschen NS-Vernichtungslagern ermordet. Rose setzt sich seit den 1970er Jahren für die Rechte von Sinti und Roma und für eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen und des Völkermordes an Sinti und Roma ein. Er ist seit 1982 Vorsitzender des von ihm mitbegründeten Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Anlässlich des Europäischen Holocaust-Gedenktags für Sinti und Roma – im Jahr 2024 der 80. Jahrestag der so genannten „Auflösung des Zigeunerlagers“ Auschwitz-Birkenau, bei der in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 tausende Sinti und Roma ermordet wurden – sprach die DW mit Romani Rose.

DW: Herr Rose, das Gedenken an den Völkermord an den Roma und Sinti findet jedes Jahr am 2. August in Auschwitz statt, an einem Ort, an dem viele Ihrer Familienmitglieder ermordet wurden, unter anderem Ihre Großeltern. Es ist ein Ort, der auch dafür gemacht wurde, damit Sie persönlich gar nicht erst geboren werden. Was empfinden Sie, wenn Sie an diesem Ort sind?

Romani Rose: Ich habe natürlich das Bewusstsein, dass Auschwitz der Ort ist, an dem meine Großeltern ermordet worden sind. Aus meiner Familie sind insgesamt 13 Personen ermordet worden, nicht nur in Auschwitz, sondern auch in anderen Konzentrationslagern wie Dachau oder Bergen-Belsen. Für mich ist Auschwitz ein großer Friedhof, aber ich denke auch daran, dass Auschwitz eine Verpflichtung für heute, für unsere Zeit ist. Das sind wir dem Vermächtnis der Opfer schuldig.

Welche Verpflichtung meinen Sie konkret?

Wir haben einen neuen Nationalismus, einen neuen Rechtsextremismus, und diese Leute fordern wieder Sündenböcke. Dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen. Ich denke aber auch an Situationen, in denen Menschen ertrinken, weil ihre Boote untergehen, und wir darüber verhandeln, dass diese Menschen nicht vor unser Angesicht treten. Ich finde das schlimm. Mir ist klar, dass ein einzelner Staat das Problem nicht lösen kann. Das kann nur die europäische Gemeinschaft zusammen tun. Aber es geht um unsere Grundwerte. Sie sind das Fundament unseres Zusammenlebens. Darauf waren wir in Europa immer stolz. Wenn wir die jetzt nicht mehr verteidigen, dann steht es um die Menschlichkeit schlecht.

Eine Gruppe von Menschen geht durch ein Eingangstor (das Tor in Auschwitz)
Europäischer Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma am 2.08.2022 in Auschwitz, im Bild unter anderem Romani Rose (3.v.r)Bild: Staatskanzlei Thüringen/dpa/picture alliance

Ist der Völkermord an den Roma und Sinti heute im Bewusstsein der Mehrheit der deutschen Gesellschaft als Verbrechen so präsent, wie es der Holocaust ist?

Nein, das glaube ich nicht. Es gibt dieses Bewusstsein nicht, dass der Holocaust auch die Ermordung von 500.000 Sinti und Roma in Deutschland und im von den Nationalsozialisten besetzten Europa bedeutet. Auf der politischen Ebene ist in Deutschland viel geschehen in den vergangenen Jahrzehnten. Aber die breite Bevölkerung haben wir nicht ausreichend erreicht. Da muss mehr geschehen. Allerdings muss auch klar sein: Der Rassismus, der Antiziganismus ist nicht unser Problem, es ist das Problem der Mehrheitsgesellschaft.

Von der deutschen Politik ist der Völkermord an den Roma und Sinti jahrzehntelang geleugnet, ignoriert oder stark relativiert worden. Das hat sich erst in den vergangenen Jahren geändert. Ist das offizielle Gedenken heute würdig und respektvoll?

Wenn mir jemand vor 40 Jahren gesagt hätte, wo wir heute stehen, dann hätte ich das damals nicht für möglich gehalten. Auf der politischen Ebene in Deutschland ist viel geschehen. Deutschland gilt in Bezug auf unsere Minderheit als Vorbild. Wir sind heute eine nationale Minderheit neben den Dänen, Friesen und Sorben. Es gibt in Berlin direkt am Brandenburger Tor das Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas, und wir haben heute in Deutschland einen Antiziganismus-Beauftragten, der sich mit dem Phänomen des Antiziganismus auseinandersetzt, so, wie wir einen Antisemitismus-Beauftragten haben. Aber, wie gesagt, wir müssen noch mehr Menschen in der breiten Bevölkerung erreichen.

Ein Mann mit einem Manuskript in der Hand (Romani Rose) hinter einem Mikrofon
Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, spricht am 2.08.2022 in Auschwitz-Birkenau anlässlich des Europäischen Holocaust-Gedenktags für Sinti und RomaBild: Staatskanzlei Thüringen/dpa/picture alliance

Wie kann das geschehen?

Wir müssen die Bevölkerung darüber informieren, dass Minderheiten immer die ersten Opfer eines Wahnsinns sind, wie es die nationalsozialistische Ideologie war. Heute wissen wir, dass schließlich ganz Europa von diesem Wahnsinn betroffen war, dass Leute glaubten, sie könnten als Herrenmenschen Europa unterjochen. Das hat damals nicht funktioniert. Von 1000 Jahren waren es nur zwölf Jahre. Wir wissen heute um die Geschichte, wir wissen, wie es angefangen hat, und wir wissen, wo es endete. Es wird auch in Zukunft nicht funktionieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die beiden deutschen Staaten in Bezug auf den Völkermord an Roma und Sinti eine zweite Schuld auf sich geladen. So gut wie niemand der Täter wurde für die Vernichtung von Roma und Sinti verurteilt. Denken Sie, es sollte so etwas geben wie eine nachträgliche Aufhebung von Urteilen oder nachträgliche Schuldsprüche?

Das bringt niemanden etwas. Diese Dinge liegen lange zurück. Wichtig ist, dass es ein Bewusstsein für die Vergangenheit gibt. Zum Beispiel, wenn viele Leute sich im Kino die Filme über Auschwitz ansehen. Aber die Verantwortung besteht jetzt in der Gegenwart, und da brauchen wir unsere Justiz, da brauchen wir Gerechtigkeit. Antiziganismus ist genauso zu ächten wie Antisemitismus. Wer das eine toleriert und das andere verurteilt, ist in seiner Handlungsweise nicht glaubwürdig.

Eine Frau (Elke Büdenbender) und zwei Männer (Frank-Walter Steinmeier und Romani Rose) im Porträt
Romani Rose (re.), hier mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (Mi.) und dessen Ehefrau Elke Büdenbender, am Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas in BerlinBild: Soeren Stache/dpa/picture alliance

Denken Sie da beispielsweise an den Begriff „Sozialtourismus“, den Politiker der politischen Mitte seit einigen Jahren wieder gebrauchen und der sich ja ursprünglich gegen geflüchtete Roma aus Rumänien und Bulgarien richtete?

Ja, und genau das kennen wir aus der Geschichte. Solche Begriffe werden verwendet, um Gruppen von Menschen populistisch in den Fokus zu stellen, von denen man den wenigsten Widerstand erwartet. Dem widersprechen wir heute mit einer Mehrheit der Gesellschaft, die Demokratie und Rechtstaatlichkeit verteidigt. In der Vergangenheit waren wir diesem ekelhaften, abscheulichen Antiziganismus ausgesetzt. Das werden wir heute nicht mehr hinnehmen.

Sie sind seit fast 50 Jahren im Kampf um Bürgerrechte aktiv. Wenn Sie zurückblicken, sehen Sie dann eher die positiven Veränderungen? Oder gibt es auch etwas, wovon Sie sagen würden, darin sind wir bisher gescheitert?

Was ich aus heutiger Sicht für wichtig erachte, ist, dass wir den Antiziganismus nicht mehr akzeptieren, dass wir uns dagegen zur Wehr setzen können und dass es in der Gesellschaft und in der Politik eine Menge Leute gibt, die das gemeinsam mit uns verurteilen. Es wird sich nicht von heute auf morgen alles verändern, alles ist ein Prozess. Ich möchte betonen, dass es uns nicht darum geht, Sonderrechte für uns durchzusetzen, sondern um gleiche Rechte. Wenn wir auch nach 600 Jahren nicht das Recht haben werden, in diesem Land dazu zu gehören, zu dem wir immer auch mit unserem Patriotismus gestanden haben, denn unsere Großväter waren ja auch Soldaten im Ersten Weltkrieg für Deutschland, ja, dann wird es dieses Land nie schaffen. Dann hat das Land mit sich selbst ein Problem.

 

Aug 2024 | In Arbeit | Kommentieren

Wenn Anke Habereck ihre Hände hebt und die Augen schließt, wird es still im Raum. „Ich stelle jetzt den Kontakt zu ihrer Geisteskraft her“, sagt die selbsternannte Heilerin dann. Binnen Minuten begradigt sie so den Beckenschiefstand einer jungen Frau. Ohne Körperkontakt. Allein durch ihren Heil-Impuls, behauptet sie. Jede Woche strömen Dutzende Menschen mit verschiedenen Körperbeschwerden zu ihr nach Roth in der Nähe von Bingen. 130 Euro kostet die Erstbehandlung.

Die Bundesärztekammer spricht von „absurden“ Angeboten. Und die Landesärztekammer Rheinland-Pfalz betont, dass sich ein Beckenschiefstand „nicht innerhalb von Minuten“ beheben lasse. Doch Scharlatanerie oder Quacksalberei weisen Anne Hübner und ihr Team weit von sich. Man arbeite wissenschaftlich.

Dafür ist „Europas größtem Heilzentrum“ – so die Eigenwerbung – ein gemeinnütziger Verein angeschlossen, der die Geistheilung wissenschaftlich stützen soll. Der „Geistheiler Verein“ – geleitet von denselben Personen wie das Heilzentrum, im selben Gebäude – finanziert zum Beispiel Messgeräte, mit denen man die spirituelle Energie analysieren könne. Oder er organisiert Vorträge und Reisen. Als Grund für seine Gemeinnützigkeit gibt der Verein an, Gesundheit und Wissenschaft zu fördern

Gemeinnützigkeitsrecht lässt viel Spielraum

Für Sebastian Unger, Experte für Steuerrecht an der Ruhr-Universität Bochum, zeigt das Beispiel, wie groß der Spielraum beim Gemeinnützigkeitsrecht sein kann. Fördert ein selbsternannter Geistheiler-Verein wirklich die Gesundheit und Wissenschaft? „Da habe ich natürlich sehr diffuse Begriffe, die ich auslegen muss, bei denen ich mir überlegen muss, fällt das darunter, fällt das nicht darunter“, sagt Unger. Für die Finanzämter sei das oft gar nicht so einfach, eine Entscheidung zu treffen.

Rund 560.000 Vereine sind in Deutschland von ihren örtlichen Finanzämtern als gemeinnützig anerkannt und genießen dadurch etliche Steuervorteile: keine Körperschaftssteuer, keine Gewerbesteuer, keine Erbschafts- und Schenkungssteuer, zusätzlich Ehrenamts- und Übungsleiterpauschalen. Und Spenden an die Vereine sind steuerlich absetzbar.

Katalog mit vielen förderwürdigen Zwecken

Welche Zwecke förderwürdig sind, bestimmt die sogenannte Abgabenordung. Zum Beispiel erhalten solche Vereine Steuervorteile, die den Sport fördern, Kunst und Kultur, Wissenschaft und Forschung. Unterstützt werden zum Beispiel auch der Freifunk, der Modellflug und der Hundesport. Ein Katalog mit Dutzenden Zwecken.

Nach Meinung von Sebastian Unger zeigt der Katalog anschaulich, „dass da bestimmte Lobbyisten erfolgreicher waren als andere“. Das Ganze lasse aber „kein wirkliches politisches Konzept von gemeinnütziger Zivilgesellschaft erkennen“, kritisiert der Rechtsexperte.

Darunter leiden Vereine, die sich zwar für das Gemeinwohl einsetzen, aber laut Gesetz nicht gemeinnützig sein dürfen. Zum Beispiel viele Bürgerbus-Vereine in Deutschland. Die Bürgerbusse werden von Ehrenamtlichen gefahren und kommen dort zum Einsatz, wo es keinen ÖPNV gibt, also vor allem in ländlichen Regionen. Sie steuern meist Arztpraxen, Supermärkte oder Bankfilialen an und sind gerade für ältere Menschen eine wichtige Stütze im Alltag. Dennoch erhalten viele Bürgerbus-Vereine keine Steuervorteile.

"Demokratie - Freiheit - Vielfalt" steht auf einem Schild in den Farben schwarz, rot und gold bei einer Demonstration gegen Rechtsextremismus und die AfD in der Innenstadt von Lübeck. (Archivfoto: 04.02.2024)
Brandbrief an Kanzler Scholz: Kampf gegen Rechtsextremismus vor finanziellem Aus

Kleine Verbesserungen statt großer Reform

Das Gemeinnützigkeitsrecht, das Teil des Steuerrechts ist, wartet mit mancher Kuriosität auf: Schachvereine sind gemeinnützig, Skatvereine nicht. Schützenvereine genießen Steuervorteile, Paintball-Vereine nicht. Die Ampel-Regierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag 2021 zwar eine Modernisierung des Gemeinnützigkeitsrechts versprochen. Doch die sollte vor allem die Frage klären, wie stark sich Vereine politisch aus dem Fenster lehnen dürfen, ohne dadurch ihre Gemeinnützigkeit zu verlieren. Eine große Reform ist bisher nicht vorgesehen.

Schon bei den aktuellen Vorschriften hapert es zuweilen mit der Umsetzung. Etwa wenn es darum geht, Vereinen die Gemeinnützigkeit wieder abzuerkennen. Laut Abgabenordnung verlieren Vereine dann ihre Steuervorteile, sobald sie „dem Gedanken der Völkerverständigung“ zuwiderhandeln. Auf Anfrage stellt das Bundesfinanzministerium klar: „Werden Organisationen in einem Verfassungsschutzbericht (…) ausdrücklich als extremistisch eingestuft, dann ist die Steuerverwaltung (…) gesetzlich angehalten, den Entzug der Gemeinnützigkeit zu veranlassen“. Die Praxis aber sieht anders aus.

Als gemeinnützig anerkannt: Hetzer und Extremisten

Beispiel „Aufbruch Leverkusen“: Laut Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen ein extremistischer Verein, dessen Vorsitzender unter anderem „Narrative der russischen Regierung“ verbreite. Der Verein, der diese Einschätzung auf Anfrage bestreitet, ist gemeinnützig. Die „Baptistenkirche Zuverlässiges Wort“ aus Pforzheim wiederum hetzt in Predigten gegen queere Menschen. Der Verfassungsschutz Baden-Württemberg spricht von einer „demokratiefeindlichen Grundhaltung“, manche Predigten enthielten „antisemitische und verschwörungsideologische Elemente“. Der Trägerverein der Kirche erhält Steuervorteile. Eine Anfrage dazu ließ die Kirche unbeantwortet.

Die Liste gemeinnütziger Vereine, die von Verfassungsschutzämtern als extremistisch oder verfassungsfeindlich eingestuft werden, lässt sich verlängern: Der Verein für Dialog und Völkerverständigung in Karlsruhe, der laut Verfassungsschutz der islamistischen Muslimbruderschaft nahestehe. Oder das Hans-Litten-Archiv in Göttingen, das der linksextremen „Roten Hilfe“ angeschlossen ist und bei dem es sich um eine „extremistische Struktur“ handele, die „verfassungsfeindliche Ziele“ verfolge. Beide Vereine bestreiten, extremistisch zu sein.

Lückenhafte Prüfungen Personalmangels wegen

Die Finanzbehörden dürfen sich aufgrund des Steuergeheimnisses nicht zu konkreten Einzelfällen äußern. Im Interview mit Report Mainz spricht Florian Köbler, Bundesvorsitzender der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, die die Interessen der Finanzverwaltung vertritt, von einem „eklatanten Vollzugsproblem“. Er sagt: „Wir können nicht alle Fälle bis ins kleinste Detail prüfen. Hintergrund: zu wenig Personal.“

Er hofft auf einen besseren Informationsaustausch mit den Sicherheitsbehörden. „Die Kommunikation zwischen Verfassungsschutz und Steuerverwaltung muss besser funktionieren. Wir müssen zukünftig hier besser vernetzt werden, und der Verfassungsschutz muss uns da auch besser abdecken“, so Köbler.

Steuervorteile für Verschwörungsanhänger

Der Geistheiler-Verein aus der Nähe von Bingen ist zwar kein Fall für Verfassungsschützer. Aber in der Vergangenheit fiel der Verein durch eine pauschale Impf-Ablehnung und Verschwörungstheorien zur Corona-Pandemie auf. Im Interview mit Report Mainz wiederholt die selbsternannte Heilerin Anne Hübner, dass die Pandemie ein „Plan“ gewesen sei, zur „Reduzierung der Menschheit“. Eine Behauptung, für die es  – was Wunder – keinen Beleg gibt. Ihr Verein ist weiterhin: Gemeinnützig.

Aug 2024 | In Arbeit | Kommentieren
Immer passend gekleidet: Ob es in Strömen regnet oder die Sonne scheint, Wacken-Fans genießen Heavy Metal bei jedem Wetter

Zwar hat – was Wunder – auch das Festivalbusiness Wacken mit steigenden Künstlergagen, Inflation und Extremwetterzu kämpfen – und manches  Festivalbusiness hat das Geschäft aufgegeben und manches Open Air Geschäft gibt auf. Natürlich hat auch Wacken hat – auch – Wacken zu kämpfen, doch drei Erfolgsfaktoren könnten die Heavy Metler dann doch noch in die Zukunft führen.

Ohrenbetäubende Musik, zigtausend headbangende Fans und viel Matsch an den Schuhen: Das erlebt man gewöhnlich bei einem Besuch des größten Heavy-Metal-Festivals der Welt, dem Wacken Open Air (kurz WOA) in Schleswig-Holstein, das am Mittwoch wieder startet. Und wenn man mal mittendrin im Getümmel steckt, hat man hoffentlich erfolgreich verdrängt, wie teuer das Ticket war. 333 Euro.

Die Festivalpreise steigen rasant, denn die Branche hat zu kämpfen:

Künstler, Energie, Sicherheit, alles kostet mehr Geld, dazu kommt Extremwetter als Folge des Klimawandels. An den wirtschaftlichen Turbulenzen gehen manche zugrunde. So verkündeten zuletzt Veranstalter namhafter Festivals wie die des Melt in Sachsen-Anhalt oder die des HipHop Open in Stuttgart, dass die Events in Zukunft nicht mehr stattfinden können – und das, obwohl sie im Vorjahr noch 20.000 beziehungsweise 25.000 Besucher angelockt hatten.

Wacken spielt im Vergleich dazu
mit 85.000 verkauften Tickets in einer anderen Liga

Doch auch das Metalfest bekommt die Herausforderungen zu spüren. Wegen der extremen Regenfälle mussten die Organisatoren im vergangenen Jahr die Besucherzahl begrenzen. Gleichzeitig kommt Druck von einer zweiten Seite: Erst im Juni hat mit der US-Investmentgesellschaft KKR ein neuer Besitzer den für das WOA verantwortlichen Festivalveranstalter Superstruct Entertainment aus Großbritannien übernommen – ein Finanzinvestor, der klare Renditeerwartungen mitbringt. Eine schwierige Gemengelage, und doch gibt es Grund zur Annahme, dass sich Wacken erfolgreich in die Zukunft schlagen wird.

Festivalkosten stiegen seit Corona um 45 Prozent

Wie auch viele andere Großveranstaltungen hatte das WOA durch die Coronapandemie einen heftigen Rückschlag erlitten. 2020 und 2021 fiel das Festival komplett aus. 2022 ging es weiter und zigtausende Musikfans konnten im Sommer wieder in die kleine Gemeinde Wacken (knapp 2100 Einwohner) in Schleswig-Holstein reisen, um dort Bands wie Lordi, Slipknot oder Judas Priest zu lauschen. Allerdings nahm da die Kostenexplosion ihren Anfang. Die Inflationsrate in Deutschland lag 2022 bei 6,9 Prozent, 2023 folgte noch einmal ein Plus von 5,9 Prozent.

Die Verantwortlichen des abgesagten HipHop Open nannten in einem Instagram-Post noch mehr Gründe für ihr Aus: „Das veränderte Kaufverhalten, konstant steigende Preise für Infrastruktur und Gagen, kleinere Sponsorentöpfe, wenig Förderung und viele andere Faktoren zwingen uns dazu, realistisch zu sein und unser Herzensprojekt final zu beenden.“

Schneller, härter, lauter: Die Faster-Stage ist eine der zwei Wacken-Hauptbühnen, insgesamt gibt es acht Bühnen auf dem Festivalgelände
Schneller, härter, lauter: Die Faster-Stage ist eine der zwei Wacken-Hauptbühnen, insgesamt gibt es acht Bühnen auf dem Festivalgelände

Das bestätigt auch der Branchenexperte Jens Michow (73) im Gespräch mit dem manager magazin, der ehemalige Präsident des Bundesverbandes der Konzert- und Veranstaltungswirtschaft hat selbst lange Konzerte veranstaltet. „Überall steigen gerade die Kosten“, sagt er. „Doch bei den Produktions- und Durchführungskosten in der Konzertbranche ist es extrem.“

„Der Künstler bestimmt den wesentlich Teil der Kosten“

Ein Grund sind laut Michow die Künstlerhonorare. Früher hätten Musiker ihre Liveauftritte eher als Nebengeschäft angesehen, um Werbung für den Verkauf ihrer CDs zu machen. Ab Mitte der 90er-Jahre rückte das Livegeschäft in den Vordergrund. „Das hat sich komplett gedreht.“ Eine Folge: Die Artists investieren mehr Geld in ihre Konzerte und Festivalauftritte und fordern entsprechend höhere Gagen. „Veranstalter sind immer mehr zum Dienstleister geworden, der Künstler bestimmt den wesentlichen Teil der Kosten“, sagt der Branchenexperte.

In der Folge schnellen die Ticketpreise in die Höhe. Für eine Eintrittskarte für das WOA bezahlte man im Vor-Corona-Jahr 2019 220 Euro, in diesem Jahr kostet ein Ticket 333 Euro. Bei 85.000 verkauften Karten bedeutet das Ticketeinnahmen in Höhe von 28,3 Millionen Euro. Historische Anekdote: Als das Wacken-Festival im Jahr 1990 zum allerersten Mal seine Pforten öffnete, mussten die 800 angereisten Besucher gerade einmal 12 D-Mark Eintritt bezahl.

Mit den steigenden Kosten steigt auch das finanzielle Risiko für die Festivalveranstalter. Wacken kann sich hier allerdings über einen großen Vorteil gegenüber kleineren Festivals freuen: Es ist so populär, dass die Tickets jedes Jahr innerhalb weniger Stunden vergriffen sind. „Wenn eine Veranstaltung regelmäßig und fast unabhängig vom Programm ausverkauft ist, dann kann man natürlich weitaus sicherer kalkulieren“, sagt Experte und Rechtsanwalt Michow.

Einige unkalkulierbare Risiken bleiben aber,
zum Beispiel das Wetter.

Zu viel Regen und Matsch: 2023 suchten schwere Unwetter das Festivalgelände heim, für Tausende Fans fiel Wacken deshalb ins Wasser – oder eher in den Schlamm
Zu viel Regen und Matsch: 2023 suchten schwere Unwetter das Festivalgelände heim, für Tausende Fans fiel Wacken deshalb ins Wasser – oder eher in den Schlamm
Wird der neue Finanzinvestor KKR Einfluss auf Wacken nehmen wollen?Verantwortlich für die Ausrichtung von Wacken war ursprünglich die International Concert Service GmbH (ICS), deren Geschäftsführer die WOA-Gründer Thomas Jensen (58) und Holger Hübner (58) sind. Im Jahr 2019 schloss ICS dann einen Partnerschafts- und Investitionsvertrag mit dem britischen Festivalveranstalter Superstruct Entertainment ab. Der wiederum gehört seit Neuestem den US-amerikanischen Investoren von KKR, die laut „Financial Times“ rund 1,3 Milliarden Euro für die Übernahme zahlten.

Die KKR-Konkurrenz – wie Blackstone, CVC und EQT – soll ebenfalls Interesse an dem Festivalveranstalter aus Großbritannien gehabt haben. Superstruct wurde erst 2017 gegründet und wuchs seitdem rasant. Mittlerweile verfügt das Unternehmen über ein Portfolio von mehr als 80 Festivals, zu denen jährlich insgesamt sieben Millionen Besucher kommen. Dazu zählen auch das Parookaville im nordrhein-westfälischen Weeze (2024 knapp 80.000 Besucher) und das Sziget-Festival in Ungarn (400.000 Besucher erwartet). Zuletzt erwirtschaftete Superstruct einen operativen Gewinn (Ebitda) von mehr als 100 Millionen Pfund (knapp 120 Millionen Euro). KKR wollte sich auf Anfrage des manager magazins nicht dazu äußern, welche Pläne und Ziele es mit Superstruct verfolgt.

Aug 2024 | In Arbeit | Kommentieren

Der Suezkanal verringert den Seeweg von Europa nach Indien um rund 7000 Kilometer. Die Wasserstraße wurde vor 155 Jahren eingeweiht – und ist bis heute bedeutsam für den Welthandel.

Es ist eine Weltpremiere. Ein Meisterwerk der Ingenieurkunst. Noch nie sind zwei Ozeane miteinander verbunden worden. Daher versammelt sich im November 1869 die politische Prominenz Europas im Norden Ägyptens. Die Gattin des französischen Kaisers Napoleon, Eugénie, darf als erster Mensch überhaupt den Suezkanal passieren. Der kaiserlichen Yacht folgen 80 weitere Schiffe.

Die neue Wasserstraße zwischen Mittelmeer und Rotem Meer revolutioniert den Welthandel. 30.000 Menschen feiern mit dem Suezkanal ihren Fortschrittsglauben, umsorgt von 500 Köchen und 1000 Bediensteten. Es gibt Gottesdienste, Segnungen, ein Feuerwerk und Verdis Rigoletto. Der Suezkanal ist stolze 162 Kilometer lang. Und die Fahrt von einem Ende zum anderen dauert 16 Stunden.

Zehn Jahre Bauzeit sind dem mehrtägigen Eröffnungsspektakel vorangegangen. 1,5 Millionen Menschen, vor allem zwangsrekrutierte Ägypter, haben dafür geschuftet – haben zunächst mit Schaufeln eine tiefe Rinne in den Wüstensand gegraben, dann Wasser einlaufen lassen und erst danach mit Baggerschiffen die Straße befestigt.

Schon in der Antike träumte man davon, Schiffen die Fahrt ums Kap der Guten Hoffnung zu ersparen und Handelsrouten abzukürzen. Doch erst Anfang des 19. Jahrhunderts gibt es die technischen Möglichkeiten dazu. Bereits Napoleon reist nach Ägypten. Er hofft, mit dem Bau eines Kanals Britisch-Indien angreifen zu können. Weil Messungen aber einen Höhenunterschied von fast zehn Metern zwischen beiden Meeresspiegeln ergeben, lässt er den Plan fallen.

Dann befasst sich unter anderem der Ingenieur Alois Negrelli aus Österreich mit dem Thema. Er erkennt, dass die Messungen im Auftrag Napoleons fehlerhaft sind und ein Suezkanal sehr wohl realisierbar ist – stirbt aber ein halbes Jahr vor Beginn der Umsetzung. Der französische Diplomat Ferdinand Lesseps erhält die Konzession für den geplanten Kanalbau, wird Präsident der Kanalgesellschaft mit Sitz in Alexandria und Hauptverwaltung in Paris.

Ende 1875 erwirbt Großbritannien den Aktienanteil der schwer verschuldeten Ägypter – was weitreichende Auswirkungen auf die Geschichte in der Region haben wird, wie ein Sprung ins Jahr 1956 zeigt: Damals will Präsident Gamal Abdel Nasser das formal souveräne Ägypten endgültig dem Einfluss der Briten entziehen – und verstaatlicht die Kanalgesellschaft. Sein Vorgehen löst die Suezkrise aus: Großbritannien, Frankreich und Israel greifen Ägypten an. Den Rückzug der Truppen kann nur eine ungewöhnliche Allianz von USA und Sowjetunion erzwingen.

Auch heute ist der Suezkanal immer noch ein bedeutender (und gelegentlich umkämpfter) Ort für die Welt und ihre Wirtschaft. 2021 stellt sich das Frachtschiff Ever Given quer – und blockiert mit der Wasserstraße die globalen Warenströme. 2024 entscheiden einige Großreedereien, den Suezkanal zu meiden und den langen Umweg über Afrika in Kauf zu nehmen, weil islamistische Huthi-Rebellen mit Israel in Verbindung stehende Schiffe im Roten Meer angreifen.

Jul 2024 | In Arbeit | Kommentieren
Russland verfügt über riesige Bestände aus Sowjetzeiten - die sich aber bereits deutlich reduziert haben.

Russland verfügt über riesige Bestände aus Sowjetzeiten – die sich aber bereits deutlich reduziert haben.

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Jul 2024 | In Arbeit | Kommentieren

Wenn Alain Altinoglu und das hr-Sinfonieorchester zur majestätischen Orchesterfanfare von Antonín Dvořáks Violinkonzert ansetzen und Solist Christian Tetzlaff auf diesen ikonischen Moment reagiert, dann ist in der Basilika des Kloster Eberbach das Rheingau Musikfestival 2024 eröffnet. 3sat überträgt das Konzert am 6. Juli zu bester Sendezeit.

Viel tschechische Romantik und Heimatverbundenheit

Der romanische Bau mit seinen 1.400 Plätzen bietet eine klanglich ansprechende wie bedeutungsvolle Kulisse für das dramatische, mit romantischer Erzähltechnik ausgestattete Violinkonzert Dvořák. Der meistergespielte tschechische Komponist ist dieses Jahr gleichzeitig auch Fokus-Komponist des gesamten Festivals. Darüber hinaus steht ein weiterer Zeitgenosse und Landsmann Dvořáks auf dem Programm: Bedřich Smetana, dessen Geburtstag sich 2024 zum 200. Mal jährt, ist mit vier Episoden aus seinem Zyklus „Má vlast“ („Mein Vaterland“) vertreten, zu denen auch das bekannte Meisterwerk „Die Moldau“ gehört.

Jul 2024 | In Arbeit | Kommentieren
  1. Das Rheingau Musik Festival die These widerlegt, ein Teil des gewohnten Publikums komme nach Corona nie wieder? Das haben wir widerlegt. Gerade erst hat mir der ehemalige Kultusminister Alexander Lorz bestätigt: Die Corona-Zeit ist überwunden.

  2. Das Rheingau Musik Festival wurde 1987 gegründet und zählt heute zu den größten Klassikfestivals in Europa. Das Programm reicht von Klassik über Jazz bis hin zu Weltmusik.

  3. Rheingau Musik Festival 2024. Auf einen erlebnisreichen „Sommer voller Musik“ darf man sich im Rahmen des Rheingau Musik Festivals bis zum 7. September freuen. 155 Konzerte an 24 Spielstätten in Wiesbaden und dem Rheingau und der benachbarten Region warten auf Musikbegeisterte.

  4. Der große Erfolg, den das Festival bereits in den ersten Jahren verzeichnen konnte, führte zu einer raschen Ausweitung – aus 19 Konzerten wurden 50, 100 und mehr. Heute stehen jeden Sommer nahezu 150 Konzerte an über 40 Spielorten auf dem Programm des Rheingau Musik Festivals.

  5. Juni bis 07. September 2024. Das Rheingau Musik Festival zählt zu den größten Musikfestivals Europas und veranstaltet jedes Jahr zwischen Juni und September über 170 Konzerte in der gesamten Region von Frankfurt am Main über Wiesbaden bis zum Mittelrheintal. Einmalige Kulturdenkmäler wie Kloster Eberbach, Schloss Johannisberg, Schloss …

  1. www.hundredrooms.de/Ferienwohnungen/Rheingau· Deal
Jul 2024 | In Arbeit | Kommentieren
Christian Lindner, Bundeswirtschaftsminister, während einer Kabinettssitzung.

Spricht sich gegen die Wiedererhebung der Vermögenssteuer aus: Christian Lindner (FDP)

 

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Jul 2024 | In Arbeit | Kommentieren

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