„Des Römischen Reiches Haupt ist abgeschlagen“: die Goten plündern Rom 410 n. Chr. (Detail) – nach Paul Valery (1890)

Der weströmische Kaiser Flavius Honorius (384–423) soll einen Schock erlitten haben, als man ihm die Nachricht von der Katastrophe überbrachte: Am 24. August 410 hatten die Westgoten unter ihrem König Alarich (ca. 370–410) Rom erobert und drei Tage lang geplündert.

Der Herrscher erholte sich allerdings
bald wieder, nachdem man ihm
versichert hatte, mit „Roma“ sei die Stadt
und nicht sein Lieblingshahn gemeint,
der Star seiner Hühnerzucht. Allerdings spiegelt die vom Historiker Prokop überlieferte Episode die oströmische Sicht der Dinge, wollte der hochrangige Autor damit doch die Unfähigkeit des weströmischen Kaisertums karikieren, in seiner Reichshälfte für Sicherheit und Ordnung zu sorgen.

Dort, im Westen, sah man die Dinge verständlicherweise anders. Der Kirchenvater Hieronymus, ein Zeitzeuge, nutzte seine rhetorischen Fähigkeiten, um in einem Nachruf auf die bekannte Asketin Marcella, die wohl von den Goten getötet wurde, den Untergang Roms in glühenden Farben zu beschreiben:

„Das Wort bleibt mir in der Kehle stecken und Schluchzen mischt sich beim Diktieren in meine Stimme. Die Stadt wird erobert, welche die ganze Welt unterjocht hat, ja sie wird eine Beute des Hungers, ehe das Schwert sie schlägt, und kaum einige wenige bleiben übrig, um in die Gefangenschaft geschleppt zu werden. Der Wahnsinn zwingt die Hungernden, zu entsetzlichen Nahrungsmitteln zu greifen; gegenseitig zerfleischt man sich die Glieder, und die Mutter schont nicht den Säugling und verzehrt den, welchen sie kurz zuvor geboren hat … Es häufen sich an den Straßen entlang Hügel von Leichen, und es herrscht das Gespenst, der Tod, in den Häusern.“

„Des Römischen Reiches Haupt ist abgeschlagen“ 

Mit diesem Ausruf an anderer Stelle fasste Hieronymus wohl das Entsetzen der Zeitgenossen zusammen, zumindest, wenn sie sich als Römer empfanden. Bei Alarich und seinen Goten sah das naturgemäß anders aus. „Auf Befehl Alarichs brannten sie die Stadt nicht nieder, wie es die Heiden zu tun pflegen, noch duldeten sie, dass an heiligen Orten Unrecht geschehe“, hielt der Historiker Jordanes, ein Gote, dagegen. So ganz falsch war das wohl nicht. Bereits nach drei Tagen zogen die Goten wieder ab, denn die Eroberung Roms hatte die Probleme der Goten keineswegs gelöst.

Alarich-Skulptur-6-Jh

Im Grunde war Alarich ein gescheiterter Politiker, der sich der Verantwortung durch seinen baldigen Tod entzog. Denn seine Goten waren alles andere als ein siegreiches Heer, sondern eher eine Ansammlung von Hungerleidern und Schutzsuchenden auf der Flucht. Als solche waren ihre Eltern nach 375 aus den nordpontischen Steppen ins Römische Reich gekommen, damals stark bedrängt von den Hunnen. Die Kaiser in Konstantinopel hatten ihnen Siedlungsgebiete unter autonomen Führern zugewiesen, wenn sie sich im Gegenzug an der Verteidigung des Imperiums beteiligten. Der epochale Sieg gotischer und alanischer Verbände über Kaiser Valens 378 bei Adrianopel (Edirne) hatte diese Vereinbarung auf Dauer gestellt.

Einer dieser gotischen Anführer wurde Alarich aus der angesehenen Familie der Balthen. Seine Macht beruhte darauf, dass er seinem bunt zusammengewürfelten Anhang (aus dem erst später die Westgoten werden sollten) ausreichende Versorgung verschaffte, sei es durch Land, Tribute oder Beute. Er selbst strebte nach einem hohen Posten in der Hierarchie des Reiches. Aber in dem Maße, in dem vor allem Ostrom erstarkte, wurde es immer schwieriger, die Erwartungen seiner Gefolgsleute zu erfüllen.

 

Goten wurden zwar weiterhin als Soldaten geschätzt, aber die Regierungen in beiden Reichshälften achteten darauf, dass sie sich in den zahlreichen Kriegen gegenseitig bekämpften und dabei dezimierten. Meisterlich beherrschte dieses Spiel Stilicho, der als Heermeister der mächtigste Mann am weströmischen Hof in Mailand war. Dem Sohn eines Vandalen und einer Römerin gelang es wiederholt, Alarich in schwere Bedrängnis zu bringen und als Hebel gegen seine Konkurrenten in Konstantinopel einzusetzen.

Immerhin besaß Alarich in Stilicho einen Ansprechpartner

Aber als der Hühnerzüchter Honorius 408 beschloss, sich seines allmächtigen Heermeisters durch Todesurteil zu entledigen, verloren die Goten ihren wichtigsten Anwalt. Immerhin führte das Massaker, das römische Truppen nach der Ausschaltung Stilichos unter Germanen in Italien veranstalteten, Alarich und seinem Anhang vor Augen, dass die Hoffnung auf angemessene Versorgung auf rechtlicher Grundlage wohl eine Chimäre bleiben würde.

Einigermaßen ziellos zogen die Goten nun – einige zehntausend Männer, Frauen und Kinder – durch Italien. Im Herbst 408 standen sie erstmals vor Rom, konnten aber mit 5000 Pfund Gold und 30.000 Pfund Silber zum Abzug bewogen werden. Einem Vertrag mit dem Kaiser kamen sie damit jedoch nicht näher. Auch als Alarich 409 zum zweiten Mal vor der Stadt erschien und den (längst völlig machtlosen) Senat dazu brachte, einen Gegenkaiser zu proklamieren, blieben Honorius und sein Hof hart. Zudem stoppten sie die Getreideversorgung aus Nordafrika.

Aus gotischer Perspektive erklärt sich die Eroberung Roms am 24. August 410 daher vor allem mit Verzweiflung. Nach drei Tagen des Plünderns, Vergewaltigens und Mordens zog Alarich weiter nach Süden. Denn die Versorgungslage blieb weiterhin prekär, und einen Vertrag bekamen die Goten auch nicht. Bei Messina geriet Alarich jedoch in eine Sackgasse, aus der ihn der Tod in Kalabrien befreite. Erst seine Nachfolger lösten das Problem, indem sie das Angebot des Kaisers annahmen und sich auf die Iberische Halbinsel durchschlugen, wo sie ein Reich errichteten.

Die Römer erholten sich relativ schnell von der Katastrophe
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Dabei half ihnen die epochale Deutung, die der Kirchenvater Augustinus dem Vorgang in seinem Hauptwerk „Der Gottesstaat“ gab: Zwar sei die Hauptstadt der Welt gefallen. Aber das bedeute nicht, dass dies das Ende der Geschichte sei. Im Gegenteil. Der Gott der Christen und die Erlösung der Welt durch ihn gäben der Geschichte erst ihren Sinn. Dann erst, am Ende aller Tage, „sammelt er alle leiblich Auferstandenen, und das verheißene Reich wird ihnen gegeben, wo sie mit ihrem Fürsten, dem Könige der Welten, ohne zeitliches Ende herrschen werden“.

Rom, folgerten die christlichen Leser des Kirchenvaters, bleibe daher bis ans Ende aller Tage, selbst wenn es jenseits der Alpen liegen würde. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation jedenfalls  zog daraus seine Legitimation.

Feb. 2024 | Allgemein, Essay, Feuilleton | Kommentieren