Konstituierende Sitzung des Parlamentarischen Rates (Verfassungsgebende Versammlung zur Ausarbeitung des Grundgesetzes) am 1. September 1948 in Bonn

Was zunächst notgedrungen akzeptiert wurde, hat das Volk in Wahlen und Abstimmungen, gleichsam mit Händen und Füßen angenommen, in Wort und Tat, nicht wenige wohl letztlich auch mit dem Herzen. Heute leben die allermeisten Deutschen die Werte des Grundgesetzes. Geschaffen als Ordnung für eine Übergangszeit, auch für jene Millionen Landsleute unter fremder Herrschaft, „denen mitzuwirken versagt worden war“.

Doch längst gilt diese Ordnung für alle Deutschen, in West und Ost. Das Grundgesetz ist seit der Wiedervereinigung die vollgültige Verfassung eines souveränen Staates. Die Deutschen in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen wollten es genau so. Sie wollten diesem Grundgesetz ausdrücklich beitreten.
Über Versäumnisse des Einigungsprozesses, über die Frage, inwieweit die Erfahrungen der Landsleute, die unter der SED-Herrschaft leben und leiden mussten, ausreichend Gehör und Berücksichtigung fanden, kann mit guten Gründen immer wieder gestritten und auch abgestimmt werden. Doch das Grundgesetz als gesamtdeutsche Verfassung infrage zu stellen, ist nicht nur Geschichtsklitterung, sondern auch politisch und rechtlich Unfug.

Und was ist mit der letzten Bestimmung?

Der Zwei-plus-vier-Vertrag als „abschließende Regelung“ in Bezug auf Deutschland als Ganzes war jene friedensvertragliche Regelung, bis zu der die alliierten Vorbehaltsrechte gelten sollten. Auf die Bedingungen dazu ließ sich Deutschland in freier Selbstbestimmung ein.
Und was ist mit der letzten Bestimmung des Grundgesetzes, nach der es seine Gültigkeit an dem Tag verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“? Das ist weder ein Beleg für den provisorischen Charakter der Verfassung noch ein Auftrag zu einer Volksabstimmung über das Grundgesetz oder eine andere Ordnung. Das Grundgesetz benennt hier nur eine Selbstverständlichkeit: Jedes Volk kann sich jederzeit eine neue Verfassung geben.

Nicht aus dieser Welt

Wer das Grundgesetz jetzt in einer Volksabstimmung bestätigen lassen will, wird eine Debatte über eine Totalrevision bekommen. Auch das kann man wollen. Aber wer den Eindruck erweckt, die Deutschen lebten unter einer illegitimen Ordnung, lebt nicht in dieser Welt – und muss sich fragen, welche Geister er damit rufen will.
Nach der totalen Katastrophe von 1945, die spätestens 1933 ihren Anfang genommen hatte, grenzte schon die Fortexistenz Deutschlands für viele an ein Wunder. Die neue Ordnung wäre ohne die (westlichen) Sieger nicht möglich gewesen. Und doch war es deutscher Neubeginn – in einer langen Tradition von altem Reich, föderaler Ordnung, Demokratie und Grundrechten. Die Deutschen bauten aus Ethos, Pflichtgefühl und im Vertrauen auf Gott das Land wieder auf. Auch viele derjenigen, die bis zuletzt für das NS-Unrechtsregime ihr Leben einsetzten, stellten sich in den Dienst des demokratischen Regierung-

Diese deutsche Erfolgsgeschichte ist
beileibe nicht nur dem Grundgesetz zu verdanken.

Die Deutschen mit ihrer obrigkeitsstaatlichen, aber eben auch rechtsstaatlichen Tradition neigen mitunter dazu, die Rolle des Rechts und damit auch die des Grundgesetzes und des Bundesverfassungsgerichts, aber auch des internationalen Rechts zu überhöhen. Man sollte die Bedeutung des Rechts und einer verfassungsgemäßen Ordnung aber auch nicht kleinreden. Dass jeder vor dem Gesetz gleich ist und seine Rechte auch gegen den Staat und große Konzerne geltend machen kann, ist eine Errungenschaft, die in weiten Teilen der Welt nicht selbstverständlich ist.

Schmerzliche Erkenntnis

Dazu gehört nicht zuletzt die bisweilen schmerzliche Erkenntnis, dass man (und zwar nicht nur man selbst) Recht nicht nur haben, sondern auch mühsam durchsetzen und bekommen muss. Das Hochhalten von Freiheitsrechten ist das eine – das Aushalten der Freiheit des anderen das andere. Insbesondere hier, aber auch im unerschütterlichen Festhalten an der staatlichen Einheit und Freiheit Deutschlands hat das Bundesverfassungsgericht Unschätzbares geleistet.

„Die Mauer – gefallen

Die gefestigte Ordnung unter dem Grundgesetz, gegen das sich kaum jemand offen stellt und das in langer Linie, die weder NS- noch SED-Herrscher wirklich durchbrechen konnten, auf vertikale wie horizontale Gewaltenteilung setzt, war schon manchen Stürmen ausgesetzt. Hysterie bei der Sicherung der deutschen Demokratie ist deshalb fehl am Platze. Die Verfassung muss gerade nicht alles regeln, um gut zu sein. Die Ordnung, die Würde und Freiheit des Einzelnen im Sinne aller voranstellt, muss aber grundsätzlich akzeptiert bleiben. Dann hält sie auch.

 

Mai 2024 | Allgemein, Essay, Junge Rundschau, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren