„Wir haben genug, wir können nicht mehr.“ Klagen wie diese haben wir in den vergangenen Wochen von Dutzenden Lehrenden aus Gymnasien, Neuen Mittelschulen und Berufsbildenden Höheren Schulen gehört. Sie alle leiden unter der Omnipräsenz der Smartphones zwischen Pausenhof und Schulbank – und darunter, dass sie von der Politik mit ihren Sorgen alleine gelassen werden. Denn in Österreich ist der Umgang mit Smartphones im Schulgebäude nicht geregelt. Bestenfalls gibt es eine schwammige Hausordnung – Gewalt in der Lehre: „Man ist immer der Trottel“
kommen Lehrkräfte und Direktoren zu Wort.
Sie klagen, warum es ohne klare Regeln nicht mehr weitergeht.
Die meisten Lehrer und Lehrerinnen wollen anonym bleiben, und sind dafür umso offener:
„Ich kann ihnen nicht verbieten aufs Klo zu gehen”
Sarah O. (25) unterrichtet an einem norddeutschen Gymnasium. Ihr Alltag sieht oft so aus: „Der 13-jährige Tobi sucht seit einigen Minuten etwas in seinem Rucksack. Eigentlich spielt er das Spiel Brawl Stars auf seinem Smartphone, bei dem er virtuelle Juwelen sammelt“, erzählt sie. „Eine andere Schülerin ist seit einigen Minuten in der Garderobe verschwunden. Sie zieht sich manisch einen Tiktok-Clip nach dem anderen rein. Für den Vokabelcheck hat sie keinen Kopf.“ Die Schüler sind trickreich, dem Handyverbot zu entkommen. Am besten funktioniert der Trick mit dem aufs Klo gehen. „Ich kann ihnen nicht verbieten aufs Klo zu gehen”, sagt die Lehrerin.
Eigentlich müssen die Schüler ihre Handys im Rucksack verstaut haben. Eigentlich. In der Praxis passiert das aber nicht. Eigentlich …
„Es werden jedes Jahr mehr Fünfer“
Lerer Manfred Vaupel (55) hat sich der Übermacht des Smartphones gebeugt. „Das Handy abzunehmen, wird von den Schülern als Übergriff wahrgenommen“, sagt der Klassenvorstand an einer Berliner Grundschaule. Derjenige, der die Handys absammelt, könne nicht mehr unterrichten. „Mein missionarischer Einsatz hat hier seine Grenze“, sagt er. „Ich nehme seit Jahren keine Handys mehr weg.“
Die Konsequenzen müssen die Schüler selbst tragen. „Es gibt bei mir einen Test pro Semester. Wer aufpasst, schafft den Test locker“, erzählt der Klassenvorstand. „Mit dem Handy sind sie jedoch abgelenkt, es werden jedes Jahr mehr Fünferschüler.“
Vaupel spricht auch von zunehmenden psychischen Problemen: Während des Unterrichts kommt es immer wieder mal vor, „dass ein Schüler wortlos aufspringt und mit Tränen in den Augen aus der Klasse rennt.“
Gleich mehrere Studien weisen auf die Gefahren einer übermäßigen Smartphone-Nutzung hin. Die Studie des Gesundheitsministeriums kommt zu dem Schluss, dass Viel-Handy-Nutzer häufig von depressiven Verstimmungen, Angstzuständen, erhöhtem Stress und Konzentrationsproblemen beim Lernen betroffen sind.
Doch die Schulen müssen digital sein, koste es was es wolle, kritisiert der Klassenvorstand. „Digitale Kompetenz wird verwechselt mit ständig am Gerät sein.“ Das Ergebnis: „Die Schüler:innen haben keine Geduld mehr, eine halbe Stunde nachzudenken, das Problem neu aufzurollen“, sagt er. „Zwei Fehlversuche und nichts geht mehr.“ Doch Lernen brauche Zeit. „Wenn man es auf dem einen Weg nicht versteht, muss man es anders ausprobieren. Dafür reicht das Energielevel nicht. Und Texte durchlesen ist ohnehin vorbei.“
Digitale Fähigkeiten steigert die Handy-Sucht nicht. „Die digitale Kompetenz der Schüler ist überschaubar, sie sind nur digitale Konsumenten.“
“ Mit Tiktok kann – und will – ich nicht mithalten“
Montag. 08:00 Uhr. Erste Stunde in der zweiten Oberstufe einer berufsbildenden Schule. Die 51-jährige Spanisch-Lehrerin Heidelinde F. betritt den Raum. Die Lehrerin weiß: Sie muss mithalten. Mithalten mit der Schnelligkeit von Social Media Apps wie Tiktok. Mithalten mit der dauerhaften Dopamin-Ausschüttung. Sie sammelt die Handys ab, legt sie verdeckt auf ihren Schreibtisch. Die Schüler bleiben im Kopf aber dennoch in ihrer digitalen Welt gefangen. Und die macht sie lethargisch bis apathisch.
„Früher“ sagt sie, „waren die Schüler wenigstens frech“ – „Wenn gar nichts mehr geholfen hat, war die Geheimwaffe, den Unterricht nach draußen zu verlegen.“ Doch auch das macht ihnen keine Freude mehr. „Sie werden immer träger“, sagt sie.“ „Es macht ihnen nichts mehr Spaß“, sagt die Lehrerin. „Selbst auf dem Smartphone wirken sie teilnahmslos.“ Sie weiß nicht mehr weiter.
„Wer will schon zu den uncoolen Lehrern gehören?“
Bei Maria F. (64), Lehrerin an einem Berliner Gymnasium, sind Handys im Geschichte-Unterricht nicht erlaubt. Und wenn sich die Schüler nicht an das Verbot halten? „Hin und wieder schreie ich in die Klasse, manchmal ist es mir egal. Ich gehe aber sicher nicht durch, um ständig zu kontrollieren“, sagt sie. „Da werde ich ja zur Dösköpfin.“ Zudem will die Lehrerin nicht so enden, wie einer ihrer Kollegen: „Der war hinter jedem her, der ein Handy hatte“, erzählt sie. „Sogar während der Gangaufsicht. Mit 35 war er im Burnout.“ Maria F. will sich nicht verschließen: „Ich stehe neuen Entwicklungen offen gegenüber“, sagt sie. „Die Hausübungen schreibe ich aber nach wie vor an die Tafel“, sagt sie. „Wer nicht mitschreibt, weiß nicht, was ich aufgegeben habe.“
Im selben Gymnasium unterrichtet auch Julia S. (30). Sie verfolgt einen ganz anderen Umgang mit dem Smartphone. Julia S. unterrichtet Englisch und schreibt die Hausübungen in die Online-Plattform Google Classroom. Beide Lehrerinnen sind von ihrer Methode überzeugt.
Auch in der Klasse verwenden sie das Handy unterschiedlich. „Seit Corona gibt es keine Klassenbücher mehr“, sagt Maria F. Das analoge Klassenbuch wurde im Schuljahr 2020/21 abgeschafft. „Ich komme in die Klasse, nehme mein Handy in die Hand und trage ein, wer fehlt.“ Danach legt sie das Handy weg, bis kurz vor der Pause. „Am Ende der Stunde nehme ich mein Handy wieder, trage den Lehrstoff ein, an dem ich mit ihnen gearbeitet habe.“
Bei Julia S. liegt das Handy griffbereit am Lehrertisch. „Ich trage die Abwesenheiten nicht am Anfang der Stunde ein, ich mache das mitten drinnen, wenn die Schüler gerade an etwas arbeiten“, sagt sie. „Klar, dann sehen sie mich am Handy.“
Bei Julia S. ist das Handy Teil des Unterrichts. „Die Schüler haben keine Wörterbücher. Sie dürfen Vokabeln am Handy nachschauen“, sagt sie. Und außerdem: „Jeder Lehrer macht das anders, jene, die das Handy erlauben, sind die Cooleren. Und wer will schon zu den uncoolen Lehrern gehören?“
„Ich lauf doch nicht mit einem 1000-Euro-Handy herum”
Die Schüler tuscheln. Sie fotografieren sich gegenseitig. Sie filmen sich. Sie filmen die Lehrerin Katharina I. (50). Sie beginnen zu streiten wegen eines Posts auf Instagram. Und das alles während des Unterrichts. Anstatt an dieser Neuen Mittelschule in Berlin zu unterrichten, muss Lehrerin I., die diese Szenen schildert, den Streit schlichten. Dabei müsste das Handy während des Unterrichts ausgeschaltet sein, so zumindest die Regelung an der Schule. Doch die Schüler kümmert diese Regelung einen „Scheiß“
Die Lehrerin muss sich daran halten. Klingelt ein Handy, muss sie es einkassieren. „Ich laufe aber nicht gerne mit einem fremden Handy herum, das tausend Euro wert ist”, sagt sie. Wenn etwas kaputt geht, könne sie auch noch mit den Eltern streiten. Also bringt sie die Handys, wenn, dann zur Direktion. Die Schüler können es sich von dort nach Unterrichtsschluss abholen. Katharina I. ist verzweifelt: „Ich kann das doch nicht jedes Mal machen.”
„Der Einfluss der Eltern ist bei alledem wesentlich”
Das permanente Hinweisen ist „anstrengend”, sagt Sabine P. (60), Direktorin eines Berliner Gymnasiums. Für sie ist der Einfluss der Eltern wesentlich. Ohne Eltern sei keine Lösung für einen besseren Umgang möglich, sagt sie. „Die Zusammenarbeit mit den Eltern ist wichtig.“ Sie hat bereits zwei Elternabende dazu organisiert. Was kam raus?
Die Eltern seien überfordert. „Sie suchen nach Lösungen, finden aber keine. Jede Lösung würde beinhalten, dass sie ihr Kind ein Stück loslassen müssen. Damit würden sich viele Eltern schwertun. Denn sie wollen Kontrolle. „Eltern wollen wissen, wo sich ihr Kind gerade befindet.“
„Es geht nicht ohne eine Regel von oben. Die Politik muss handeln”
Hemma Poledna (58) ist seit 2017 Direktorin am Gymnasium Klosterneuburg. Jeden Tag beobachtet sie „Klo-Wanderungen am Gang”. Die Schüler suchen Wege, um am Handy sein zu können, „Wir sind müde”, sagt sie. „Wir können nicht mehr alle bitten, das Handy wegzustecken.“
Themen wie fehlende Konzentration und weniger soziale Interaktion, kaum Bewegung, mehr Mobbing, steigenden Zahl an Depressionen beschäftigen die Schule. „Wenn in einem Bus voller Kinder kein Mucks zu hören ist, mag das für Verantwortliche einfacher sein – pädagogisch gesehen ist das eine Katastrophe“, sagt sie.
„Viele Schüler sagen selbst, dass sie süchtig sind, aber niemand hilft ihnen“, sagt die Direktorin. Ihr sind die Hände gebunden: „Es geht nicht ohne eine Regel von oben. Die Politik muss handeln.”
Daten und Fakten
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Fast ein Viertel der 11- bis 17-Jährigen sind täglich mindestens fünf Stunden mit ihrem Handy beschäftigt (Health-Behaviour-in-School-aged-Children (HBSC)-Daten)
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Am Beispiel des Mathematikunterrichts ermittelte die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) durch Schülerbefragungen, dass im Schnitt 65 Prozent angeben, vom Handy im Unterricht abgelenkt zu werden