Willkommen in Wien, der Stadt, die möglicherweise den Code dafür geknackt hat, wie man innerstädtischen Wohnraum erschwinglich hält. Wie hat sie das geschafft?
Während andere Städte mit steigenden Mietpreisen zu kämpfen haben, die zum Teil darauf zurückzuführen sind, dass innerstädtische Wohnungen als kurzfristige Ferienunterkünfte genutzt oder von Immobilienspekulanten strategisch leer gehalten werden, stemmt sich die österreichische Hauptstadt gegen diesen Trend. In Wien, das im letzten Jahr ihren Titel als „lebenswerteste Stadt der Welt“ behalten hat, zahlen Mieter im Durchschnitt nur etwa ein Drittel dessen, was in London, Paris oder Dublin auf den Tisch gelegt werden muss, so eine aktuelle Studie der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte.
Ehrgeiziges Bauprogramm nach dem Ersten Weltkrieg
Dass Schranz‘ Wohnung so günstig ist, liegt unter anderem daran, dass sie im Besitz der Stadt ist. In Wien ist das (fast) Normalität. Als Vermieterin von rund 220.000 Sozialmietwohnungen ist sie die größte Wohnungseigentümerin in Europa (in London, wo es mehr als 800.000 Sozialmietwohnungen gibt, sind diese im Besitz der Stadtverwaltung). Ein Viertel der Wienerinnen und Wiener sind Sozialmieterinnen und Sozialmieter – rechnet man die rund 200.000 mit städtischer Förderung errichteten Genossenschaftswohnungen hinzu, ist es mehr als die Hälfte der Bevölkerung.
Viele dieser Wohnungen entstanden vor einem Jahrhundert im Rahmen eines enorm ehrgeizigen Bauprogramms nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, als Wien von Menschen überflutet wurde, die durch den Zusammenbruch des Habsburgerreichs entwurzelt worden waren. Finanziert vor allem durch die Verpfändung von Luxusgütern wie Champagner oder Pferden, schossen in der Anfangsphase des sozialistisch regierten „Roten Wien“ bis zum Putschversuch der Nazis im Jahr 1934 an der Zahl 65.000 Sozialmietwohnungen in die Höhe.
Der Reumannhof wurde in den 1920er Jahren vom Architekten Hubert Gessner als städtische Wohnhausanlage errichtet
Diese „Superblöcke“ aus den 20er und 30er Jahren sehen nicht wie gewöhnliche Sozialwohnungen aus. Da die modernistischen Ideale der zeitgenössischen Bauhaus-Schule noch nicht die Vorstellungskraft der österreichischen Architekten beflügelt hatten, haben sie zum Beispiel keine Flachdächer. Die berühmtesten Beispiele des Roten Wiens, wie der Karl-Marx-Hof im 19. Bezirk oder die Siedlungen entlang der „Ringstraße des Proletariats“ am Margaretengürtel, sehen eher wie Schlösser oder Klöster aus, mit Art-déco-Verzierungen an den Fassaden. Die Historikerin Eve Blau hat es so formuliert: „Wenn man etwas Radikales plant, ist es keine schlechte Idee, so konservativ wie möglich zu wirken.“
Sozialer Wohnungsbau ist nicht nur für Arme
Die meisten Wiener Gemeindesiedlungen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gebaut und sehen daher vertrauter aus. Aber auch sie sind nicht mit dem Stigma von Armut und Kriminalität behaftet, das man mit ähnlichen Siedlungen in den USA oder Europa verbindet. Schranz‘ Wohnung befindet sich im Theodor Körner-Hof, einer in den 50er Jahren errichteten Gruppe von 14 Wohnblöcken im Bezirk Margareten. Die sind alles andere als schick, aber dennoch so gepflegt, dass Schranz sich an Sommerabenden gerne in den grünen Innenhöfen aufhält, um seine Bücher zu lesen. Der Wiener Begriff für solche Siedlungen lautet „Gemeindebauten“, was auf die zugrunde liegende Philosophie hinweist.
„Einer der Schlüsselbegriffe zum Verständnis des Wiener Wohnkonzepts ist die soziale Nachhaltigkeit“, sagt Maik Novotny, Architekturkritiker. „Um Ghettoisierung und die damit verbundenen kostspieligen sozialen Konflikte zu vermeiden, bemüht sich die Stadt aktiv um eine Durchmischung von Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlichem Einkommen in Siedlungen. Sozialer Wohnungsbau ist – tatsächlich – nicht nur etwas für die Armen.“
Als Student ohne Behinderung oder Angehörige hätte Schranz in Ländern wie dem Vereinigten Königreich keine Chance auf eine Sozialwohnung, aber in Wien wurde er von der Stadt über ein Programm für Erstmieter unter 30 Jahren umworben.
„Es ist wichtig, eine Mischung von Menschen aus verschiedenen Lebensbereichen im sozialen Wohnungsbau zu haben, und ja, das ist nicht immer einfach“, sagt Kathrin Gaal, Wiens Vizebürgermeisterin und Wohnbaustadträtin. Eine Taktik ist eine Einkommensobergrenze von 57.600 Euro pro Jahr für Alleinstehende und 85.830 Euro für Zweipersonenhaushalte. Aber: „Wenn man als junger Student in den Gemeindebau eingezogen ist und im Laufe des Berufslebens mehr verdient, schauen wir nicht mehr nach, weil sich die Situation auch wieder verschlechtern kann“, sagt Gaal
Manchmal brechen Junkies in die Häuser ein
In Wien ist das soziale Wohnbauprogramm ein Ideal, auf das man sehr stolz ist. Spricht man zum Beispiel mit Heinz Barnerth, einem pensionierten Maschinenbauingenieur, der seit sieben Jahrzehnten in der Reumannhof-Siedlung in Margareten lebt, ist er voll des Lobes über seinen Wohnblock aus den 1920er-Jahren. Er sagt: „Das Wiener Modell ist aktueller denn je, denn überall sonst sind die Mietpreise kaum zu bremsen.“ Aber die Realität entspricht nicht immer dem schönen Ideal.
Die Stadt, so beschwert sich der 76-Jährige, brauche lange, um Reparaturen in seiner Siedlung vorzunehmen. Zum Beispiel funktioniert das Licht an der Kellertreppe seit drei Wochen nicht mehr. Auch wenn ein Türschloss kaputt ist, warten die Bewohner besser nicht auf die Verwaltung, um es zu reparieren. „Wenn man keinen Handwerker bestellt, der das Schloss über Nacht repariert, versuchen die Junkies einzubrechen“, sagt Barnerth. Das Unternehmen Wiener Wohnen ist alleine für die Verwaltung und Instandhaltung des großen Wohnungsbestands zuständig. Klar, dass das auch Nachteile mit sich bringt. Da dauert die Erfassung und Beauftragung von Hausmeistertätigkeiten auch mal länger.
Ein weiterer Nachteil des Wiener Modells besteht darin, dass zwar 60 Prozent der Einwohner der Stadt den Jackpot geknackt haben, indem sie in einen Gemeindebau oder eine geförderte Genossenschaft eingezogen sind. Aber: Nur wer seit zwei Jahren dauerhaft in Wien wohnt, kann eine Sozialwohnung beantragen. Diejenigen, die in privaten Mietwohnungen wohnen, sehen sich mit Problemen konfrontiert, die aus anderen europäischen Städten bekannt sind.
„Vor zwanzig Jahren waren private Mietwohnungen in Wien meist billig und von geringer Qualität“, sagt Justin Kadi, Assistenzprofessor für Planung und Wohnen an der Universität Cambridge. „Aber in den letzten Jahren haben sich die Privatvermietungen zu einem Segment des Wiener Wohnungsmarktes entwickelt, das in vielen Fällen nicht nur hochwertig, sondern auch ziemlich teuer ist.“
Ökonom: „Das Wiener-Modell ist nur Marketing“
Dies sei vor allem auf die Deregulierung Mitte der 90er Jahre zurückzuführen, die es den Vermietern erlaubte, von den Mietern Aufschläge zu verlangen. Und zwar nicht nur für die Größe und die Ausstattungsstandards, sondern auch für die Lage. Das führte oft zu willkürlichen Aufschlägen. Im Zuge der gleichen Reformen wurde es für Vermieter einfacher, Verträge zu befristen, wodurch private Mieter in Wien in eine unsichere Lage gerieten.
„Das Einzige, was andere europäische Städte von Wien lernen können, ist ihr Marketing“, sagt Harald Simons, ein in Berlin ansässiger Wirtschaftswissenschaftler und Forscher, der 2020 eine vernichtende Analyse des Wiener Wohnungsmarktes veröffentlichte. Wien, die zweitgrößte deutschsprachige Stadt Europas, habe „eine Einkommensstruktur, die eher der von Berlin ähnelt, aber durchschnittliche Neuvermietungspreise, die denen einer einkommensstarken Stadt wie Hamburg entsprechen“, so Simons. Er kritisiert Wiener Wohnen auch für seine undurchsichtige Buchhaltung: Diese lasse vermuten, dass die Finanzen des Unternehmens schlechter seien, als der Senat zugeben will. Außerdem würden die zu geringen Instandhaltungsausgaben der Stadt dazu führen, dass die für den sozialen Mix erwünschten Bezieher mittlerer Einkommen in private Wohnungen abwandern.
Und doch gibt es gute Gründe, warum das Wiener Modell des sozialen Wohnbaus in letzter Zeit wieder mehr Aufmerksamkeit und regelmäßige Besuche von internationalen Entscheidungsträgern erhält.
Der Karl-Marx-Hof in Wien ist mit ungefähr 1050 Metern Länge der längste zusammenhängende Wohnbau der Welt
Während die Zahl der Sozialwohnungen in London mit etwa 800.000 im Großen und Ganzen stabil geblieben ist, geht die Anzahl von städtischem Wohnungsbestand weiter zurück. Das ist zum Teil darauf zurückzuführen, dass sie im Rahmen des „Right-to-buy“-Programms in Privatwohnungen umgewandelt werden. Zum Teil aber auch auf den Mangel an neuen Wohnungen, die gebaut werden, während die britische Hauptstadt weiter wächst. Aus kurz vor Weihnachten veröffentlichten Zahlen geht hervor, dass im Vereinigten Königreich 105. 000 Haushalte wegen des Mangels an Sozialwohnungen in provisorischen Unterkünften festsitzen. Viele Städte in Kontinentaleuropa haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen: Berlin beispielsweise hat sein Ziel von 20.000 neuen Wohnungen im Jahr 2022 verfehlt und konnte im vergangenen Jahr nur etwa 16.000 neue Wohnungen bauen.
Ein Glücksfall im Jahr 1984
Wien hingegen hat den Vorteil, dass es eine Monopolstellung innehat, die nie aufgegeben wurde. „Wir sind nie der Versuchung erlegen, unsere Gemeindewohnungen oder geförderten Wohnungen zu verkaufen, wie es viele andere europäische Städte getan haben, um ihre Haushaltslöcher zu stopfen“, sagt Gaal. „Das bedeutet, dass unser Wohnungsbestand immer noch riesig ist.“
Vor etwa 40 Jahren wurde in Wien ein „Bodenbereitstellungs- und Stadterneuerungsfonds“ eingerichtet, der Grundstücke in der Stadt ausschließlich für den sozialen Wohnungsbau reserviert: Er verfügt derzeit über drei Millionen Quadratmeter, darunter landwirtschaftliche Flächen oder Brachflächen, stillgelegte Bahngleise und leerstehende Krankenhäuser, die er ausschließlich an soziale Bauträger ausschreiben kann. „Diese Art der systematischen Vorratshaltung könnte auch in anderen Ländern Schule machen“, meint Gaal.
Wien hat 2019 eine neue Bebauungsvorschrift eingeführt, die besagt, dass in Siedlungen mit mehr als 5.000 Quadratmetern Wohnfläche zwei Drittel geförderte Wohnungen sein müssen. „Für die Städte stellt sich immer die Frage, ob sie eine gute Verhandlungsposition gegenüber den Grundeigentümern haben“, räumt selbst Wien-Skeptiker Simons ein. „Und Wien hat eine gute.“ Der Grundstücksvermittlungsfonds der Stadt stimmt sich eng mit der Abteilung für die Erteilung von Baugenehmigungen ab und kann entsprechend verhandeln.
Ob Wien sein Ziel, 5.500 neue Gemeindebau-Wohnungen bis 2025 zu errichten, erreichen wird, bleibt abzuwarten. Ob das ausreichen wird, wenn die Stadt bis 2038 wieder die Einwohnerzahl von 1910 erreichen soll, ist eine ganz andere Frage. Aber es werden konkrete Schritte unternommen. Nach einem elfjährigen Baustopp für neue Sozialwohnungen hat die Stadt 2015 wieder mit dem Bau neuer Gemeindebau-Blöcke begonnen und bis 2024 sogar 557 Millionen Euro für neue Projekte bereitgestellt. Eines der jüngsten Projekte des lokalen Architekturbüros WUP liegt etwa sieben Kilometer östlich des Stadtzentrums in der Seestadt Aspern, einem neuen Stadtzentrum, das auf dem Gelände eines ehemaligen Flugplatzes entstanden ist.
Margarete Stoklassa, 73, und ihr Mann sind im April letzten Jahres in eine der 74 Wohnungen einer Siedlung im Stadtzentrum gezogen, weil sie einen barrierefreien Zugang brauchten – und sie sind mehr als zufrieden. Mit 50 Quadratmetern ist ihre neue Wohnung zwar nicht riesig, aber ein runder Grundriss und mehrere Schiebewände sorgen dafür, dass „ich manchmal mit meinem Mann Verstecken spielen muss“, sagt Stoklassa. „Ich bin sehr glücklich; alles, was ich brauche, ist hier.“ Das Paar zahlt 520 Euro Miete im Monat.
Die Fassaden des neuen Gemeindebaus sind in kreidigen Rot-, Blau- und Grüntönen gestrichen, die an die mächtigen Festungen des Roten Wiens erinnern. Angesichts der hohen Preise für Baumaterialien, die während der Bauphase in die Höhe geschossen sind, gibt es allerdings viel nackten Beton und verzinkten Stahl. „Der Anstieg der Rohstoffkosten hat uns gezwungen, uns auf das zu konzentrieren, was den sozialen Wohnungsbau ausmacht“, sagt der Architekt Bernhard Weinberger.