Am vergangenen Donnerstag meldete die Polizei im Kreis Unna, dass ein Achtjähriger an seiner Grundschule in der Stadt Selm unter unklaren Umständen leicht verletzt wurde. Daraus wäre vermutlich keine überregionale Nachricht geworden, wenn die „Bild“-Zeitung all die Fragezeichen, die die Meldung enthielt, nicht zuvor schon mit einem Ausrufezeichen und einer Schlagzeile beantwortet hätte. Von einem „Großalarm an der Overbergschule in Selm (NRW)!“ berichtete sie und behauptete, dass „ein Mann, möglicherweise ein Obdachloser, mit einem Messer auf ein Kind (8) losgegangen“ sei. „Nach der ersten Attacke soll der Mann das Buttermesser in Richtung eines anderen Kindes geschleudert haben. Dann soll der Verdächtige geflüchtet sein. Die Fahndung läuft. Das Messer wurde gefunden und von der Polizei sichergestellt.“

Von dem „möglicherweise“ und den „soll es“ im Artikel blieb in der Schlagzeile nichts übrig:

 

 

Obdachloser sticht auf Grundschüler ein Täter derzeit flüchtig ++ Fahndung nach dem Verdächtigen läuft
Screenshots: Bild.de

Später fügte „Bild“ immerhin ein Fragezeichen hinzu:

Großeinsatz an Grundschule! Kind mit Messer angegriffen?

„Bild“ hatte die Meldung nun um den Satz ergänzt, dass es „Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussagen des Kindes geben soll“.

Die Zweifel sollten sich, um das vorwegzunehmen, bewahrheiten. Am Freitagvormittag meldete die Polizei:

„Die weiteren Ermittlungen haben ergeben, dass die leichte Verletzung des Kindes nicht durch Dritte verursacht wurde. Es hatte sich beim Spielen an einem Baum verletzt und anschließend in kindlicher Fantasie den vermeintlichen Angreifer ins Spiel gebracht.“

Davon erfuhren „Bild“-Leser aber zunächst nichts. Erst nach einer Anfrage von Übermedien ergänzte „Bild“ die Meldung um einen „Transparenz-Hinweis“, in dem die Redaktion behauptet, den Artikel „im Laufe des Tages und entsprechend den Ermittlungen der Polizei immer wieder aktualisiert“ zu haben. Weiter schrieb sie:

„Anfänglich war es auch Gegenstand der Ermittlungen, inwieweit eine ‚unbekannte, männliche Person‘ mit dem Sachverhalt in Zusammenhang stehen könnte. Erste Informationen, nach denen im Zusammenhang mit der Tat nach einem Obdachlosen gesucht wurde, hat die Polizei nicht bestätigt.“

Unsere Frage, wie „Bild“ auf die Sache mit dem Obdachlosen kam, hat „Bild“ nicht beantwortet. Aber wenigstens ist klar, wie andere Medien darauf kamen, die sie weiterverbreiteten: aus „Bild“.

Zweifel ohne Konsequenz

Die Nachrichtenseite „Tag24“, die seit kurzem zur Madsack Mediengruppe gehört, meldete:

BRUTALE ATTACKE AN GRUNDSCHULE: OBDACHLOSER GEHT MIT MESSER AUF KIND LOS!
Screenshots: Tag24

Und fragte im ersten Satz gleich sensationslüstern:

„Nächste Messerattacke in Nordrhein-Westfalen?“

Später änderte die Redaktion die Überschrift zu:

VORFALL AN GRUNDSCHULE: GING EIN OBDACHLOSER MIT EINEM MESSER AUF KIND LOS?

Auch „T-Online“ erzählte unter Berufung auf „Bild“ die Geschichte von dem Obdachlosen, der „den Jungen mit dem Messer geschnitten“ und danach „das Messer auf weitere Kinder geworfen“ haben soll. „Focus Online“ übernahm sie ebenso, und der „Berliner Kurier“ ließ sich von den im Artikel durchaus erwähnten Zweifeln der Polizei, ob überhaupt ein Mann vor Ort gewesen sei, nicht davon abhalten zu titeln:

 Mann sticht mit Messer auf Grundschüler (8) ein Messerangriff an einer Schule in Selm (Nordrhein-Westfalen): Ein Obdachloser soll hier einen Schüler (8) mit einem Messer verletzt haben.
Screenshot: „Berliner Kurier“

RTL brachte die Geschichte hingegen ergänzt um den Hinweis, dass die Polizei die Obdachlosen-Geschichte von „Bild“ auf RTL-Anfrage nicht bestätige: „‚Wir wissen gar nicht, ob es einen Täter gibt‘, erklärt die Sprecherin.“

Das Funke-Portal „Der Westen“ veröffentlichte seinen Artikel („Selm: Unbekannter soll auf Kind eingestochen haben – Einsatz an Schule“) auch auf Facebook, dort anmoderiert mit den Worten: „Grausam und schrecklich!“ Manche Kommentatoren dort glaubten beim vermeintlichen Thema „Messergewalt“ gleich zu wissen, was für ein Täter dahinter stecken muss. Jemand schrieb: „Dachte immer das die Flüchtlinge (Einreisende),ihre Unterkünfte haben“; jemand anders kommentierte: „..tja das sind die armen Obdachlosen aus dem Ostblock..“.

Eine Seite, die sich auf Blaulicht-Meldungen spezialisiert hat (und von Google als Nachrichtenquelle geführt wird), schmückte die Geschichte weiter aus und schrieb:

„Dieser schockierende Vorfall wirft erneut Fragen zur Sicherheit an Schulen auf. Eltern und Lehrer sind in großer Sorge um die Sicherheit der Kinder. Die Schulbehörden arbeiten eng mit der Polizei zusammen, um die Sicherheitsvorkehrungen zu überprüfen und zu verbessern.

Für betroffene Kinder und Eltern steht ein Team von Psychologen bereit. Es ist wichtig, dass alle Beteiligten jetzt Unterstützung erhalten, um das Erlebte zu verarbeiten.“

Das mit dem Schock ist offensichtlich nicht ganz falsch: Der Polizeieinsatz an der Schule habe unter den Eltern „helle Aufregung ausgelöst“, berichteten die „Ruhr Nachrichten“. Die Schule selbst veröffentlichte am Donnerstag die erste Pressemitteilung der Polizei auf Instagram und auf ihrer Homepage und forderte die Eltern und Erziehungsberechtigten auf: „Bitte beruhigen Sie sich!“

Verunsicherung und Hetzjagd

Die Polizei schrieb in ihrer zweiten Pressemitteilung am Freitag, in der sie klarstellte, dass es keinerlei Angriff auf das Kind gab:

„In den sozialen Medien wurde das Thema (Obdachloser verletzt Grundschüler mit Messer) recht schnell aufgegriffen und ‚ausgebaut‘, so dass auch Medien aufmerksam wurden und es teils ohne Bestätigung durch die Polizei veröffentlichten.“

Ohne Bestätigung durch die Polizei? Aber „Bild“ hatte doch geschrieben:

„In der 27 000-Einwohner-Stadt im Kreis Unna soll ein Mann, möglicherweise ein Obdachloser, mit einem Messer auf ein Kind (8) losgegangen sein. Der Junge soll eine Schnittverletzung erlitten haben.

Die Polizei bestätigte den Vorfall.“

Beim flüchtigen Lesen könnte man denken, dass die Polizei den Angriff durch einen möglicherweise Obdachlosen bestätigte. Tatsächlich hatte die Polizei offenbar nur bestätigt, dass da etwas vorgefallen ist.

Die Polizei mahnte am Freitag weiter:

„Eine Verbreitung von nicht belegten Hintergründen in sozialen Medien dient nicht der Information der Bevölkerung, sondern führt zur Verunsicherung und zur Hetzjagd auf imaginäre Tatverdächtige und das Umfeld Beteiligter.“

Das stimmt, gilt für „Bild“ und all die Medien, die von ihr abschreiben, sicher in ganz besonderem Maße. Auf unsere Anfrage, ob sich die Polizei erklären kann, wie das Gerücht von dem verdächtigen Obdachlosen überhaupt in die Welt kam, teilte sie uns mit: „Das ist uns nicht abschließend bekannt. Mutmaßungen würden hier auch nicht weiterhelfen.“

 

 

 

Jun 2024 | Allgemein, Essay, Feuilleton, In vino veritas | Kommentieren