Staatsschutz und die Polizei ermitteln, Verbote werden erteilt, Politiker drücken ihr Entsetzen aus: Die Diskussionen über ein Video, das zeigt, wie Gäste in einem Sylter Club rassistische Parolen singen, halten an. Mehrere Wiederholungen hat der Vorfall in kürzester Zeit provoziert, immer mehr Videos gelangen an die Öffentlichkeit, in denen meist auf Festen und in ausgelassener Stimmung Gigi D’Agostinos L’amour toujours rassistisch umgedichtet wurde. Es ist zu einer TikTok-Challenge geworden. Wer traut sich, das Lied zu spielen und entsprechend zu betexten?

In den vergangenen Tagen wurde vielfach kundgetan, wie schockiert man angesichts der Aufnahmen sei, in denen tumb-beherzt eine Pogrom-Parole skandiert wird. Und es wurde gekontert, wie ignorant das nicht nur in den Ohren all jener klingen muss, die selbst von Rassismus betroffen sind und für die solche Situationen teilweise zum Alltag gehören. Denn seien wir ehrlich zu uns selbst: Auf wie vielen Volks- und Familienfesten und an wie vielen Stammtischen gehören solche Slogans lange schon zum guten – bösen – Ton? Es sind viele. Und es ist auch nicht das erste Mal, dass sie ins Licht der Internetöffentlichkeit gelangt sind. Was macht dieses Video also empörender als all die anderen rechtsradikalen Inhalte im Netz und im Real Life? Was macht es so entlarvend?

Zynismus als Grundstrategie des rechten Pops 

Das Brüllen von rechtsradikalen Parolen wird normalerweise mit aggressiven, gleichtönigen Rufen, mit zusammengekniffenen Gesichtern und angespannten, gewaltbereiten Körpern assoziiert. Diese Attitüde ist auch noch dem ersten öffentlich bekannten rechten L’amour toujours-Video vom Erntefest bei Pasewalk im November 2023 zu entnehmen, wo überwiegend schwarz gekleidete Männer angriffslustig grölen. Was das Sylt-Video so schockierend macht, ist, dass genau dieser allzu bekannte Brutalismus gerade fehlt: Wir sehen Menschen, die übers gesamte Gesicht strahlen, die glücklich zu sein scheinen, die ihr Zusammensein unbeschwert zelebrieren. Sie vermitteln nicht die Düsterkeit jener Aussage, die sie tätigen. Sie singen Pogrom-Parolen im Gestus größtmöglicher, schunkelnder Heiterkeit. Zu einem Lied der Nullerjahre, die seit einiger Zeit vielfach auf TikTok wiederentdeckt werden – fast, als handle es sich um einen harmlosen Scherz.

Über die Intention der Beteiligten lässt sich nur spekulieren

Das spielt für die Rezeption und Attraktivität des Videos in rechten Kreisen aber auch keine Rolle, denn dort wird es als Inbegriff jenes zynischen Pop wahrgenommen, den sie so schätzen. Man erinnere sich nur an das NSU-Bekennervideo, in dem Paulchen Panther missbraucht wurde, um die schweren rassistisch motivierten Morde und Terrorakte zu verniedlichen. Diese Verharmlosung war eine Verhöhnung der Opfer, ihrer Familien und der Ermittlungsbehörden. Zynismus ist zur Grundstrategie des rechten Pops avanciert und findet sich in unzähligen diskriminierenden Memes. In diesem Sinne wird in den lachenden Gesichtern der Rich Kids im Sylt-Video die herabsetzende Haltung gegenüber rassismus- und diskriminierungskritischen Bestrebungen der „woken Linken“ wie auf einem Silbertablett präsentiert. Und genau in diesem Zynismus liegt die Provokation. Das Sylt-Video ist gewissermaßen das Clown-Emoji unter den Virals.

Spiralen der Enthemmung

Immerhin entlarvt das Video auf diese Weise eine ganze Reihe von Ressentiments. Allen voran, dass Rassismus vermeintlich ein ostdeutsches Problem ist, kein westdeutsches (manche haben sogar eine Persiflage ostdeutscher Rechter oder zumindest eine Transgression darin erkannt). Dass er angeblich eher in der Provinzkultur und nicht in wie auch immer gearteten kosmopolitischen Communities zu finden ist. Ja, dass Rassismus ein Problem des Pöbels und nicht der gebildeten oberen Klassen sei. Es entlarvt damit ein Deutschland, in dem, wenn es um Rassismus geht, immer den anderen die Schuld in die Schuhe geschoben wird.
Dabei ist jener zynische Rassismus vermeintlich gebildeter oder gehobener Milieus noch viel schlimmer, weil er die Betroffenen nicht nur diskriminiert, sondern diese Diskriminierung sogar als unerheblich darstellt, als wäre sie ein bloßer Spaß.
Wer sich nun freut, dass endlich etwas öffentlich diskutiert wird, was lange im Verborgenen stattfand, und glaubt, so könnte Rassismus und rechtem Denken Einhalt geboten werden – wahrscheinlich ist das nicht der Fall.

Das zynische Sylt-Video nämlich ist auch für die rechte Szene ein gefundenes Fressen. Der Zynismus befeuert sie, sich mit immer noch böseren Varianten gegenseitig zu überbieten, ja er wirkt extrem enthemmend. In einschlägigen Kommentarbereichen heißt es bereits „Jetzt erst recht!“ oder „Neue Nationalhymne“, es wird mit blauen AfD-Herzen kommentiert und das „verbotene Lied“ als Akt der Freiheit und Rebellion romantisiert. Die mediale Aufregung der breiten Öffentlichkeit schürt das Gefühl der Widerständigkeit zusätzlich und macht sie bei all jenen beliebt, die sich derzeit (oft zu Unrecht) ohnmächtig und eingeschränkt fühlen, die es leid sind, auf die Befindlichkeiten anderer Rücksicht zu nehmen.

Widerständige Aneignung

Schaut man sich in den rechten Online-Communities ums, wird sehr schnell deutlich, dass sie sich ihrer User-Macht enorm bewusst sind. In Videos auf TikTok wird dazu aufgerufen, L’amour toujours zu streamen, was das Zeug hält, damit man in die iTunes und Spotify-Charts kommt und auf diese Weise Präsenz zeigen kann. Kulturkampf ist immer schon ein Kampf um Aufmerksamkeit, mehr denn je liegt er aber in den Händen einzelner: Es geht darum, Likes zu vergeben, Inhalte zu teilen, Algorithmen auf unterschiedliche Weise zu beeinflussen.
Möglich aber auch, dass genau hier der Hebel liegt, dem zynischen Pop etwas entgegenzusetzen. In einem parodistischen Sub-Meme auf TikTok singen zum Beispiel Menschen mit Migrationshintergrund die Nazi-Parolen, weil sie sich „versehentlich“ den Ohrwurm eingefangen haben. Damit ermächtigen sie sich des Hasses, der ihnen entgegengebracht wird und entkräften zumindest punktuell seine Funktion und das widerständige Potential des Ausgangsmemes wird so zunichte gemacht.

Juni 2024 | Allgemein, Gesundheit, In vino veritas | Kommentieren