Ich war ein schüchternes Kind und las zu viel. Eine Weile ging das gut. Doch dann, im Alter von acht oder neun Jahren, stiess ich auf etwas Unheimliches.Ich wusste mehr als fast alle berühmten Köpfe der Vergangenheit. Etwa, dass Krankheiten durch winzige Lebewesen übertragen werden, dass man aus Atomen Bomben bauen kann oder was für Dinosaurier es gab.
Dazu kam, dass die bedeutenden Leute von früher oft entschieden albern aussahen – etwa die französischen Könige in Strumpfhosen.
Aber das waren nur Nebensachen. Was mich als Kind an vergangenen Generationen schockierte, war ihre Blindheit. Sie übersahen offensichtliche Dinge – oft über Jahrhunderte. Wie konnten sie so hartnäckig dumm bleiben?
In einem Jugendbuch stiess ich etwa auf die Geschichte des Arztes, der mehr Menschen umbrachte als irgendein Kollege nach ihm.
Sein Name war Galen. Er war in Griechenland geboren, in Pergamon, der Stadt des Tempels des Äskulap, Gott der Heilkunde. Er studierte Medizin und Philosophie, erst zu Hause, dann in Alexandria und im gesamten Mittelmeerraum. Seine chirurgische Praxis holte er sich als leitender Wundarzt bei einem Veranstalter von Gladiatorenkämpfen. Dann, als er alles gelernt hatte, was irgendwo zu lernen war, reiste er nach Rom.
Rom war damals, 150 Jahre nach Christi Geburt, auf dem Höhepunkt seiner Macht. Die Stadt wimmelte von Talenten – der Name der damaligen Währung. Niemand hatte auf einen weiteren Immigranten gewartet. Aber Galen machte eine steile Karriere. Er brachte es zum Leibarzt des Imperators Marc Aurel.
Der Kaiser schätzte ihn nicht nur wegen seiner medizinischen Kunst, sondern auch wegen seiner enzyklopädischen Bildung. Ohne Zweifel war Galen einer der brillantesten Köpfe seiner Zeit.
Und vielleicht der einflussreichste. Er verfasste zahllose Schriften zur Heilkunde – bis heute sind mehr als 200 davon überliefert. Schon zu Lebzeiten veränderte er die medizinische Praxis: Er setzte den Aderlass als Kur durch und war überzeugter Vertreter der Vier-Säfte-Lehre.
Aber noch einflussreicher waren seine Studien über die menschliche Anatomie. Galen war der Erste, der systematisch den menschlichen Körper kartografierte.
Das Problem dabei war, dass er für 1500 Jahre auch der Letzte war, der das tat.
Denn Galens Schriften galten eineinhalb Jahrtausende lang als das einzig verbindliche medizinische Lehrbuch. Im Mittelalter hatten seine Lehren den Segen der Kirche: Wer Zweifel äusserte, wurde als Ketzer verfolgt.
Und als die Kirche ihre Macht nach und nach verlor, übernahmen die Ärzte selbst die Inquisition – und ächteten Zweifel und Zweifler. Noch im 19. Jahrhundert lehrte man an den medizinischen Fakultäten Galens Vier-Säfte-Lehre.
Das Verhängnisvolle dabei war: Galen hatte so gut wie nie einen Menschen obduziert. Seine Studien beruhten auf der Obduktion von Affen, Schweinen und Hunden.
Kein Wunder, lag er mit dem Grossteil seiner Annahmen falsch.
So vermutete er etwa, das Gehirn sei ein kühlender Schleimklumpen für das Blut, er empfahl bei hartnäckigem Husten die Amputation des Gaumenzäpfchens, das Abdecken von Operationswunden mit Taubenblut oder dass bei Kopfschmerz in den Schädel gebohrte Löcher Erleichterung brächten.
Generationen von Ärzten folgten seinem Rat. Die Patientinnen starben zwar wie die Fliegen, aber Galens Autorität überlebte.
Das nicht zuletzt, weil die Kirche den menschlichen Leib als Abbild Gottes sah und folglich das strikte Verbot erliess, Leichen zu obduzieren. Angehende Chirurgen studierten die Lage der Organe deshalb wie einst Galen: an Schweinen und Hunden. Nur der Papst persönlich konnte verdienten Ärzten die Erlaubnis erteilen, die Leiche eines Verbrechers vom Galgenhügel aufzuschneiden.
Das geschah nicht oft. Aber immer mit dem gleichen Ergebnis: Fast alle Organe lagen woanders, als Galen es beschrieben hatte. Aber diese Unstimmigkeiten besorgten niemanden. Das, weil die Leiche ja die eines Verbrechers war. Kein Wunder, lagen auch die Organe am falschen Ort.
So kam es, dass Galen, einer der hellsten, neugierigsten, mitfühlendsten Köpfe seiner Zeit, 1500 Jahre Leid, Tod und Stumpfsinn über die Welt brachte.
Sobald man den Blick dafür hatte, fand man ähnliche Geschichten überall. Teils waren sie albern, teils grausam. Meistens beides.
Etwa die Wasserprobe. Sie war dreitausend Jahre lang in völlig verschiedenen Kulturen die gängige Untersuchungsmethode bei der Anklage wegen Zauberei. Die angeklagte Person wurde gefesselt und ins Wasser geworfen. Schwamm sie oben, galt sie als der Hexerei überführt und wurde hingerichtet. Ertrank sie, war sie unschuldig.
Man musste nicht einmal der hellste Junge in der Primarschule Bassersdorf sein, um den bösartigen Unsinn dabei zu sehen.
Die Erkenntnis, bereits als Kind klüger zu sein als beinah alle vor mir geborenen Menschen, fühlte sich einen Moment grossartig an, schnell aber unheimlich.
Das, weil nichts sonst dafür sprach, dass ich klüger sein konnte als die Menschheit davor. Eher im Gegenteil: Ich konnte mir ziemlich sicher sein, dass sie etwa das korrekte Schnürsenkelbinden beherrschte. Oder dass die Menschheit nie den Turnsack drei Mal in Folge vergessen würde.
Ihre Blindheit war offensichtlich nicht eine persönliche, sondern die Blindheit ihrer Zeit.
Was wiederum hiess: Auch in der jetzigen Welt mussten enorme blinde Flecken existieren. Flecken, die niemand sah, nicht meine Lehrer, nicht meine Eltern, nicht einmal die glatzköpfigen Herren im Fernsehen. Und es musste irgendetwas völlig Offensichtliches sein. Etwas, wodurch wir vor den Achtjährigen in hundert Jahren im besten Fall als Dummköpfe dastehen würden. Oder im schlimmsten Fall als Verbrecher.
Damals mit acht, neun Jahren dachte ich zum ersten Mal darüber nach: Was zum Teufel übersahen alle?
Fünfzig Jahre lang dachte ich von Zeit zu Zeit darüber nach – erst in Kinderzimmern, dann in Bars, Büros und schliesslich wieder in Kinderzimmern: Was zum Teufel übersahen alle?
Es fühlte sich zugegeben clever an, über diese Frage nachzudenken: Du gegen die Menschheit. Aber auch sehr unclever. Denn ein halbes Jahrhundert entdeckte ich nichts Wirkliches. Zwar herrschte auf der öffentlichen Bühne nie ein Mangel an Dummköpfen und Absurditäten: kalte Krieger, rationale Ökonominnen, Schweizer Banker, skeptische Bürgerinnen.
Und auch im eigenen Leben nicht. Meine Lehrer weigerten sich bis zum letzten Tag meiner Schulzeit, von mir zu lernen. Und später im Beruf begriffen verblüffend viele massgebliche Leute nicht, was ihr Beruf war.
Und es gab genügend Morgen, wo ich im Spiegel die Gelegenheit hatte, den grössten Esel von allen zu rasieren. Oder eine weit weniger niedliche Kreatur. Es ist erstaunlich, wie wenig man über die Liebe und die Menschen weiss. Und dass man seine schlimmsten Grausamkeiten nicht aus Grausamkeit begeht, sondern aus Gedankenlosigkeit. Und viel öfter durch Unterlassung als durch Taten.
Doch im Grossen blieb meine Suche nach dem blinden Fleck erfolglos – was ich entdeckte, war nicht verheerend genug, um zu zählen. Nicht zuletzt, weil die Generation meiner Grosseltern die Latte sehr hoch gelegt hatte. Wie zum Teufel hatten sie die Nazis nicht kommen sehen?
Hier nur eine der endlosen Geschichten meiner Grossmutter über Schlesien. «Als der Krieg ausbrach, ist dein Grossvater noch lachend mit den Berger-Brüdern im Stechschritt marschiert – und acht Wochen später kam der Einberufungsbefehl …», sagte sie und endete mit einem Seufzer, der um Mitgefühl bat.
Aber ich teilte die Kälte, die ich im Blick meines Vaters sah.
Mein Grossvater wuchs in Breslau auf, als ältester Sohn des Häuptlings eines aufstrebenden Klans. Mein Urgrossvater hatte Ingenieur studiert und sicherte sich sehr früh ein Monopol in der Branche, die zur lukrativsten des 20. Jahrhunderts werden sollte – er war Alleinvertreter von Standard Oil für den Osten des Deutschen Reiches. In seiner Freizeit war er Dichter, Lautenspieler und Jagdgenosse des letzten sächsischen Königs.
Seine Familie wohnte in einer geräumigen Villa am Fluss, die entfernteren Verwandten in kleineren Villen daneben. Mein Urgrossvater, so erzählt man, war der erste Mensch in ganz Schlesien, der ein Auto besass. Und mein damals noch junger Grossvater war der erste, der eines chauffierte.
Viele Jahre später, als mein Grossvater aus dem russischen Gefangenenlager zurückkam, lebten die Überlebenden der Familie noch immer eng beieinander, nur dieses Mal in kirchlichen Armenwohnungen in Bielefeld. Die Rückkehr meines Grossvaters brachte die Hoffnung zurück: Jetzt würde wieder alles wie früher werden. Meine Grossmutter investierte das letzte Geld der Familie in zwei goldene Manschettenknöpfe.
Mein Grossvater lag ein Jahr lang auf dem Sofa. Dann begann er als Steuerbeamter der untersten Stufe – und blieb den Rest seines Lebens Sachbearbeiter im Steueramt. Wenn man die Wohnung meiner Grosseltern besuchte, roch sie wie ein Antiquariat: kein Quadratzentimeter ohne Fotos, Deckchen oder Porzellanengel.
Mein Grossvater sprach über Fussball, meine Grossmutter über Krankheiten – sonst war das einzige Thema bei den endlosen Kaffees Schlesien: wie schön es war; was man gelacht hatte; wie schrecklich der Krieg war, wie furchtbar die Flucht.
Von diesen beiden sprach man wie von einem Naturereignis. Meine Grossmutter erzählte nie, was auf der Flucht passiert war, mein Grossvater nie, was er an der Ostfront getan hatte oder was im Gefangenenlager geschehen war. Auch meine Grosseltern wechselten darüber ihre Ehe lang nie ein Wort.
Mein Grossvater starb kurz nach der Pensionierung, an Krebs. Später erzählte man mir, er habe seit seiner Rückkehr jede Nacht im Schlaf geschrien. Ich war völlig überrascht, als ich vor ein paar Wochen einer Freundin von ihm erzählte und sie sagte: «Der arme, arme Mann!»
Es war ein Gedanke, der mir nie gekommen war. Sicher, mein Grossvater hatte ein tückisches Los gehabt. Nichts in seinem dahinplätschernden Leben hatte ihn auf die Scheusslichkeiten vorbereitet, die kommen würden. Und nach allem, was ich weiss, war er kein aktiver Nazi – allerdings noch weniger das Gegenteil. Noch Jahrzehnte nach dem Krieg lobte er Hitler – wegen des Baus der Autobahnen.
Er war wahrscheinlich kein sehr heller Kopf: Für die wichtigsten Dinge in seinem Leben – Krieg und Abstieg – fand er nie eine Erklärung. Sie trafen ihn wie ein Verhängnis.
Und das war auch der Grund, warum ich mich fernhielt: Ich fürchtete mich, ihr Schicksal zu teilen. Es lag ein Fluch auf meinen Grosseltern, der Fluch der Blindheit. Und es machte es nur unheimlicher, dass es nicht ein persönlicher Fluch war, sondern der Fluch auf einer ganzen Generation.
Denn das sagte mir, dass der Fluch ansteckend war.
Ich war meinen Eltern dankbar, dass sie mich und meinen Bruder noch als Baby in die Schweiz brachten und eine Landesgrenze zwischen uns, Schlesien und die Nachmittagskaffees legten.
Mein Erbe aus der Familiengeschichte war, dass ich mich für Politik interessierte. Schlicht weil ich meine Familie ohne Politik nicht begreifen konnte. Und weil ich bereits als Kind spürte, dass Politik töten kann. Um Faschismus zu begreifen, musste man nicht einmal an die 60 Millionen Kriegstoten oder die 6 Millionen Ermordeten durch den Holocaust denken.
Es genügte, die Überlebenden zu sehen. Denn der Faschismus tötete auch sie: die Mörder, die Mitläuferinnen, sogar die zufällig Anwesenden. Er vernichtete ihre Lebensgeschichte, ihr Denken – und ihr Andenken. Es war egal, wer sie waren, egal, was sie sagten, egal, was sie litten – die Tatsache, dass sie dabei waren, machte den Respekt vor ihnen unmöglich.
Ich hatte zwar mehr Talent zum Unfug als zum Ernst, aber ich begriff, dass es eine Pflicht gab, nicht dumm zu sein. Und ich schwor mir, dass mir nie Ähnliches wie meinen Grosseltern passieren würde.
Meine Vermutung war, dass die Dummheit aus der Verwurzelung in einer Heimat kam. Also zog ich ein paar Sicherheitslinien: Lange lebte ich mit leichtem Gepäck – zumindest bis das erste Kind kam. Mein wichtigster Besitz waren einige Ikea-Regale mit Büchern – quasi als portables Vaterland. Ich hängte mein Herz an ein paar Menschen, aber nie an eine Stadt, ein Land oder eine Landschaft. Ich las Zeug aus Amerika. Und ich fragte mich immer wieder: Was zum Teufel übersehen alle?
Bis mich letzten Sommer die Antwort traf. Und das sehr anders, als ich gedacht hatte: nicht als einer der Ersten. Ich gehörte eher zu den Letzten.
Sie liess sich schlicht nicht mehr übersehen.
Es waren die Buschfeuer in Australien, die brennenden Wälder von Rhodos, die Fluten in New York City und in Norditalien, der Dammbruch in Libyen durch den bisher tödlichsten Sturm in Afrika, Eisschollen mitten im Sommer, der schnelle Otis, der sich in zwölf Stunden vom Tropensturm zum Hurrikan entwickelte – schneller als je ein Hurrikan zuvor.
Es waren strahlende Tage, an denen die Passantinnen ihren Weg zickzack gingen, von Schatten zu Schatten. Und du spürtest: Die Sonne ist dein Feind.
Aber das Gespenstischste waren die Zahlen: sieben Monate in Serie die heissesten seit Messbeginn. Die Weltmeere, die wärmer wurden als je zuvor, das beispiellos schrumpfende Eis an den Polen. Überall Messungen, die aussahen wie Messfehler.
Man brauchte nicht viel Mathematik, um zu begreifen, was eine solche Serie statistischer Ausreisser in einem nicht linearen System wie dem Klima bedeutete: Normalität. Nicht lineare Systeme verändern sich nicht Schritt für Schritt. Sie kippen. Und funktionieren dann völlig anders. Was heisst, dass die gekippte Normalität nicht einfach eine neue wärmere Variante der alten Normalität ist. Sondern ihr Gegenteil – Unberechenbarkeit und Chaos.
Und das in einer Zivilisation, die auf Planung beruht: Lieferketten, Versorgung, Versicherungen, Verkehr, Immobilien, Investitionen, Karrieren. Wir haben ein System gebaut, das alles verdaut ausser Unsicherheit.
Man muss auch kein grosser politischer Kopf sein, um zu wissen, was Chaos bedeutet. Das Wirtschaftsmodell aller Extremisten (egal ob links, rechts oder libertär) ist immer das gleiche: das Nullsummenspiel. Was die einen bekommen, verlieren die anderen – und umgekehrt. Wir gegen sie.
Schrumpfende Ressourcen – oder allein die Angst vor schrumpfenden Ressourcen – sind der perfekte Nährboden für zuerst Misstrauen, dann Gereiztheit, schliesslich den Krieg aller gegen alle – das Szenario der Faschisten. Kein Wunder, strotzt das Internet von Selbstmitleid und Morddrohungen. Kein Wunder, gewinnt die radikale Rechte weltweit Stimmen, zuletzt bei der Europawahl.
Was nicht heisst, dass die Dreissigerjahre erneut die Dreissigerjahre werden: Nichts ist unausweichlich.
Aber die Welt, in der wir aufwuchsen, hat aufgehört zu existieren. Die Nachkriegszeit ist Geschichte. Die selbstverständlichen, langweiligen demokratischen Institutionen der Nachkriegszeit sind heute weder langweilig noch selbstverständlich. Sie waren es eigentlich nie: Institutionen sind kristallisierter Kampf. Generationen unserer Vorfahren riskierten Zeit und Kragen für sie, und jetzt, wie es aussieht, ist die Reihe wieder an uns.
Was allerdings neu ist: die Bilanz. Es ist keine kleine Sache, wenn man seinen Kindern eine Welt hinterlässt, die mit erheblicher Wahrscheinlichkeit ziemlich nah an den biblischen Plagen gebaut ist: mit Dürren, Stürmen, Sintfluten, Hungersnöten, Tyrannei, Parasiten, Seuchen und Krieg.
Und wahrscheinlich nicht nur den Kindern. Das, weil mit zunehmender Erwärmung die Prozesse selbstverstärkend laufen: Schrumpfende Eisflächen reflektieren weniger Sonnenlicht – mehr Hitze; eine auftauende Tundra entfesselt das eingefrorene Methanlager – mehr Hitze; der Brand trockener Wälder setzt das gespeicherte CO2 frei – mehr Hitze; das Inlandeis wird instabil – der Meeresspiegel steigt wie ein stabiler, weltweiter Tsunami um bis zu 15 Meter … etc.
Das Katastrophale daran ist nicht nur die beispiellose Grösse der Katastrophe. Sondern auch ihre fast ebenso beispiellose Natur. Die Klimakatastrophe ist eine, die den klassischen Lernprozess der Menschheit unterläuft: Man ignoriert alle Warnungen, richtet ein Desaster an – und ändert etwas.
Wir haben gelernt zu reparieren. Doch die Klimakatastrophe läuft anders. In dem Moment, wo sie für alle sichtbar eintrifft, ist sie nicht mehr rückgängig zu machen. Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass die Blindheit von heute die Welt für Jahrhunderte verwüstet.
Wobei auch das noch zu kurz gedacht ist. Denn falls sich die Forscherinnen nicht irren, befinden wir uns am Anfang des sechsten Massenaussterbens der Erdgeschichte – mit einer immer schneller laufenden Aussterberate.
Was hiesse, dass unsere Lebenszeit noch für Milliarden Jahre sichtbar bleiben wird. Denn Massenaussterben sind verdammt selten. Bisher brauchte es kosmische Katastrophen wie einen Kometen, Supervulkane in der Grösse eines halben Kontinents, einmal vermutlich sogar die Explosion einer nahen Supernova. Uns hingegen genügten 200 Jahre Ölindustrie – die Branche, die nicht nur meinen Urgrossvater wohlhabend machte. Sondern zumindest indirekt fast alle von uns.
Die einzigen Lebewesen, die vor uns Ähnliches vollbrachten, waren vor ungefähr 2,4 Milliarden Jahren die Familie der Bakterien, die die Fotosynthese erfanden. Es war ein grosser Sprung. Sie zapften so eine neue Energiequelle an: die Sonne. Nur leider war ihr Ausscheidungsprodukt ein hochreaktives Gas, gegen das die Bakterien keinen Schutz hatten – Sauerstoff. Es tötete fast alle, aber einige wurden resistent. Die Überlebenden vergifteten damit erst weiter die Meere – und als diese gesättigt waren, pumpten sie den Stoff in die Atmosphäre. Der Sauerstoff zersetzte das Methan zu CO2 – was einen Klimawandel auslöste: Die Erde vereiste für 300 Millionen Jahre. Um ein Haar wäre dies das Ende des Lebens auf diesem Planeten gewesen: 99 Prozent aller Mikrobenarten starben aus.
Offen gesagt wäre mir lieber, ich hätte auf meine Frage «Was übersehen alle?» keine Antwort bekommen.
Ein Grund, warum ich es lieber nicht wissen würde: weil mir keine Antwort dazu einfällt. Was soll man sinnvoll dazu sagen, an einem derartigen Desaster beteiligt zu sein?
Und zum Zweiten, dass mir jedes sinnvolle Wissen für die Fragen fehlt: Was wäre zu tun? (Und was soll man seinen Kindern raten?)
Dazu kommt in meinem Fall die Frage, ob ich nicht den Beruf verfehlt habe. Für einen Journalisten ist Blindheit nah bei der Bankrotterklärung. Ich habe Hunderte Artikel geschrieben. Doch zum Thema, das die Welt verändern kann wie nichts sonst: ein paar Nebensätze. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil ich ein Medium mitgründete, dessen zentrale Aufgabe es ist, das Wesentliche zu finden. Und dafür mit dem Slogan warb: «Wir beschreiben das Klima, nicht das Wetter.»
Und das folglich nicht nur systematisch Artikel zum Klima schrieb, sondern massiv darin investiert hat – mit dem Aufbau eines eigenen Klimalabors.
Selbst ohne Republik war das Klimathema meine ganze Karriere lang vollkommen offensichtlich – ein ununterbrochener Strom von Studien, Filmen, Artikeln. Und ironischerweise ist die Erderhitzung vielleicht das erste globale Thema der Geschichte, bei dem die Zukunft tatsächlich vorhersagbar ist: Treibhausgase treffen keine Entscheidungen, sie reflektieren einfach einen Teil der Strahlung zur Erde zurück.
Komplex ist nur, bei welcher Temperatur die verschiedenen Systeme kollabieren. Für die Erwärmung hingegen ist die Rechnung simpel: Man muss nur die Menge an Tonnen CO2 in der Atmosphäre kennen.
Die heutige Situation hätte ich bereits als Fünfjähriger erfassen können – falls ich anderes als Bilderbücher gelesen hätte. Sie wurde schon 1971 ziemlich präzis vorhergesagt – damals noch in einer Studie der Ölindustrie selbst. Nur hätte die Lektüre wahrscheinlich nichts genützt. Ich las über Jahre zum Thema, ohne es wahrzunehmen. Warum zum Teufel habe ich das Offensichtliche nicht gesehen?
Ich glaube, roh gesagt, wegen Folgendem:
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Ästhetik. Ökologie war für mich Abfalltrennung, Bioladen, Jutesack. Alles vernünftig, ehrenwert, sogar nachahmenswert, aber … mein Herz sank.
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Natur. Wann immer ich in unberührter Natur war, fühlte ich, wie sie mir nach dem Leben trachtete: im Hochgebirge, im offenen Meer, im Dschungel – dieser ist ein einziger grüner Magen. Schön ist die Natur nur als Park, Poster oder Tierfilm.
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Erfolg. Trotz allen Grausamkeiten – die letzten 200 Jahre Kapitalismus und Industrie waren ein unfassbarer Erfolg: Die Lebenserwartung, das Einkommen, die Alphabetisierungsrate, die Demokratisierung, die weltweite Gleichheit – alle sind weltweit massiv gestiegen, Armut und Kindersterblichkeit massiv gesunken. Nie war es für die Mehrheit der Menschen besser, geboren zu sein.
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Politik: Die Lektüre von Geschichtsbüchern machte mich zum entschiedenen Parteigänger der Verschwendung. Erstens, weil Pracht und Grosszügigkeit nicht nur das Leben verrückt und schön machen – das Strahlende, das man tut, ist auch das Einzige, was bleibt. Und zweitens aus der Beobachtung, dass nur dann, wenn der Kuchen gross genug ist, sodass alle ihr Stück bekommen (im Zweifel auch mehr, als sie verdient haben), die Gesellschaft zivil bleibt.
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Dramaturgie: Das Klimathema schien mir beruflich eine Strafaufgabe – wenig handelnde Personen, unendlich viel beteiligte Personen, seit Jahren gleichbleibende Probleme, dazu die gleichen Debatten. Hier waren wenig Blumentöpfe zu gewinnen.
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Ratlosigkeit: Mir fiel nie ein, wie man beim Klima handeln könnte: Das Problem ist zu gross, als dass privates Handeln nennenswerte Konsequenzen hätte – und wie ein Totalumbau der Welt funktionieren sollte, dazu fehlte mir die Vorstellung.
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Delegieren: Irgendwie würde der Technik schon etwas einfallen – irgendwas wie Supraleiter bei Raumtemperatur oder die kalte Fusion.
Kurz gesagt: Ich wurde, was ich vermeiden wollte, ein Kind meiner Zeit. Mein Erbe waren Flucht und Bruch mit der Tradition, meine Ästhetik Punk und die Bücher der Moderne, mein Optimismus war amerikanisch, ich war ein Kind des bei weitem grössten Wirtschaftsbooms der Menschheit.
Ich sah, was meine Brille hergab.
Nur fürchte ich, dass, falls nichts passiert, in Zukunft nicht interessieren wird, was irgendwer gedacht hat und warum. Wir hatten es in der Hand – und haben es vermasselt. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Nachgeborenen mit wenig anderem an uns zurückdenken werden als mit einem Fluch.
Zählen wird einzig und allein, ob und wie die jetzt Lebenden, wo die grosse Desillusionierung da ist, das Richtige tun.