Russland stört offenbar großflächig das Satellitennavigationssystem GPS im Baltikum – mit weitreichenden Folgen: Der zweitgrößte Flughafen Estlands wird vorerst international nicht mehr angeflogen – und zahlreiche Schiffe und Frachter melden zudem, dass sie zeitweise kein GPS-Signal empfangen können. Aber nicht nur die Luft- und die Schifffahrt sind auf Satellitennavigation angewiesen, auch kritische Infrastrukturen benötigen die exakten Signale der Satelliten. Nicht alle können auf Alternativen zurückgreifen. Wie gefährlich ist das sogenannte GPS-Jamming?

Wie ernst die Lage ist, wurde einer breiteren Öffentlichkeit klar, als die finnische Fluggesellschaft Finnair ankündigte, ab sofort alle Flüge in die estnische Kulturhauptstadt Tartu zu annullieren. Immer wieder hatten Maschinen umkehren müssen, weil sie dort nur GPS-gesteuert landen können. Bis Ende Mai, so die Hoffnung von Finnair, werde Tartu eine alternative Technik installieren, um nicht allein aufs GPS angewiesen zu sein. Die Sicherheit der Fluggäste sei zu keinem Zeitpunkt gefährdet gewesen, betont Jari Paajanen, Director of Operations bei Finnair: „Die Systeme der Finnair-Maschinen erkennen GPS-Störungen und unsere Piloten wissen über das Problem Bescheid.“ Die Flugzeuge könnten zudem auf alternative Navigationssysteme zugreifen, die im Falle eines GPS-Ausfalls Flug und Landung sicher machen.
Das sogenannte Global Positioning System (GPS) ist ein Netz von Satelliten, die mit Bodenstationen Funksignale austauschen. Aus der Dauer der Signalübertragung wird die jeweilige Position von Flugzeugen, Schiffen, Fahrzeugen, Mobiltelefonen und vielem mehr berechnet. Auch die exakte Zeit kann mithilfe des Systems bestimmt werden. GPS selbst ist ein US-amerikanisches System, das in den Siebzigerjahren entwickelt worden ist. Zunächst für das Militär, heute ist es auch zivil nutzbar.

Teil des hybriden Krieges

Angreifer nutzen Störsender, Jammer genannt, die die Signale zwischen Satelliten und Bodenstationen unterbrechen oder mit einem Rauschen überlagern, das das Ursprungssignal unbrauchbar macht. Die Satellitennavigation ist dabei recht störanfällig. Einerseits weil die Satelliten nur mit geringer Leistung funken, andererseits weil die Signale einen weiten Weg zurücklegen müssen: GPS-Satelliten schweben in mehr als 20.000 Kilometern Höhe über der Erde. Dadurch kommen ohnehin nur recht schwache Signale am Boden an, schon schwache Sender können sie stören.

Der jüngste Vorfall scheint aber auf einer leistungsfähigen
militärischen Technik zu beruhen 

Offenbar ist die Störung durch Russland Teil des hybriden Krieges. Forscher haben inzwischen den geografischen Ursprung der feindlichen Signale ausgemacht: Wie sogenannte OSINT-Recherchen (Open Source Intelligence) auf Basis öffentlich verfügbarer Daten zeigen, liegt die Quelle der Signale, die das GPS-Signal über Estland stören, in Russland – wohl zwischen St. Petersburg und dem estnischen Narva, schreibt ein privater OSINT-Forscher, der auf X unter dem Pseudonym Markus Jonsson aktiv ist. Er nutzt dafür Informationen von Flugzeugen wie den Ort und die Zeit, an dem diese melden, dass sie das GPS-Signal verloren haben. Auch auf öffentlich verfügbaren Karten lassen sich GPS-Ausfälle nachvollziehen.

Auch wenn sich GPS-Jamming derzeit häuft, ist die Angriffswelle bei Weitem nicht die erste: Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine war das Signal in Osteuropa und über der Ostsee häufig gestört. So meldeten im März dieses Jahres innerhalb von zwei Tagen mehr als 1.600 Flugzeuge im Luftraum über der Ostsee GPS-Funklöcher.

Quelle ein Stützpunkt der russischen Marine?

Militäranalysten vermuteten hinter den neuen Angriffen im Ostseeraum im Gespräch mit dem NDR „russische hybride Kriegsführung“. In Russland hätten GPS-Störungen eine lange Geschichte, sagte ein Analyst der Dänischen Verteidigungsakademie. Es gehe um Abschreckung und Einschüchterung. „Die anderen Länder werden so an die Gefahr eines Konflikts im Ostseeraum erinnert.“
Neben Russland würden in polnischen Medien aber auch Übungen der Nato im Ostseeraum als möglicher Ursprung genannt, hieß es im NDR. Die dazu notwendigen militärischen Fähigkeiten hätten sowohl Russland als auch die Nato. Bisher vermuteten Fachleute, dass die Ursache für die Störungen ein Sender in Kaliningrad ist, einer Exklave zwischen den Nato-Mitgliedern Polen und Litauen. Dort liegt einer der größten Stützpunkte der russischen Marine.

Insofern muss das derzeitige Jamming
– anders als von manchen vermutet –
keine Provokation der Nato oder Sabotage
als Teil der hybriden Kriegsführung sein.

Denn offenbar nutzt Russland die Technologie auch, um feindliche Drohnenangriffe abzuwehren – darauf deuten laut Heise zumindest Erkenntnisse unter anderem einer estnischen Überwachungsfirma hin, die Ende 2022 vermehrt GPS-Ausfälle unter anderem im Westen Russlands beobachtete.

Bei den Angriffen werden Drohnen nicht nur gestört, indem sie ihre Position verlieren, immer wieder wird ihnen auch durch sogenannte GPS-Spoofing eine falsche Position vorgegaukelt: Dabei wird das GPS-Signal abgefangen und durch gefälschte Daten ersetzt. Drohnen können so nicht nur die Orientierung verlieren, sondern auch entführt werden, wie ein Vorfall aus dem Jahr 2011 zeigt: Damals soll der Iran eine US-amerikanische Tarnkappendrohne entführt haben, indem dem Fluggerät eine andere Position vorgegaukelt wurde, sodass sie schließlich eigenständig im Iran landete.

Von daher sind Angriffe auf die Satellitennavigation
kein neues Mittel der Kriegsführung

Auch Israels Militär nutzte beim Angriff des Iran im April GPS-Jamming und behauptete, damit 99 Prozent der Drohnen abgewehrt zu haben. All diese Vorfälle zeigen aber vor allem eines: Satellitennavigation ist eine nützliche Technologie, die aber offenbar nicht robust ist. Insbesondere ist sie nicht vorbereitet darauf, dass GPS-Jamming und -Spoofing Teil der hybriden Kriegsführung sind.
Ein Vorhaben von Dringlichkeit
Doch nicht nur die Luftfahrt ist betroffen, sondern vieles mehr, warnt OSINT-Forscher Jonsson: „Ohne genaue Zeitangaben besteht die Gefahr von Fehlfunktionen in Finanz-, Kommunikations-, Stromnetzen und anderen kritischen Systemen.“ Hintergrund ist, dass auch die präzise Zeitmessung, die für solche Anwendungen relevant ist, auf GPS beruht. Das bestätigt auch der deutsche Telekommunikationsexperte Peter Schmidt. Denn auch das Mobilfunknetz benötige genau dafür exakte Satellitennavigation. Der selbstständige Telekommunikationsberater hat zuvor 30 Jahre lang bei der Telekom gearbeitet und die Stabilität der Netze genau verfolgt. „Gerade mit 5G, aber auch schon mit 4G, braucht Mobilfunk eine hochgenaue Synchronisation“, sagte Schmidt ZEIT ONLINE. Denn Funkstationen müssen exakt miteinander synchronisiert werden.

Eine Alternative ist das sogenannte Precision-Time-Protokoll,
eine IP-basierte Synchronisation

Diese sei allerdings aufwendig und teuer, sodass nicht alle Netzbetreiber ein entsprechendes Back-up aufgebaut haben. Von daher sind sie abhängig von GPS. Das bestätigt ein Mitarbeiter eines anderen großen deutschen Netzbetreibers, der kein entsprechendes Back-up-System hat, auf Nachfrage von ZEIT ONLINE.
Wer bei Mobilfunk nur an den eigenen Handyempfang denkt, liegt jedoch falsch. Gerade kritische Infrastrukturen wie die Wasserversorgung, Navigation und Logistik basieren teilweise auf Mobilfunk. Unter anderem Wasserüberwachungssysteme tauschten ihre Daten per Mobilfunk aus. „Wenn die versuchen, eine Verbindung aufzubauen zu ihrem Server und diese scheitert, dann schaltet die Pumpe ab“, sagt Telekommunikationsexperte Schmidt. Entsprechende Kabelverbindungen nachzurüsten, die dann IP-basierte Back-up-Technik nutzen, braucht Zeit.

Betroffen sind derzeit vor allem Nachbarregionen Russlands

Selbst mit einem starken Jammer kann man zwar großräumige Ausfälle verursachen, „aber nur in räumlicher Nähe“. (Bild links: Zwei Maschienen werden betankt). Bereits im Januar hatte die European Union Aviation Safety Agency (EASA) gemeinsam mit der International Air Transport Association (IATA) erklärt, dass entsprechende Angriffe auf das GPS stark zunähmen. Sie könnten „ein erhebliches Problem für die Flugsicherheit darstellen“. Kurzfristig müsse sichergestellt werden, dass Piloten und Besatzungen die Risiken kennen und trotzdem sicher landen können. Längerfristig müssten neue Satellitennavigationssysteme entwickelt werden – das sei „eine Priorität der Agency“.
Dieses Vorhaben dürfte angesichts der aktuellen Vorfälle durchaus an Dringlichkeit gewinnen.

Mai 2024 | Allgemein, In vino veritas, Politik, Sapere aude | Kommentieren