Im Jahr 1641 malte Rembrandt van Rijn, Künstler und Betreiber einer Malerwerkstatt in Amsterdam, das Porträt einer jungen Frau mit langen, offenen Haaren unter einem großen dunklen Hut. Es ist unter dem Titel „Das Mädchen im Bilderrahmen“ bekannt und wird in Warschau verwahrt. Das Gemälde ist ein „Tronie“, also kein Porträt eines lebenden Menschen, sondern ein Abbild ohne Vorbild, die gemalte Fantasie einer Person, die es nicht gab.
„Tronies“ waren damals neu,
hervorgegangen aus einem frisch entstandenen Kunstmarkt
Und der war an die Stelle der mäzenatischen Aufträge getreten – zu welchem ein Vertriebssystem gehörte, das weitgehend in den Händen der Künstler lag. Doch als wäre es nicht unheimlich genug, dass ein ebenso hübsches wie unwirkliches Wesen den Betrachter anschaut, greift das Mädchen mit beiden Händen auf den ebenfalls gemalten Bildrahmen aus Ebenholz. Es ist, als wollte es seine Unwirklichkeit durch einen Übergriff in die Realität ausgleichen. Aber so verdoppelt sich nur die Fiktion.
Von barocken Täuschungen handelt ein kleines Buch, das der Hamburger Kunsthistoriker Wolfgang Kemp vor Kurzem veröffentlichte, vom Verlust der Gewissheiten und dem Versuch, dagegen die Realität eines „Ich“ zu behaupten. Dem Trompe-l’Œil-Maler Rembrandt stellt er René Descartes gegenüber, den Philosophen der Täuschung. „Ich weiß, wie sehr wir in allem, was die eigene Person betrifft, der Selbsttäuschung unterworfen sind“, heißt es in Descartes’ „Abhandlung über die Methode“, veröffentlicht im Jahr 1637 im niederländischen Leiden.
In der Fortsetzung des Gedankens erklärt er, sein Leben „wie in einem Gemälde“ darstellen zu wollen, mit dem Ziel, alle „Zweifel und Irrtümer“ auszuräumen, sodass am Ende nur noch das wahrhaftige Ich übrig bleibe. Descartes lebte zu jener Zeit hauptsächlich in Amsterdam, im damals freiesten Land Europas, und er blieb dort, bis er im Sommer 1649 nach Stockholm, an den Hof der schwedischen Königin gerufen wurde (wo er dann starb). Ob er Rembrandt je begegnete, ist nicht gewiss.
Die Parallelität nicht nur der Lebensumstände, sondern auch der Motive ist allerdings frappierend, und sie wird umso erstaunlicher, je weiter Kemp in die Einzelheiten der Schriften und Bilder vordringt. „Cogito ergo sum“ hatte Descartes in seinen „Meditationen über die Grundlagen der Philosophie“ aus dem Jahr 1641 erklärt, „ich zweifle, also bin ich“. Vielleicht, so hatte der Denker geargwöhnt, sei das Leben nur ein Traum. Vielleicht, so hatte er weiter überlegt, sei er selbst nur eine Figur im Traum eines Anderen. Und wer träumt den Anderen? Doch wenn es einen Zweifel gebe, müsse es eine Instanz geben, die zweifelt. Auf diese Weise meinte Descartes, die tatsächliche Existenz eines „Ich“ beweisen zu können, auf Kosten der göttlichen Ordnung, die bis dahin für das Vorhandensein von Ich und Welt verantwortlich gewesen war. Doch taugt Descartes’ vermeintlicher Beweis nicht viel. Er ist eine „petitio principii“, ein Zirkelschluss, in dem das Ergebnis zugleich die Voraussetzung des Gedankens bildet.
Die Folgen des inneren Widerspruchs liegen auf der Hand: Auf der einen Seite treibt er den Philosophen in unendlich viele Versuche, seiner selbst durch sinnliche Erfahrungen habhaft zu werden: Der systematisch operierende Zweifel bringt ein unsystematisches, von Einfall zu Einfall, von Objekt zu Objekt springendes Prüfungswesen hervor, in dem Regen und Hagel, Honigscheiben und Blumenduft als Garanten der Wirklichkeit dienen sollen. Und auf der anderen Seite spreizt sich ein „Ich“ auf, das, eben weil es die einzige Gewissheit sein soll, letztlich alles sein will. Solipsismus ist der passende Ausdruck für dieses Verfahren, doch der darin waltende Anspruch ist nicht weit vom Größenwahn entfernt. Rembrandts Gemälde sind keine Illustrationen der Lehren Descartes’. Doch ist die Parallelität, in der ein Gedankengebäude und eine Bildkunst einander gegenüberstehen, weitaus mehr als eine historische Koinzidenz: Rembrandts Gemälde sind rationalistische Philosophie, in Bilder gefasst, und Kemp entfaltet nicht nur seine kunsthistorischen Kenntnisse, sondern auch einen beträchtlichen detektivischen Spürsinn, um zu jedem Schritt des Gedankens die passenden Kunstwerke zu finden: In den „Tronies“ erkennt er das Wesen, das der Wirklichkeit zu entstammen scheint, tatsächlich aber der Traum eines Anderen ist, in den Verkleidungen und Fratzen, mit denen Rembrandt in seinen Selbstporträts auftritt, sieht er das vergebliche Streben nach einem festen, unverwechselbaren „Ich“, in den Trompe-l’Œils die immer wieder aufs Neue wiederholte Herausforderung der sinnlichen Gewissheit.
Auf die Spitze getrieben, in der Bildkunst wie in der Welt der Gedanken, erscheint die Philosophie des radikalen Zweifels, mitsamt der unauflöslich dazugehörigen Hypertrophie des Ich in einer kleinen Zeichnung Rembrandts, die heute im Louvre aufbewahrt wird. Sie trägt den Titel „Meditierender Philosoph“ und zeigt einen einsamen Mann in einem Raum, der einem spiralförmig gestalteten Schneckengehäuse nachgebildet zu sein scheint: ein kleines Verstandestier in einem ebenso unendlichen wie geschlossenen Interieur, in dem eine Magd ein Feuer unterhält und das Essen vorbereitet. Das Bild, schreibt Kemp, sei „ein geradezu exzessiver Versuch über die Frage, wie viele Kreisformen und Kreisfragmente man in einem Raum, in einem Bild unterbringen kann“. Zugleich ist es eine allegorische, extrem verdichtete Darstellung von Zweck, Anmaßung und Vergeblichkeit einer Philosophie, mit der das moderne Denken beginnt.
THOMAS STEINFELD
Dem Maler Rembrandt stellt er
René Descartes gegenüber,
den Philosophen der Täuschung
In der Philosophie des radikalen
Zweifels liegt das
moderne Denken begründet
Rembrandts „Das Mädchen im Bilderrahmen“ scheint aus dem Rahmen herausgreifen zu wollen. Foto: images / Alamy Stock Picture
Wolfgang Kemp: Die ehrbaren Täuscher. Rembrandt und Descartes im Jahr 1641. Schlaufen-Verlag, Berlin 2023.
168 Seiten, 22,50 Euro.