Aus dem Englischen von Bernhard Jendricke, Christa
Prummer-Lehmair und Thomas Wollermann
C.H.Beck
Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel
«A little History of Art» bei Yale University Press
© 2022 by Charlotte Mullins


Mit 173 Abbildungen
© Verlag C.H.Beck oHG , München 2023
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zum Zwecke des Text and Data Mining vorzunehmen.
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Umschlaggestaltung: geviert.com, Nastassja Abel,
nach dem Entwurf von Mat Pringle
Umschlagabbildungen: Linolschnitte von Mat Pringle
Satz: Fotosatz Amann, Memmingen
Druck und Bindung: Pustet Regensburg
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Printed in Germany
ISBN 978-3-406-80622-3
klimaneutral produziert
www.beck.de/nachhaltig
Inhalt
1 Erste Spuren ___________________________________ 7
2 Bildergeschichten ______________________________ 18
3 Die Illusion des Lebendigen _____________________ 28
4 Kopisten______________________________________ 39
5 Wege ins Jenseits ______________________________ 50
6 Die Kunst im Bunde mit der Religion ____________ 61
7 Gewitterwolken ziehen auf _____________________ 72
8 Die Kunst der Propaganda ______________________ 83
9 Steinmetze, Moai und Materialien _______________ 94
10 Rückbesinnung und Neuanfang:
Die Renaissance ______________________________ 105
11 Die Renaissance erreicht den Norden____________ 116
12 Auf die richtige Perspektive kommt es an ________ 128
13 Osten trifft Westen ____________________________ 139
14 Die Rückkehr Roms ___________________________ 150
15 Feuer und Schwefel ___________________________ 160
16 Hier kommen die Barbaren ____________________ 171
17 Spanien gibt den Ton an _______________________ 182
18 Das Theater des Lebens ________________________ 193
19 Neue Sichtweisen_____________________________ 205
20 Ansichten und Aussichten _____________________ 216
21 Stillleben und bewegte Szenen _________________ 227
22 Rokoko-Eskapismus und Leben in London_______ 238
23 Königliche Akademien ________________________ 249
24 Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit?_____________ 259
25 Von der Romantik zum Orientalismus ___________ 270
26 Die Realität schmerzt__________________________ 281
27 Die Impressionisten ___________________________ 293
28 Künstler zeigen Haltung _______________________ 304
29 Die Post-Impressionisten_______________________ 315
30 Neue Horizonte_______________________________ 327
31 Das Ende aller Regeln _________________________ 338
32 Die Kunst wird politisch _______________________ 349
33 Land der unbegrenzten Möglichkeiten? _________ 360
34 Der Nachhall des Krieges ______________________ 370
35 Die amerikanische Kunst wird erwachsen________ 382
36 Die Skulptur steigt vom Sockel _________________ 393
37 Wir brauchen keine neuen Helden ______________ 404
38 Eine postmoderne Welt________________________ 415
39 Mach es richtig groß oder lass es sein____________ 428
40 Kunst als Widerstand__________________________ 440
Bildnachweis ________________________________ 451
Register _____________________________________ 458
Kapitel 1
Erste Spuren
S üdfrankreich vor 17 000 Jahren – zwei Menschen zwängen sich
durch eine Felsöffnung und folgen einem langen, verschlunge-
nen Höhlengang. Zu ihren Füßen bahnt sich ein rauschender Fluss
unermüdlich seinen Weg durch das Gestein. Es ist pechschwarz um
sie herum, kein Laut der Außenwelt dringt zu ihnen. Der Ältere trägt
eine Fackel, deren qualmende Flamme Lichtfinger über die Wände
huschen lässt. Die Blicke des Jugendlichen, der ihm folgt, gleiten über
Zeichnungen von Bisons und Hirschen an den Wänden. Manchmal
ist es so eng, dass sie auf allen vieren kriechen müssen. Ab und zu
machen sie einen Bogen um das Skelett eines Höhlenbären, dem frü-
here Besucher die Reißzähne ausgebrochen haben, um sie zu Anhän-
gern und Halsketten zu verarbeiten.
Schließlich erreichen sie den äußersten Punkt des Höhlensys-
tems, mehr als einen halben Kilometer vom Einstieg entfernt. Vor-
sichtig auf den Fersen balancierend, um nicht im weichen Unter-
Erste Spuren 8
9 Erste Spuren
grund steckenzubleiben, gehen sie in die Hocke und schneiden mit-
hilfe eines scharfen Felssplitters, den sie zu diesem Zweck mitge-
bracht haben, einen schweren Klumpen Ton aus dem feuchten
Höhlenboden. Ihre Füße sinken etwas ein, als sie den wuchtigen
Klumpen aufheben und ihn zu einem freistehenden Felsen schlep-
pen. Dort machen sie sich ans Werk. Unter ihren Händen verwan-
delt sich der Brocken allmählich in zwei Bisons, beide etwa so groß
wie der Arm eines Erwachsenen. Die Tiere schmiegen sich den For-
men an, die ihre Felsunterlage vorgibt, und heben sich zugleich stolz
von der Oberfläche ab. Das männliche Tier bäumt sich hinter dem
weiblichen auf.
Die Schöpfer stehen vor ihrem Werk, beleuchtet von ihrer hoch-
erhobenen Fackel. Die Bisons scheinen zum Leben zu erwachen, sie
schütteln ihre Mähnen auf ihren wuchtigen Nacken und ihre
Schwänze zucken im flackernden Licht.
◊ ◊ ◊
Entstanden diese Skulpturen für ein Fruchtbarkeitsritual, dienten sie
der Beschwörung eines magischen Schöpfungsmythos? Oder war
der Jugendliche tief in das Höhlensystem geführt worden, weil dies
zu einem Übergangsritus auf dem Weg zum Erwachsenenleben ge-
hörte? Darüber können wir nur spekulieren. Die beiden Bisons in
der Höhle von Tuc d’Audoubert in Frankreich entstanden im Paläo-
lithikum, der Altsteinzeit. Sie wurden in vorgeschichtlicher Zeit mo-
delliert, lange bevor es schriftliche Aufzeichnungen gab, lange bevor
die Schrift überhaupt erfunden war. Es sind die ältesten bekannten
Beispiele für Reliefskulpturen – Figuren, die mit dem Hintergrund
verbunden bleiben, sich aber von ihm abheben. Bis heute erhaltene
Fußabdrücke im weichen Boden und Fingerspuren auf den Skulp-
turen geben Archäologen und Paläontologen Hinweise darauf, wie
und von wem die Bisons geschaffen wurden. Es ist atemberaubend,
1 • Bisonskulptur, ca. 17 000 Jahre alt, Höhle von Tuc d’Audoubert,
Frankreich
Erste Spuren 10
diese Abdrücke heute zu sehen – man könnte denken, dass die Bi sons
gerade eben erst entstanden sind, dass die Künstler, deren Hände
eben noch den Lehm formten, erst vor kurzem gegangen sind. Was
wir jedoch nicht mit Sicherheit sagen können, ist, zu welchem Zweck
die Skulpturen geschaffen wurden. Was bedeuteten solche Kunst-
werke für unsere Vorfahren, und was können sie uns heute sagen?
Hatten die Menschen der Steinzeit überhaupt eine Vorstellung da-
von, was «Kunst» ist?
In diesem Buch werden wir einer Vielzahl von Dingen aus unter-
schiedlichsten Materialien begegnen, die heute sämtlich fraglos als
Kunst anerkannt sind. Doch was meinen wir eigentlich damit, wenn
wir etwas mit dem so schwer zu fassenden Begriff «Kunst» bezeich-
nen? Was Kunst genau bedeutet und welchen Stellenwert sie in
einer Gesellschaft hat, ändert sich im Laufe der Zeit. Klar ist jedoch,
dass Kunst immer etwas auszudrücken versucht, was sich mit blo-
ßen Worten nicht fassen lässt. Ein Künstler unserer Tage, der im Iran
geborene US -amerikanische Maler Ali Banisadr meint, in aller Kunst,
von der Höhlenmalerei bis heute, stecke Magie. Auch die Künstler
der Steinzeit, so ist er überzeugt, «strebten nach dem Übersinnlichen,
sie wollten etwas in visuelle Sprache übertragen, das sich nicht wirk-
lich verstehen lässt. Kunst und Magie sind unzertrennlich.» Was
bedeutet das? Banisadr meint natürlich nicht irgendeinen Hokus-
pokus, mit dem man Kaninchen aus dem Hut zaubert, sondern eine
geheimnisvolle Kraft, eine unerklärliche Macht. Diese Art von Magie
verleiht einem Gegenstand oder Zeichen an einer Wand die Fähig-
keit, hochkomplexe Ideen, die weit über den Bereich der Sprache
hinausreichen, schlagartig erfassbar zu machen. Künstler verstehen
diese Magie zu nutzen, um die einfachsten Zeichen oder alltäglichs-
ten Materialien – Holzkohle, Stein, Papier, Farbe – in Kunstwerke zu
verwandeln.
Wenn Künstler die Skulptur eines Tiers formen oder eine Gestalt
malen, dann streben sie nicht notwendigerweise nach größtmög-
licher Lebensähnlichkeit, sondern sie versuchen, etwas Wesentliches
über dieses Tier oder diese Gestalt zum Ausdruck zu bringen. Daher
11 Erste Spuren
ist aller Kunst – ganz gleich, wie unterschiedlich sie auf den ersten
Blick erscheint – letztendlich etwas gemeinsam. Während der ge sam-
ten Geschichte (und Vorgeschichte) der Menschheit haben Künstler
stets nach dem besten Ausdrucksmittel für ihre Ideen gesucht. Darin
liegt die der Kunst eigene «Magie», mit uns in Verbindung zu treten
und uns innerlich zu berühren, auch wenn wir manchmal selbst
nicht erklären können, wie das geschieht. Kunst kann uns helfen,
die Welt und unseren Platz in ihr mit anderen Augen zu sehen und
ein wenig klarer zu bestimmen. Mit anderen Worten: Kunst hat die
Kraft, vieles zu bewirken und zu verändern.
In diesem Buch unternehmen wir eine Reise, die uns von einigen
der ältesten Fundstätten von Kunst bis in unsere Tage führt, und wir
erforschen, wie Kunst und Künstler unsere Welt geformt und be-
einflusst haben. Allerdings bietet sich uns hier kein eindeutiger Pfad
durch die Geschichte an, auch wenn das frühere Darstellungen gerne
behaupten. Wir sind vielmehr auf einem Netz vielfältig miteinander
verschlungener Pfade unterwegs, die uns durch die Zeit führen.
Manche Künstler, wie die Schöpfer der beiden Bisons, hat die Zeit
in der Anonymität versinken lassen, andere wurden zu Lebzeiten
verehrt, sind aber heute weitgehend vergessen. Manche Künstler
kennt praktisch jeder, während viele von nicht geringerem Talent
weit weniger gewürdigt werden. Zusammen werden wir die Welt der
Kunst durchstreifen, vergessenen Künstlern die ihnen gebührende
Ehre erweisen und die traditionelle Auffassung dessen, was Kunst-
geschichte ist, zu erweitern versuchen.
Unsere Reise beginnt, so unglaublich es klingt, vor 100 000 Jah-
ren, als der Homo sapiens zum ersten Mal Farbe herstellte, indem er
Rötel und rotes Ockergestein zerrieb und diesen Pigmentstaub mit
Fett vermischte, das er aus im Feuer erhitzten Knochen gewann. In
der südafrikanischen Blombos-Höhle fand man Meeresschnecken
mit 100 000 Jahre alten Farbrückständen. Kunst ist aus dieser Zeit
nicht erhalten, womöglich diente Farbe, die in den Schneckengehäu-
sen aufbewahrt wurde, auch zur Körperbemalung oder kam bei Be-
stattungsriten zum Einsatz. Doch die Möglichkeit zur Herstellung
Erste Spuren 12
von Farbe, und damit zur planvollen und kreativen Veränderung der
Welt, war hier bereits angelegt.
Bereits bevor der Homo sapiens vor rund 60 000 Jahren begann,
sich nach Europa und Asien auszubreiten, hatte er dekorative Spu-
ren auf Gegenständen und Wänden hinterlassen. Verzierungen kön-
nen Oberflächen ansprechender wirken lassen, aber sie enthalten
keine tiefere Botschaft. Punkte und Kreuze auf einem Tongefäß wol-
len uns nichts darüber erzählen, was es bedeutet, ein Leben als
Mensch zu führen. Das kann nur die Kunst. Bislang wurden keine
prähistorischen Wandgemälde in Afrika gefunden, aber die Ähnlich-
keiten zwischen späteren Beispielen aus Indonesien und Europa
weisen Gemeinsamkeiten auf, deren Ursprung man im Afrika vor
der Zeit des großen Aufbruchs vermuten kann – eine verlockende
Theorie, aber bisher nicht mehr als das.
Zu den frühesten bekannten von Menschen hinterlassenen Spu-
ren gehören Anhäufungen von Punkten und Handabdrücken, die
man zusammen mit Tierabbildungen an Höhlenwänden fand. Rote
Ockerfarbe wurde mithilfe eines hohlen Vogelknochens über die an
die Wand gelegte Hand geblasen, wodurch eine Schablonenzeich-
nung, oder ein «Stencil», wie man heute sagen würde, entstand. In
der Chauvet-Höhle in Frankreich findet sich an vielen Stellen der
Handabdruck ein und derselben prähistorischen Person, die man an
einem gekrümmten kleinen Finger erkennt. In Borneo gibt es frühe
Handabdrücke in einem abgelegenen Höhlensystem in Ost-Kalima-
natan, und in Sulawesi erscheinen sie auf den Wänden einer Kalk-
steinhöhle. Diese Arrangements von Handabdrücken, entstanden
sämtlich vor rund 35 000 Jahren an Orten, die Tausende von Kilo-
metern auseinanderliegen, vermitteln alle dieselbe Botschaft: Ich
war hier, ich habe ein Zeichen gesetzt, meine Markierung hinter-
lassen. Solche Handabdrücke sind noch keine Kunst – man kann sie
eher als Signaturen verstehen, vielleicht stammen sie von denselben
Personen, die auch die Tiere malten. Als die ersten echten Kunst-
werke gelten die frühesten Tierdarstellungen. Und damit beginnt
unsere Reise nun wirklich.
13 Erste Spuren
Abbildungen von Tieren erschienen um dieselbe Zeit wie die
Handabdrücke, manche sogar etwas früher. Neben der Hand eines
frühen Bewohners von Sulawesi befindet sich ein Babirusa oder
Hirscheber, gezeichnet in schwungvollen, weit ausholenden Linien.
Die Darstellung ist mindestens 35 700 Jahre alt. Tief in der Höhle Le-
ang Tedongnge fand man die Zeichnungen dreier Wildschweine, die
vor unglaublichen 45 500 Jahren entstanden. Es sind die ältesten be-
kannten Beispiele figurativer Kunst, also der Darstellung erkennba-
rer Gegenstände. Sowohl in Indonesien als auch in Europa wurden
die Tiere mit kräftigen Umrissen im Profil gezeichnet. Die Abbildung
konzentriert sich auf ihre Silhouette und auffälligsten Merkmale:
Hörner, Mähnen und Geweihe. Es muss ein ehrfurchtgebietender
2 • Handabdrücke, ca. 35 000 Jahre alt, Sulawesi, Indonesien
Erste Spuren 14
Anblick gewesen sein, sie im Schein
der Fackeln tief im Innern der Höhle
auftauchen zu sehen.
Im Boden der Höhlen, in denen
der Homo sapiens lebte, fanden sich
auch kleine Skulpturen. Knochen,
Stoßzähne von Mammuts und Steine
wurden in Tiere und menschlich-
tierische Zwitterwesen verwandelt.
Ein Beispiel ist der 40 000 Jahre alte
Löwenmensch aus Mammutknochen,
der in einer Höhle im Lonetal in
Süddeutschland gefunden wurde.
Weibliche Figuren präsentieren sich
mit großen Brüsten, ausladendem
Gesäß und prallem Babybauch, so
die 25 000 Jahre alte Venus von Wil-
lendorf aus Kalkstein. Diese Plasti-
ken hatten womöglich die Funktion
eines Talismans, dem man Schutz-
kräfte zuschrieb und den man bei
sich trug, weil er einem Sicherheit
und Kindersegen versprach.
Archäologen datieren heute Skulpturen und Gemälde mit exak ten
wissenschaftlichen Techniken. Sie können das Alter der Materialien
bestimmen, die benutzt wurden, manchmal helfen ihnen auch die
Ablagerungen, die sich über ihnen gebildet haben. Doch vor dem
20. Jahrhundert hätten die Menschen noch über die Vorstellung ge-
lacht, dass diese Kunstwerke viele Jahrtausende vor der Römerzeit
entstanden sind. Noch im 19. Jahrhundert glaubte man, die Welt sei
erst ein paar tausend Jahre alt, und als frühestes Datum, ab dem man
3 • Venus von Willendorf, ca. 30 000 Jahre alt,
Naturhistorisches Museum, Wien
15 Erste Spuren
Kunstschaffen überhaupt für möglich hielt, galt die «prä-römische»
Epoche. Die bahnbrechenden Forschungen von Charles Lyell und
Charles Darwin über die geologischen Erdzeitalter und die Evolution
der Arten führten schließlich zu der Erkenntnis, dass die Welt und
ihre Bewohner viel älter sind als bis dahin gedacht, und zwar um
Millionen Jahre älter. Erst nach der Veröffentlichung der Theorien
von Lyell und Darwin begannen Archäologen, Fundstücke wie Äxte
aus Feuerstein und menschliche Skelette systematisch zu katalogisie-
ren, um diese Forschungen zu belegen.
Mit dem Alter der entdeckten Skelette fand man sich schließlich
ab, doch als 1879 die neunjährige María Sanz de Sautuola und ihr
Vater erzählten, sie hätten an der Decke einer Höhle auf ihrem
Grundstück prähistorische Darstellungen von Bisons und Pferden
gesehen, brach die Gelehrtenwelt in schallendes Gelächter aus. Dies,
so die einhellige Meinung, könnten nur Fälschungen sein, dafür
hätte das primitive Vorstellungsvermögen des prähistorischen Men-
schen niemals ausgereicht! Die fraglichen Zeichnungen befanden
sich in Altamira in Spanien in einem Höhlensystem, das aus meh-
reren großen Kavernen und Durchgängen bestand. Sie waren sämt-
lich mit in den Stein geritzten oder mit Holzkohleumrissen und roter
Ockerfarbe gezeichneten Tieren verziert. Marcelino, viel belächelt ob
seiner Behauptung, auf prähistorische Kunst gestoßen zu sein, starb
1888. Erst 1902 wurde seine Entdeckung als das anerkannt, was sie
ist. Heute weiß man, dass die Höhlenmalereien von Altamira bis zu
36 000 Jahre alt sind.
Funde von Höhlenkunst sind immer eine Sensation. Die Wild-
schweine in der Leang-Tedongnge-Höhle in Sulawesi sind erst seit
2021 bekannt, weitere Entdeckungen aus jüngerer Zeit werden der-
zeit systematisch dokumentiert. In Europa gibt es zahlreiche, seit
Jahrzehnten bekannte und daher gut erforschte Fundorte von Höh-
lenkunst. Eine der berühmtesten ist die Höhle von Chauvet in
Frankreich. Die dortigen Malereien sind bis zu 33 000 Jahre alt. Drei
erfahrene Höhlenforscher entdeckten sie 1994, als sie einem verrä-
terischen Luftzug nachgingen. Sie stießen auf eines der besterhal-
Erste Spuren 16
tenen Beispiele für Höhlenmalerei weltweit. Ein Löwenrudel zieht
aufmerksam spähend über eine Wand, die gefleckten Schnauzen
witternd in Richtung Beute gereckt. Auf einer anderen Felsflanke
kämpfen Nashörner miteinander, die schwarzen Mähnen aufgestellt,
die Ohren gespitzt. Ein Tier reiht sich an das nächste, alle in kräftigen
Holzkohleumrissen gezeichnet, hier und da werden die Körperfor-
men durch Schattierungen betont. Manche sind mit einer Vielzahl
von Beinen ausgeführt, so als hätte man auf diese Weise versucht,
ihre Laufbewegung einzufangen.
Letztlich können wir nicht wissen, wie die Gemälde und Skulp-
turen, die in Höhlen wie der von Chauvet gefunden wurden, ur-
sprünglich gewirkt haben. Viele dieser Felsbehausungen scheinen
nach einiger Zeit verlassen und erst Jahrtausende später wieder be-
nutzt worden zu sein, sodass sich neue Kunst um bereits vorhandene
gruppierte. Mithilfe moderner Datierungstechniken lässt sich feststel-
len, dass manche der Tiere von Chauvet Jahrtausende nach anderen
hinzukamen. Das ist in etwa so, als würden wir heute den Wand-
schmuck im Grab von Tutanchamun mit zeitgenössischen Bildnissen
ergänzen.
In der Chauvet-Höhle fand man Bärenskelette, aber keine mensch-
lichen Überreste. Das lässt vermuten, dass die Frühmenschen dort
nicht lebten, sondern lediglich Zeremonien abhielten. Vielleicht war
die Höhle für sie so etwas wie für uns heute ein Gotteshaus oder eine
Art Museum. Sie ist ein natürlich entstandener Versammlungsort
von beeindruckender Größe, womöglich wurden dort Jugendliche
ins Erwachsenenleben eingeführt, oder man beging besondere Tage,
die mit dem Wechsel der Jahreszeiten oder den Wanderungsbewe-
gungen von Tieren zu tun hatten. Die Anführer der Gruppierungen
könnten vor den Tierbildern als Hintergrund von sagenhaften Jagd-
erlebnissen erzählt haben. Die Tiere im Fackelschein aufleuchten zu
lassen, unterstrich sicherlich die Dramatik ihrer Geschichten. Oder
Schamanen nutzten die Malereien, um Tiergeister zu beschwören –
nicht alle der dargestellten Tiere wurden gegessen, manche waren
bloß gefürchtet und respektiert.
17 Erste Spuren
Man darf nie vergessen, dass wir mit unseren Augen aus dem
21. Jahrhundert in die Tiefe der Zeit hineinblicken, wenn wir diese
ersten Gemälde und Skulpturen betrachten. Wenn wir die Abbildun-
gen der Chauvet-Löwen in diesem Buch sehen, ist gewiss nicht un-
ser erster Gedanke, dass sie plötzlich zum Leben erwachen und uns
auffressen könnten. Wir können diese Gemälde heute bewundern,
aber es ist unwahrscheinlich, dass sie in uns dieselben Gefühle her-
vorrufen wie in den Menschen, die sie vor 33 000 Jahren im Fackel-
schein betrachteten. Aus diesem Grund werden wir uns in diesem
Buch zu Beginn jedes Kapitels in die Zeit zurückversetzen, in der die
Kunstwerke entstanden, und uns vorzustellen versuchen, wie sie
damals wirkten. Wer hat Lust, mich auf dieser Zeitreise zu begleiten?
Nächster Halt: Mesopotamien.
4 • Nashörner, ca. 33 000 Jahre alt, Höhle von Chauvet, Vallon-Pont-d’Arc,
Frankreich
Kapitel 2
Bildergeschichten
W ir befinden uns im Jahr 3300 v. Chr. In einem der Göttin
Inanna geweihten Tempel im mesopotamischen Uruk be-
gutachtet der Herrscher des Reichs eine große, reich verzierte Vase
aus Alabaster. Sie ist etwa einen Meter hoch und mit zahlreichen als
Relief aus dem weichen Stein herausgearbeiteten Figuren bedeckt.
Dargestellt ist eine kultische Szene, eine Art Erntedankfest. Die Vase
ist in vier separate «Register» oder horizontale Reliefbänder unter-
gliedert. Der Herrscher beginnt, sie zu «lesen», von unten nach
oben.
An der Basis sind durch eine Schlangenlinie die fließenden Wasser
des Euphrat und Tigris angedeutet. Flachspflanzen und Dattelpalmen
säumen die Ufer. Darüber ziehen Schafe und Ziegen rund um die
5 • Vase von Warka (Detail), um 3300 v. Chr., Irakisches Nationalmuseum,
Bagdad
19 Bildergeschichten
Bildergeschichten 20
Vase. Sie stehen sinnbildlich für das fruchtbare Land und seinen
Überfluss. Auf dem nächsten Register tragen unbekleidete Männer
reich mit Essbarem gefüllte Körbe und Amphoren mit Getränken
herbei. Dem obersten Register kann man entnehmen, dass es sich da-
bei um einen Prozessionszug handelt, der Opfergaben zum Tempel
der Inanna bringt. Sie wollen der Schutzgöttin der Stadt ihren Dank
für reiche Ernten und prächtiges Vieh erweisen. Ihre Gaben sind in
großen, überquellenden Behältnissen dargestellt. Inanna ist vor ihren
Tempel getreten und überblickt die Szene. Neben ihr steht eine be-
kleidete männliche Gestalt. Die Nähe zur Gottheit deutet darauf hin,
dass dieser Sterbliche große Macht besitzen muss. Damit daran keine
Zweifel aufkommen, wurde in Keilschrift das Wort «Priesterkönig»
eingeschnitzt. Der Herrscher, der die Vase betrachtet, lächelt zufrie-
den. Seine Darstellung in unmittelbarer Nähe zu Inanna lässt ihn an
der Macht und Unsterblichkeit der Göttin teilhaben.
◊ ◊ ◊
Die Vase von Warka gehört zu den ältesten bekannten Beispielen
narrativer Kunst. Die Bilder ihrer Reliefbänder erzählen eine Ge-
schichte, die sich ähnlich einem Comic entwickelt. In prähistorischen
Zeiten war es Aufgabe des Schamanen oder eines erfahrenen Alten,
die zu den Höhlenmalereien gehörige Geschichte in ihrer Erzählung
lebendig werden zu lassen. Nun, um 3300 v. Chr., vermochten
Künstler eine Geschichte ganz allein durch detailreiche Bilder zu
vermitteln, wie die Vase von Warka zeigt. Jeder konnte sie betrach-
ten und sie für sich selbst «lesen».
Im Unterschied zu den Bisonskulpturen aus Kapitel 1, modelliert
aus Lehm auf felsigem Untergrund, wurden die Relieffiguren der
Vase von Warka aus weichem Alabastergestein herausgemeißelt.
Vermutlich hat der Künstler erst mit Holzkohle oder Ocker eine Vor-
zeichnung auf der ursprünglich glatten Oberfläche angefertigt, bevor
mit Schlägel und Meißel die dreidimensionalen Formen entstan-
den. Dabei ging es anders als bei der prähistorischen Darstellung der
Bisons nicht so sehr um eine lebensnahe Abbildung, sondern mehr
21 Bildergeschichten
um die typischen Merkmale von Tier und Mensch, wobei die Profil-
ansicht Bewegung symbolisieren sollte.
Es erforderte viel Zeit, ein solch detailreiches und komplexes
Werk zu realisieren. So etwas konnte man sich nur in einer gut orga-
nisierten und wohlhabenden Gesellschaft leisten. In Mesopotamien
(im heutigen Irak gelegen) wuchsen um 4000 v. Chr. kleine Dörfer
zu Städten heran. Die größte von ihnen war Uruk (heute Warka),
mit planvoll angelegten Straßen und einer zehn Kilometer langen
Außenmauer. Eine zentrale Verwaltung erhob ganz ähnlich wie heute
Steuern von der Bevölkerung, über die man dank der Erfindung der
Schrift auch Buch führen konnte. Die Vase von Warka ist das älteste
bekannte Kunstwerk, das Schrift enthält.
Uruk ist die älteste Stadt der Welt und die Kunst diente dort zur
Verehrung von Gottheiten wie Inanna. Es gefiel dem Herrscher von
Uruk, dessen Name uns nicht überliefert ist, sich als ebenbürtig mit
Inanna auf der Vase dargestellt zu sehen. Überall in dem fruchtbaren
Gebiet, das sich vom heutigen Griechenland und der Türkei über den
Iran und Irak bis nach Indien erstreckt, schmückten Künstler mit
solchen Werken königliche Gräber, Tempel und Paläste aus. Ihre
Aufgabe war es, auf eindrucksvolle Weise Geschichten über Götter
und Herrscher in Stein zu verewigen. Und die Herrscher, die die
Künstler bezahlten, bestimmten, welche Geschichten das waren.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Erdkugel, in Mesoamerika,
wie man das Siedlungsgebiet verschiedener früher Hochkulturen in
Mittelamerika nennt, ehrten die Olmeken ihre Oberhäupter auf an-
dere Weise. Etwa von 1800 v. Chr. an meißelten sie kolossale Köpfe
aus vulkanischem Basalt, die sie auf riesigen Erdhügeln aufstellten. Da
es den Olmeken an Nahrungsmitteln nicht mangelte, konnten sie sich
den Luxus leisten, Vollzeit-Künstler für diese Aufgabe abzustellen. Mit
Steinwerkzeugen bearbeiteten diese die Köpfe, deren größter fast
3 Meter misst und die bis zu 25 Tonnen wiegen. Die hierfür benötigten
Steinblöcke schafften sie aus 100 Kilometer Entfernung herbei, eine
logistische Meisterleistung, für die sie Flöße und Rollen aus Baum-
stämmen benutzten. Zehn solcher Köpfe fand man in dem bedeuten-
Bildergeschichten 22
den olmekischen Zentrum von San
Lorenzo Tenochtitlan. Dort schütte-
ten die Olmeken auch ein spektaku-
läres, 50 Meter hohes Erdplateau auf.
I m Unterschied zu den stilisierten
Figuren der Vase von Warka zeigen
die Olmeken-Köpfe individuellere
Züge. Die fleischig wirkenden Ge-
sichter unterscheiden sich deutlich
voneinander. Vermutlich stellen sie
bestimmte Herrscher dar. Die meis-
ten tragen enganliegende Helme, als
hätten sie sich für eine Schlacht ge-
rüstet. Mit ernster Miene, unterstri-
chen durch eine Stirnfalte, blicken
sie in die Welt. Heute wirken ihre
Augen ausdruckslos, aber ursprüng-
lich waren die Köpfe bemalt, und ge-
wiss boten sie einst auf ihrem Pla-
teau, von dem aus sie in die Weite starrten, einen imposanten und
furchteinflößenden Eindruck. Allein schon dadurch wird jeder neue
Herrscher der Olmeken den Druck verspürt haben, sich den Taten sei-
ner Vorgänger würdig zu erweisen. Aber zugleich vermittelten ihm die
gewaltigen Köpfe die Gewissheit, mächtige Mitstreiter an seiner Seite
zu haben. Der Aufwand, den es bedeutete, diese gigantischen Plasti-
ken aus Basalt zu meißeln und sie aus solch erhöhter Position auf ihr
Reich herabblicken zu lassen, beweist ihre enorme Wertschätzung.
Auch in Ägypten entstanden Kolossalfiguren, die die Macht der
Pharaonen – der Gottkönige – versinnbildlichten. Niemand erwar-
tete von diesen Darstellungen ein lebensnahes oder realistisches Ab-
bild. Das ägyptische Königreich war fast so alt wie Mesopotamien
und hatte 3000 Jahre Bestand. Von den frühesten Herrscherdynas-
6 • Olmeken-Kopf, um 900 v. Chr., Museo de Antropología de Xalapa, Mexiko
23 Bildergeschichten
tien an wahrte die ägyptische Malerei und Bildhauerei einen mar-
kanten, wiedererkennbaren Stil. Dies allein vermittelte bereits ein
Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit. Die ägyptischen Künstler
versuchten ebenso wenig wie jene in Mesopotamien, wirklichkeits-
getreue Gestalten in Stein zu meißeln oder in Farbe festzuhalten.
Ihnen ging es vielmehr darum, die wesentlichen Eigenschaften einer
Figur darzustellen, ob es sich nun um den Pharao, eine Gottheit oder
eine Frau bei der Feldarbeit handelte.
Als wohlhabendes Land konnte Ägypten es sich leisten, nicht nur
Paläste, Tempel und Königsgräber mit Kunst zu verzieren. Die Jagd
im Papyrusdickicht, entstanden etwa 1350 v. Chr., ist ein Wandge-
mälde aus der Grabkammer von Nebamun in Theben (heute Luxor).
Nebuman gehörte als Schreiber zum Personal des Tempels von Amun
und war mit der Verwaltung der Getreidebestände beauftragt. Auf
diesem Wandgemälde sehen wir ihn bei der Vogeljagd zusammen
mit seiner Frau Hatschepsut und ihrer beider Tochter. Er ist im Profil
abgebildet, seine Beine und Füße sind in der Laufbewegung festge-
halten. In der Darstellung seines Kopfes verschmelzen zwei Betrach-
tungsperspektiven: Wir sehen das Gesicht im Profil, trotzdem blickt
uns sein linkes Auge an, als hätte er sich uns direkt zugewandt. Die
ägyptischen Künstler verbanden die markantesten Eigenschaften der
menschlichen Figur zu symbolischen und unsterblichen Statthaltern
für die Verstorbenen, die in ihren reich ausgeschmückten Grabkam-
mern die Reise ins Jenseits antraten. Viele ägyptische Kunstgegen-
stände sollten den Toten im Jenseits nützlich sein. Die Ägypter legten
großen Wert auf die kunstvolle Ausgestaltung ihrer Gräber, weil sie
zeigen wollten, welch wunderbares Leben sie nach dem Tod erwar-
tete. Das Wandgemälde Jagd im Papyrusdickicht verrät uns, dass Neba-
mun sein Nachleben eher mit vergnüglichen Familienabenteuern als
mit Arbeit zuzubringen gedachte.
Ein Jahrtausend nach dem Bau der Pyramiden ließen die Pharao-
nen neue Grabkammern in den Berghängen des Tals der Könige und
des Tals der Königinnen anlegen. Jeder neue Herrscher ließ sich ein
Grab in den Fels schlagen. Man stelle sich vor, wie mühselig das gewe-
Bildergeschichten 24
sen sein muss. War die Grabanlage fertig, wurde sie ausgeschmückt.
Das Grab von Sethos I., der von 1290 bis 1279 v. Chr. herrschte, war
das erste, in dem auch sämtliche Räume, die der eigentlichen Grab-
kammer vorgelagert waren, aufwendig gestaltet wurden. Die Anlage
solcher Gräber erforderte ein ganzes Heer von Bildhauern, Malern,
Schreibern und Aufsehern, die sich ausschließlich dieser einen Auf-
gabe widmeten. Das war nur möglich, weil auch die Ägypter, wie wir
das schon bei den Olmeken und Mesopotamiern gesehen haben, ge-
nug Nahrungsmittel produzieren konnten, um Künstler zu unterhal-
ten, die keine Feldarbeit verrichten mussten, sondern sich ganz auf
ihre Werke konzentrieren konnten. Die Pharaonen, die ihre Fertig-
keiten schätzten, brachten sie in einer für sie reservierten Siedlung
namens Set Maat, «Ort der Wahrheit» (heute Deir el-Medina) unter,
7 • Jagd im Papyrusdickicht, um 1350 v. Chr., Wandgemälde aus dem Grab
von Nebamun, British Museum, London
25 Bildergeschichten
wo man sie und ihre Familien mit allem versorgte, was man zum Le-
ben benötigte. Einer dieser Künstler war Sennedjem.
Dass wir heute von Sennedjem wissen, verdanken wir der Tatsa-
che, dass er sich neben seiner Arbeit an Pharaonengräbern auch seine
eigene Begräbnisstätte schuf. Er starb während der Regierungszeit von
Sethos I. und wurde mit seiner Frau Iineferti auf dem für Künstler
reservierten Friedhof nahe von Set Maat beigesetzt. An den Wänden
seiner Grabkammer ist dargestellt, wie das Paar vor dem Hintergrund
der lebensspendenden Wasser des Nils einen Acker bestellt und Wei-
zen erntet. Da sie keine Bauern waren und das Königreich für ihre
Nahrung sorgte, ist diese Darstellung nicht wörtlich zu nehmen. Sie
orientierte sich vielmehr am Ägyptischen Totenbuch und sollte versinn-
bildlichen, dass die Toten über alles Nötige für das Jenseits verfügten.
Man beschwor damit sozusagen sein eigenes Schicksal herauf – wer
sich auf den Wänden seines Grabes wohlausgerüstet und im Überfluss
darstellen konnte, durfte davon ausgehen, dass ihn solch ein Leben
im Jenseits erwartete. Sennedjem hatte somit reichlich Motivation, in
seiner Freizeit die eigene Grabkammer prächtig auszumalen.
Erstaunlicherweise schufen die Ägypter trotz all ihrer hochent-
wickelten Kunst keine Bronzegegenstände. In Mesopotamien und
Indien wurden aus dieser Legierung von Kupfer und Zinn bereits seit
2800 v. Chr. Skulpturen gefertigt. Die Technik des Bronzegusses ver-
breitete sich über die frühen Handelswege und erreichte so auch
China. In der chinesischen Kultur standen Gegenstände, deren Pro-
duktion Zeit und Mühe kostete, hoch im Kurs. Zwar ist der Bronze-
guss eine zeitaufwendige Technik, ermöglicht aber die Herstellung
von Skulpturen und Gebrauchsgegenständen mit sehr feinen De-
tails. So wurde Bronze rasch das beliebteste Material der Shang-
Dynastie. Die chinesischen Künstler ummantelten zunächst ein Mo-
dell des Gussobjekts mit einer Tonschicht. War der Ton getrocknet,
wurde er abgelöst und bildete so die Gussform, in die man die ge-
schmolzene Bronze fließen ließ. Nach dem Erkalten wurde die Ton-
form zerstört, um die Bronzeskulptur herauszulösen. Ein typisches
Beispiel für ein so hergestelltes Objekt ist das in Gestalt einer Tigerin
Bildergeschichten 26
ausgeführte Weingefäß aus Bronze, das um 1100 v. Chr. in der späten
Shang-Dynastie entstand. Es diente wohl einem Priesterkönig bei
Zeremonien zu Ehren seiner Vorfahren und wurde mit ihm bestattet,
damit er ihnen auch noch nach seinem Tod Tribut zollen konnte. Die
überaus fein gearbeitete Raubkatze kauert auf ihren Hinterpfoten, der
Schwanz dient zur Abstützung. Das mit weit aufgerissenem Rachen
dargestellte Tier hält mit seinen Vorderpfoten einen Menschen gegen
seine Brust gedrückt. Ein solch kostbares Objekt als Grabbeigabe un-
terstreicht den hohen Status des Verstorbenen.
Als im Nordosten Chinas die Shang-Dynastie herrschte, stieg im
Norden Mesopotamiens Assyrien auf. Das Neuassyrische Reich er-
streckte sich über das heutige Syrien, Israel und den Iran. Seine
Herrscher gründeten befestigte Städte, legten Bewässerungssysteme
an und errichteten Tempel und Paläste. Riesige Skulpturen von Stie-
ren und Löwen mit menschlichen Köpfen und Adlerschwingen be-
wachten ihre Eingangstore. Sie sollten jeden schon beim Eintritt mit
Ehrfurcht erfüllen. Alabasterreliefs, bemalt in leuchtenden Farben,
säumten die Säle der Paläste. In lebendigen Szenen schilderten sie
die Heldentaten des Königs im Krieg und im Verkehr mit den Göt-
tern. Hauptzweck der Kunst war auch hier wieder die Demonstra-
tion von Herrschermacht, so wie bei den Köpfen der Olmeken und
den ägyptischen Kolossalfiguren.
In der Regierungszeit von Assurbanipal (668–627 v. Chr.) wurde
der Nordpalast im assyrischen Ninive umgebaut. Auf Wandfriesen in
seinen Korridoren ist eine königliche Löwenjagd dargestellt. Die Lö-
wen, die für die Jagd aus Käfigen herausgelassen werden, erscheinen
mit lockigen Mähnen und gefletschten Zähnen. Die Reliefarbeit be-
weist profunde anatomische Kenntnisse der Tiere und ein Gespür für
dramatische Darstellung. Der König triumphiert in allen Szenen,
egal, ob er zu Pferd, zu Fuß oder von einem Streitwagen herab jagt.
Zahlreiche erlegte Löwen liegen auf dem Boden. Alle Figuren sind
stilisiert wie auf den ägyptischen Reliefs, aber viel detaillierter ausge-
führt. Der König und sein Gefolge tragen fein gekräuselte Bärte, sind
in Tuniken gewandet und mit Armschienen, Bändern und Ohrrin-
27 Bildergeschichten
gen geschmückt. Diese Friese, ein Höhepunkt der narrativen Kunst
jener Zeit, machen auch heute noch einen starken Eindruck. Aber
wie müssen sie erst auf die Menschen damals gewirkt haben, die sie
im Fackelschein von Assurbanipals Palast betrachteten! Alle Figuren
und Tiere waren in leuchtenden Farben gemalt, die Jagd tobte regel-
recht rings um die Betrachter – wen sollte man da mehr fürchten, die
Löwen oder Assurbanipal?
Im Jahr 612 v. Chr. brach das Neuassyrische Reich in kurzer Zeit
unter dem Ansturm rivalisierender Mächte zusammen. Viele seiner
Städte wurden zerstört, und ein neues babylonisches Reich bildete
sich an seiner Stelle im Süden Mesopotamiens, nur um im darauffol-
genden Jahrhundert von einem riesigen Perserreich abgelöst zu wer-
den. Unterdessen entstand weiter im Westen, in Griechenland, eine
radikal neue Art, die menschliche Gestalt als Skulptur darzustellen.
8 • Löwenjagd, um 640 v. Chr., Palast von Ninive, British Museum, London
Kapitel 3
Die Illusion des Lebendigen
I m Töpferviertel von Athen, Kerameikos genannt, sind im Jahr
540 v. Chr. zwei Männer in ihre Arbeit vertieft. In der einen Werk-
statt legt Amasis gerade letzte Hand an eine kleine Lekythos an, ein
Gefäß zur Aufbewahrung von Olivenöl. Es soll mit einer Darstellung
von Frauen bemalt werden, die Wollkleidung an einem Webstuhl
herstellen. Diese Verzierung hat Amasis Spezialisten anvertraut, so-
dass er sich ganz auf die Herstellung seiner Tonwaren konzentrieren
kann. Er packt weiteren Ton auf seine Töpferscheibe und beginnt mit
der Arbeit an einer Amphore. Sein Maler hat auch dafür schon einen
Plan – sie soll außer einer Speerträgerin nackte Krieger darstellen, die
sich auf die Schlacht vorbereiten.
Zur selben Zeit arbeitet auch der Maler Exekias in einer anderen
9 • Achill und Ajax beim Würfelspiel (Ausschnitt), 6. Jh. v. Chr.,
attische Vasenmalerei von Exekias, Vatikanische Museen, Rom
29 Die Illusion des Lebendigen
Die Illusion des Lebendigen 30
Werkstatt an einer Amphore. Sie zeigt seine Lieblingsfigur Achilles,
den Helden populärer Geschichten über den Trojanischen Krieg. Exe-
kias hat sich vorgenommen, Achilles und seinen Kampfgefährten
Ajax in einer Kampfpause beim Würfelspiel darzustellen. Achilles hat
seinen Helm noch auf, und beide Männer halten ihre Speere in Be-
reitschaft.
Exekias ist ein Meister der schwarzfigurigen Malerei, doch im
Kerameikos herrscht starke Konkurrenz. Die von dort stammenden
Tonwaren werden im gesamten Mittelmeerraum verkauft, und die
Produkte guter Töpfer und Maler finden reißenden Absatz. Exekias
weiß, dass er keine Zeit zu verlieren hat. Er greift wieder zum Pinsel
und macht sich daran, Achilles’ Schild zu malen.
◊ ◊ ◊
Athen war zur Zeit von Exekias das Zentrum der schwarzfigurigen
Malerei. Ursprünglich in der griechischen Stadt Korinth entwickelt,
übernahmen Athener Künstler bald wie Exekias diese Technik zur
Darstellung von Ereignissen aus den griechischen Mythen und ande-
ren Geschichten. Bald beherrschte Athen diesen Markt. Die Vasen-
maler rührten zunächst ein Gemisch aus Ton und Wasser an, den
sogenannten Tonschlicker. Nach der Bemalung ritzten sie in den ge-
trockneten Schlicker Details wie Verzierungen von Helmen oder den
Faltenwurf von Gewändern. Der Schlicker wurde beim Brennen
schwarz und glänzend, die unbehandelten Teile erhielten eine orange-
farbene Tönung.
Auch heute noch beeindrucken die mit einfachen Mitteln ge-
schaffenen fantasievollen Figuren. Zwar bleiben sie flächig und sind
stilisiert, doch Spitzenprodukte wie die des Malers Exekias zeichnen
sich durch Detailreichtum und Ausdrucksstärke aus. Aber wer vor
2500 Jahren nur Töpferwaren verzierte, genoss keinen so hohen Ruf
wie jemand, der Tafelbilder und Wandgemälde schuf. Wer Fresken
an Wände zu zaubern verstand, durfte sich «Künstler» nennen, wer
hingegen Gebrauchsgegenstände wie Amphoren verschönerte, zählte
zu den «Handwerkern».
31 Die Illusion des Lebendigen
Schon Plinius der Ältere erwähnte, dass die antiken Künstler mit-
einander darum wetteiferten, wer am besten eine lebensnahe Illu-
sion schaffen konnte, ein Trompe-l’œil, französisch für «Augentäu-
schung». Nur wenige Fragmente griechischer Wandmalerei haben
die Zeit überdauert, doch sie dokumentieren eindrucksvoll die he-
rausragenden Fertigkeiten der Künstler. In diesem Buch sollen die
Künstler, weniger die Kunsthandwerker, und auch mehr die bil-
dende Kunst und weniger die dekorative im Mittelpunkt stehen.
Exekias gehörte zu den Malern, die in beiden Lagern zu Hause
waren. Seine Verschönerung von Gebrauchsgegenständen ging über
reine Verzierung hinaus. Zwar benutzte er nicht die damals modi-
sche Trompe-l’œil-Technik, aber er erzählte auf seine ganz eigene
Art Geschichten voller Dramatik und Spannung aus dem griechi-
schen Mythenkosmos. Exekias gelang es, das kunsthandwerkliche
Geschick des Dekorateurs mit der Kunst der Malerei zu verbinden.
Im Unterschied zur griechischen Malerei ist von der griechischen
Bildhauerei eine große Zahl von Werken erhalten, oft im Original,
manchmal auch in Form später angefertigter Kopien. Skulpturen
wurden nicht um eines Gebrauchswerts willen geschaffen, sondern
um betrachtet, studiert und bewundert zu werden – als Kunst eben.
Anfänglich standen die griechischen Bildhauer unter dem Einfluss
der ägyptischen Statuen. Doch um die Zeit, als sich die schwarzfigu-
rigen Vasen zum letzten Schrei entwickelten, wurden auch diese
steifen Steinskulpturen lockerer. Ihre Gliedmaßen begannen natür-
lichere Proportionen zu zeigen, ihre Gesichter wurden ausdrucks-
voller und lebensechter. Die Figuren verloren ihre idealisierte, zeit-
lose Jugendlichkeit und wirkten etwas mehr wie Abbilder tatsächlich
lebender Männer und Frauen.
Damit begann das, was wir heute die klassische Kunst oder ein-
fach die «Klassik» nennen. Sie stellt einen radikalen Bruch mit allem
Vorherigen dar. Ob hierbei eine Rolle spielte, dass Athen zu einer
Demokratie wurde, der ersten der Welt? Demokratie hieß, dass nicht
länger ein ungewählter Herrscher die Geschicke der Stadt in Händen
hielt, sondern die Bewohner selbst. (Sklaven, Frauen und Kinder
Die Illusion des Lebendigen 32
hatten allerdings kein Mitsprache-
recht.) Jetzt, da reale Personen über
die Gesetze der Stadt bestimmten,
wurden auch die Skulpturen immer
lebensähnlicher.
Die Werke, die zu jener Zeit in
Griechenland entstanden, bildeten
das Fundament für die gesamte west-
liche Kunst. Dabei war Griechenland
damals kein einheitliches Land, son-
dern eine Ansammlung von Stadt-
staaten. Im Jahr 508 v. Chr., als in
Athen die Demokratie Einzug hielt,
war Sparta die stärkste Regional-
macht. Die beiden Städte begannen
erst zusammenzuarbeiten, als Per-
sien 490 v. Chr. Griechenland über-
fiel. Schließlich schloss Athen ein
Bündnis mit über zweihundert grie-
chischen Stadtstaaten, um die Perser
zurückzuschlagen. Sämtliche Städte zahlten in einen zentralen Fonds
ein, und so gewann Athen großen Reichtum und enorme Macht.
Schon im 6. Jahrhundert v. Chr. hatten die griechischen Bildhauer
auch mit Bronze zu arbeiten begonnen, doch erst nach den Perser-
kriegen kam diese Technik richtig in Mode. Die Nachfrage nach grö-
ßeren, dynamischer wirkenden Skulpturen wuchs, und dafür eig-
nete sich Bronze in idealer Weise. Polierte Bronze ließ die Haut der
dargestellten Figuren schimmern, und um den Effekt zu steigern,
arbeiteten die Künstler auch Glasaugen und Silberzähne ein. Aller-
dings kann man Bronze auch leicht wieder einschmelzen, und so
sind uns nur eine Handvoll griechischer Skulpturen aus diesem Ma-
terial erhalten. Was wir heute haben, wurde wie die Bronzestatuen
10 • Riace-Krieger (Detail), 460–450 v. Chr., Museum von Reggio Calabria
33 Die Illusion des Lebendigen
von Riace entweder aus versunkenen Schiffen geborgen oder wie
der Wagenlenker von Delphi unter Erdbebentrümmern gefunden.
An diesen Bronzen lässt sich ablesen, wie sich die Bildhauer da-
rum bemühten, ihre Figuren lebendiger zu gestalten. Der lebens-
große Wagenlenker von Delphi, der etwa um 474 v. Chr. entstand, ist
mit einer für seine Tätigkeit typischen kurzärmeligen Tunika beklei-
det. Er hält die Zügel eines Pferdegespanns in der Hand, das zur ur-
sprünglichen Gesamtskulptur gehört haben muss. Auftraggeber der
Plastik war der Gewinner des Wagenrennens der Pythischen Spiele,
die alle vier Jahre in Delphi stattfanden. Der bronzene Wagenlenker
ist in ernster Siegerpose abgebildet, sein jugendliches Gesicht wird
von Locken eingerahmt, die unter seinem Stirnreif hervorquellen.
Seine aus Glas und Onyx gefertigten Augen wirken überraschend
realistisch und sind von kupfernen Wimpern eingefasst. Seine Tunika
wirkt allerdings steif und starr, sodass sein Körper wenig athletisch
und eher wie eine griechische Säule wirkt. Offenbar stieß der Künst-
ler hier im Bemühen um Natürlichkeit an seine Grenzen.
Das kann man von den zwei Jahrzehnte später entstandenen
Bronzestatuen von Riace nicht sagen. Vor allem sind sie nackt, so-
dass man ihre Muskeln und ihre athletische Gestalt sieht. Die beiden
Männer waren als Teil des Figurenschmucks eines Bauwerks ge-
dacht, das an den Sieg über die Perser erinnern sollte. Sie sind annä-
hernd zwei Meter groß und trugen wahrscheinlich Schilde am aus-
gestreckten linken Arm und Speere in der rechten Hand. Eine der
Figuren wirkt etwas jünger als die andere, mit kräftigen Muskeln,
die Schultern zurückgenommen, ihre Augen schweifen in die Ferne.
Mit der Errichtung von Denkmälern in Form von Statuen steigerte
man sein Prestige. Sowohl Männer wie Frauen, naturgemäß aus-
schließlich aus der Schicht der Reichen, gaben Statuen in Auftrag. In
ähnlicher Weise versuchten Städte durch den Bau von Tempeln zu
beeindrucken. Der Zeustempel von Olympia wurde 456 v. Chr. voll-
endet. Athen, das nicht zurückstehen wollte, begann nur wenige
Jahre später mit der Arbeit an einem nicht minder ehrgeizigen, riva-
lisierenden Tempel. Er war der Schutzherrin der Stadt, der Göttin
Die Illusion des Lebendigen 34
Athene, geweiht und wurde in luftiger Höhe auf der die Stadt über-
ragenden Akropolis errichtet. Dieser Tempel, der Parthenon (447–
432 v. Chr.), sollte den Tempel des Zeus an Größe noch übertreffen.
Im Ergebnis entstand der größte griechische Tempel überhaupt, voll-
ständig aus Marmor gebaut. Mit den Tributzahlungen, die andere
Städte Athen zu leisten hatten, finanzierte Perikles, der damals füh-
rende Staatsmann Athens, die Arbeit des Bildhauers Phidias, der für
die künstlerische Gesamtgestaltung des Parthenons zuständig war.
Erklomm man den Hügel der Akropolis und trat durch ihre Tore,
näherte man sich dem Parthenon von hinten. In der Höhe zog sich
ein Marmorfries um das Gebäude. Beim Umschreiten des Gebäudes
wurde dem Betrachter auf diesem Fries eine Art Bildergeschichte
präsentiert. Ursprünglich in leuchtenden Farben bemalt, konnte
man auf dem Fries die Panathenäen bestaunen, das alle vier Jahre
stattfindende verschwenderische Sommerfest. Bei seinem krönen-
den Abschluss wurde Athene, der Schutzgöttin der Stadt, ein neuer
Peplos, ein Obergewand, als Geschenk dargebracht. In einem großen
Prozessionszug, nicht unähnlich jenem, der uns auf der Vase von
Warka begegnet ist, nur in viel größerem Maßstab, führten Männer
und Frauen Amphoren und Opfertiere mit sich. Wenn man um die
Ecke der Eingangsseite bog, veränderte sich der Fries – große, sit-
zende Figuren zeigten dort an, dass man sich nun in der Gegenwart
der Götter befand.
Den Innenraum des Tempels dominierte eine mehr als zwölf
Meter hohe Kolossalskulptur der Göttin Athene, aufrecht stehend
und vollständig von Elfenbein und Gold bedeckt. Man stelle sich das
vor – eine Skulptur in der Höhe eines dreistöckigen Hauses. Das Gold
allein wog über eine Tonne, und Elfenbein zählte damals zu den
kostbarsten Materialien überhaupt. Mit dem Elfenbein waren die
sichtbaren Hautpartien der Göttin gestaltet worden. Dazu hatte man
in mühseliger Arbeit von den Stoßzähnen der Elefanten dünne
Schichten abgetragen und sie an die Form ihrer Wangen, ihres Hal-
11 • Athena Parthenos, Rekonstruktion des Parthenons, Radierung, 1880
35 Die Illusion des Lebendigen
ses, ihrer Arme und Hände angepasst. Die Kosten dieser einen Skulp-
tur überstiegen die des gesamten restlichen Parthenons. Sie war eine
eindrucksvolle Demonstration der Macht, das Prestiges und des
Wohlstands der Stadt.
Das Prunkstück des Phidias, die große Athene, existiert nicht
mehr. Münzen mit ihrem Abbild geben uns eine ungefähre Vorstel-
lung von ihrem Aussehen. Sie machte auch in Olympia Eindruck,
Die Illusion des Lebendigen 36
wohin Phidias sein nächster Auftrag
führte, um dort eine vergleichbare
Figur für den Zeustempel zu schaf-
fen. So entstand eine Kolossalfigur
des sitzenden Zeus, die als sein Meis-
terwerk, ja sogar als eines der sieben
Weltwunder der Antike galt, aber lei-
der auch nicht mehr erhalten ist.
Tempelbezirke waren einst mit
Tausenden Bronzeskulpturen ge-
schmückt. Nicht selten säumten ihre
Sockel in zwei oder drei Reihen
die Wege zwischen den Gebäuden.
Die meisten dieser Standbilder sind
heute verloren, sie wurden in späte-
ren Kriegen ihres wertvollen Metalls
wegen eingeschmolzen. In Olympia
allein fand man mehr als 1000 leere
Sockel. Wenn wir uns im nächsten
Kapitel Rom zuwenden, werden wir
einige von ihnen in Form von Mar-
morkopien wiederfinden. In Grie-
chenland kam Marmor erst im
4. Jahrhundert v. Chr. durch das
Werk von Praxiteles wieder stärker
in Mode.
Praxiteles war zu Lebzeiten sehr
erfolgreich, und er scheint auch zu
einigem Wohlstand gekommen zu
sein. Er stammte aus Athen, auch
sein Vater war schon Bildhauer ge-
wesen, und er arbeitete nach leben-
den Modellen. Zunächst bevorzugte
er Bronze, wechselte aber später zu
37 Die Illusion des Lebendigen
Marmor. Seine Spezialität war es, den harten Stein wie weiche Haut
wirken zu lassen. Zu seinen berühmtesten Werken gehört die Aphro-
dite von Knidos, entstanden um 350 v. Chr., die erste lebensgroße Dar-
stellung einer unbekleideten Frau. Das Werk gilt als der Ausgangs-
punkt der Geschichte des weiblichen Akts in der westlichen Kunst.
Männliche Künstler – die ihre Werke für männliche Auftraggeber
und männliche Betrachter schufen –, haben von da an oft den nack-
ten weiblichen Körper in ein Objekt des männlichen Blicks verwan-
delt. Genau das tat auch Praxiteles schon mit Aphrodite. Sie hat ihre
Kleider abgelegt, um ein Bad zu nehmen, worauf ein Wasserkrug
hindeutet, der zu ihrer Linken steht. Sie stellt ihren Körper nicht
öffentlich zur Schau, um heldenhafte Stärke zu demonstrieren, wie
es die Krieger von Riace oder die Männer tun, die nackt im Gymna-
sion miteinander wetteifern. Frauen zeigten sich niemals nackt in
der Öffentlichkeit, wozu passt, dass Aphrodite hier in einem privaten
Moment gestört zu werden scheint – sie versucht ihre Blöße mit den
Händen zu bedecken. Mit der Darstellung im sogenannten Kontra-
post gelingt es Praxiteles, die Kurven ihres Körpers zu betonen: Das
Gewicht ruht auf einem Bein, dem Standbein, das andere ist ent-
spannt gebeugt, eine Hüfte ist angehoben und eine Schulter leicht
gesenkt.
Die Skulptur der Aphrodite stand ursprünglich im Zentrum des
Tempels und konnte von allen Seiten betrachtet werden. Sie wurde
eine Art Touristenattraktion, und Knidos, eine griechische Stadt an
der Südwestküste der heutigen Türkei, prägte stolz ein Abbild der
Skulptur auf ihre Münzen. Aphrodite repräsentierte keine mächtige
Stadt, wie die kolossale Athene, sondern eher die Macht des Künst-
lers, Marmor in einen lebendig und sinnlich wirkenden Körper ver-
wandeln zu können. Das Original ist heute verloren, aber eine Viel-
zahl römischer Kopien und späterer Gipsabformungen haben dafür
gesorgt, dass ihr Ruhm bis heute andauert.
12 • Römische Kopie von Praxiteles’ Aphrodite von Knidos,
Original um 350 v. Chr., Glyptothek München
Die Illusion des Lebendigen 38
Praxiteles war einer der führenden Bildhauer seiner Generation
und seine Arbeit stark gefragt. Etwa um die Zeit, in der er auch die
Aphrodite schuf, arbeitete er mit mehreren ebenfalls renommierten
Bildhauern am großen Grabmal für den persischen Herrscher Mau-
solus, der in Halikarnassos (heute Bodrum in der Türkei) lebte. Bild-
hauer kamen in der antiken Welt viel herum. Ihre Auftraggeber
waren meist reiche lokale Fürsten, die sich mit großartigen Kunst-
werken ein Stück Unsterblichkeit zu erkaufen suchten. Für das Grab-
mal des Mausolus schufen die griechischen Künstler einen überaus
reichen Figurenschmuck. Das Monument machte derartigen Ein-
druck, dass wir bis heutegrößere Grabbauten als «Mausoleum» be-
zeichnen.
Der Einfluss der griechischen Kunst über das Mutterland hinaus,
den man auch mit dem Begriff Hellenismus bezeichnet, wuchs
noch weiter, als im 4. Jahrhundert v. Chr. der griechische Heerführer
Alexander der Große das Reich der Perser von Ägypten bis Indien
eroberte. Hundert Jahre später begann auf der anderen Seite der
Erdkugel ein Herrscher in China von sich reden zu machen. Sein
Mausoleum sollte alles bisherige in den Schatten stellen. Es war das
größte Skulpturenprojekt, das je unternommen wurde.
Kapitel 4
Kopisten
W ir schreiben das Jahr 210 v. Chr. Der grausame chinesische
Kaiser Qin Shihuangdi ist soeben gestorben. Eine Armee hat
sich versammelt, um ihn ins Jenseits zu begleiten, Tausende Soldaten
in geordneten Reihen. Da sind Bogenschützen und Offiziere, Fußsol-
daten und Reiter, und sie alle richten den Blick auf die Ländereien,
die Qin erobert hat, als er ganz China unter seinem Banner vereinte.
Die Soldaten der Kaiserlichen Garde stehen jeweils zu viert in zehn
scheinbar endlosen Kolonnen, den Speer kampfbereit in der Hand. Es
ist eine Armee, die niemals schläft, denn es handelt sich nicht um ge-
wöhnliche Soldaten, sondern um lebensgroße bemalte Figuren aus
Terrakotta. Sie sind Teil eines riesigen Mausoleums, dessen Errich-
tung der Kaiser als Erstes in Auftrag gab, als er im Alter von 13 Jah-
ren den Thron des Reiches Qin bestieg.
36 Jahre später bewacht die Armee eine Kopie von Qins Haupt-
stadt Xianyang mit dem Palast, in dem sein Leichnam zur Ruhe ge-
Kopisten 40
41 Kopisten
bettet wurde. Korridore verbinden den Grabpalast mit dem Rest der
nachgebauten Stadt, die sich kilometerweit ausdehnt. Bronzene
Streitwagen mit bronzenen Pferden in vollem Harnisch und einem
Wagenlenker sind in Gruben geparkt, jederzeit bereit, den Kaiser zu
chauffieren. Musiker und Akrobaten aus Terrakotta sorgen für Unter-
haltung; Nachbildungen von Qins Höflingen und Beamten warten
darauf, ihrem Herrn zu Diensten zu sein. Bronzene Gänse und
Schwäne «schwimmen» auf einem unterirdischen See, auf dass es
dem Kaiser niemals an Nahrung mangele.
◊ ◊ ◊
Frühere Herrscher ließen bei ihrem Tod Menschen opfern, um im
Jenseits über Personal zu verfügen, Qin hingegen gab Tausende Ter-
rakotta-Krieger in Auftrag, die ihm bis in alle Ewigkeit dienen soll-
ten. Um die Festigkeit während des Brennvorgangs zu erhöhen, ver-
mischte man für ihre Herstellung Ton mit Sand und verteilte ihn
an die einzelnen Werkstätten; so war eine gleichbleibende Qualität
über unterschiedliche Produktionslinien hinweg gewährleistet. Mehr
als tausend Arbeiter schufen identische Ausführungen dieser Figu-
ren, die jedoch individuell ausgestaltet wurden, sodass ein Soldat in
Nietenrüstung vielleicht einen Schnurrbart trug und ein anderer
nicht oder ein Mann mit Dutt vielleicht ein bauschigeres Halstuch
hatte als sein Nachbar. Durch diese Abweichungen wirken die Figu-
ren menschlicher. Farbreste, die noch auf dem Ton haften, belegen,
dass die Figuren ursprünglich in lebensechten Farben bemalt waren.
Heute sind diese Soldaten, von denen seit ihrer Entdeckung im Jahr
1974 zahlreiche Exemplare ausgegraben wurden, als Terrakotta-
Armee bekannt.
Zur selben Zeit, in der Qin sein Reich schuf, erlebte die Nok-Kul-
tur in Westafrika nördlich des Flusses Niger (im heutigen Nigeria)
ihre Blütezeit, und viele ihrer Skulpturen, ebenfalls aus Terrakotta,
sind noch erhalten. Die Nok-Künstler fertigten aus aneinandergefüg-
13 • Terrakotta-Armee, 246–210 v. Chr., Qinshihuang Mausoleum, China
Kopisten 42
ten Tonwülsten Hohlfiguren in zeremonieller Kleidung, manche da-
von über einen Meter hoch. Während die Stücke trockneten, wur-
den Details in den Ton geritzt wie strukturierte Halsketten, Fußringe
und Armbänder, Waffen, Haarzöpfe und Gesichtszüge. Die Gesichter
der Skulpturen waren stilisiert und doch individuell unterschiedlich.
Jeder Kopf hatte hoch geschwungene Brauen und große dreieckige
Augen mit hervorstehenden Augäpfeln und einer Vertiefung als
Pupille. Bei den größeren Figuren wurden an Mund, Ohren, Nasen-
löchern und Augen Löcher gebohrt, damit beim Brennen die Luft
aus dem Innern entweichen konnte und Risse verhindert wurden.
Heute sind von den Nok-Skulpturen fast nur noch Fragmente
erhalten, hauptsächlich Köpfe. Man vermutet, dass die Figuren im
Rahmen eines Rituals wie einer Zeremonie zur Ehrung der Ahnen
oder einer Beerdigung zerschlagen und vergraben wurden. Leider
gibt es keine schriftlichen Aufzeichnungen, die uns mehr über die
Nok-Kultur verraten könnten. Verschiedene Gestaltungselemente
wie ein Kopfschmuck in Form einer
Muschel oder ein Armreif mit Pha-
raonenstab belegen, dass die Nok
über ein umfangreiches Handelsnetz
verfügten, das den kulturellen Aus-
tausch vom Atlantik bis nach Ägyp-
ten ermöglichte.
Die Römer kamen mit anderen
Kulturen in Kontakt, indem sie in
benachbarte Gebiete einfielen und
das eigene Reich vergrößerten. Rom
entwickelte sich von einer Kleinstadt
zu einer imperialen Supermacht, die
im 2. Jahrhundert v. Chr. große Teile
des Mittelmeerraums beherrschte.
Die Nachfrage der Römer nach Skulp-
turen war riesengroß. Die Stadt hatte
über eine Million Einwohner, und
43 Kopisten
man stieß allenthalben auf Standbilder: Götterstatuen in den Tem-
peln, römische Generäle an Straßenecken, Porträtbüsten griechi scher
Philosophen in Privathäusern und Grabfiguren an Straßenrändern.
Aus jeder eroberten Stadt wurden Statuen als Kriegsbeute mitge-
bracht und in prächtigen Prozessionen, den Triumphzügen, zur
Schau gestellt. Bildhauer fertigten Marmorkopien der berühmtesten
griechischen Skulpturen von Polyklet und Praxiteles an, die man per
Schiff nach Rom verfrachtete. Gipsabgüsse berühmter Werke be-
gannen zu zirkulieren, und so konnten römische Künstler weitere
Kopien herstellen – es sind buchstäblich Tausende Exemplare der
nackten Aphrodite bzw. Venus erhalten, und man fand über 65 Mar-
morkopien des Doryphoros, eines bronzenen Speerträgers, den Poly-
klet im 5. Jahrhundert v. Chr. schuf. Bei reichen Römern stand nicht
nur die eine oder andere Skulptur im Atrium (Eingangshalle) ihres
Hauses, sondern es reihten sich oft auch noch Dutzende und Aber-
dutzende im Peristyl (Innenhof) aneinander.
Durch die Expansion des Römischen Reiches wird es schwieriger,
die Skulpturen zu datieren. Warum? Bei den Römern war es gängige
Kunstpraxis, Werke zu kopieren und frühere Ideen weiter zu ver-
werten. Jeder wollte griechische Skulpturen besitzen, weil die Rö-
mer die griechische Lebensart sehr bewunderten, aber es gab einfach
nicht genug Originale für alle. Daher verlegte man sich darauf, sie zu
kopieren oder neue Skulpturen nach dem Vorbild griechischer Uni-
kate zu schaffen.
Die Schwierigkeit der Datierung lässt sich gut am Beispiel der Lao-
koon-Gruppe demonstrieren, einer fantastischen Skulptur voller
Energie und Dramatik. Drei männliche Figuren – der Priester Lao-
koon und seine beiden Söhne – versuchen sich aus dem Griff zweier
riesiger Seeschlangen zu winden, die bereits zum Biss ansetzen. Die
Männer sind nackt, ihre Muskeln angstvoll verkrampft. Die zentrale
Figur ist Laokoon, der von den zornigen Göttern zum Tode verurteilt
14 • Nok-Skulptur aus Terrakotta, zwischen 500 v. Chr. und 200 n. Chr.,
Louvre, Paris
Kopisten 44
wurde, weil er die Bewohner seiner belagerten Stadt Troja davor
warnte, ein riesiges Holzpferd als Geschenk anzunehmen. Während
sich die Schlangen auf Laokoon und seine Söhne stürzen, öffnet sich
der Bauch des Pferdes, griechische Soldaten schwärmen in die Stadt
und gewinnen den Krieg.
Die Geschichte des Trojanischen Kriegs kursierte bereits seit Jahr-
hunderten. (Wie wir gesehen haben, war der griechische Vasenmaler
Exekias ein großer Fan davon.) Sie wurde in Homers Ilias im 8. Jahr-
hundert v. Chr. nacherzählt, und der römische Dichter Vergil griff sie
in der Aeneis (29–19 v. Chr.) erneut auf, wobei er sie aus dramati-
15 • Laokoon-Gruppe, 200 v. Chr.–100 n. Chr., Vatikanische Museen, Rom
45 Kopisten
schen Gründen um die Laokoon-Episode erweiterte. Drei Bildhauer
von der griechischen Insel Rhodos – Hagesandros, Polydoros und
Athanodoros – meißelten die Geschichte in Marmor und schufen
mit dem Laokoon ein aufwühlendes, expressives Meisterwerk: Stein
verwandelt in sich windendes Fleisch. Die Skulptur wurde von dem
wohlhabenden römischen Feldherren und späteren Kaiser Titus er-
worben. Sein Zeitgenosse Plinius der Ältere nannte es «ein Werk, das
allen anderen Schöpfungen der Malerei und Bildhauerkunst vorzu-
ziehen ist».
Heute gehen die Meinungen darüber auseinander, wann die Lao-
koon-Gruppe tatsächlich entstanden ist. Stilistisch ähnelt sie Skulptu-
ren, die im 3. Jahrhundert v. Chr. in Pergamon (heute in der Türkei,
damals aber Teil des antiken Griechenlands) gefertigt wurden. An dere
Experten datieren sie auf das 1. Jahrhundert v. Chr. Die von Plinius
erwähnten drei Bildhauer aus Rhodos scheinen für Kaiser Tiberius’
luxuriöse Strandvilla in Sperlonga weitere Figuren geschaffen zu
haben, die dramatische Szenen aus dem Trojanischen Krieg zeigen.
Demnach wäre die Laokoon-Gruppe im 1. Jahrhundert n. Chr. ent-
standen. Da sich auf der Skulptur selbst keine Inschrift befindet,
können wir es letztlich nicht herausfinden, auch nicht durch stilisti-
sche Vergleiche mit anderen Werken, da das Kopieren älterer Stile
allgemein üblich war.
Das einzige Gebiet, auf dem römische Künstler sich nicht von
griechischen Vorbildern inspirieren ließen, war die Porträtplastik
oder Büste. Bei antiken griechischen Skulpturen wurden Männer als
glattrasierte Jünglinge und Frauen mit faltenfreien, symmetrischen
Gesichtern dargestellt. Sie waren die Supermodels ihrer Zeit. Die
Römer dagegen mochten Gesichter, denen man das Alter und die Le-
benserfahrung ansah, mit charakteristischen Merkmalen wie Segel-
ohren, Hängebacken und teigiger Haut. Der Kopf eines römischen Patri-
ziers aus Otricoli von 75–50 v. Chr. hat ein vorspringendes Kinn und
eingefallene Wangen. Der Mund des Mannes ist zusammengepresst,
seine Stirn von Sorgen zerfurcht, die Augen blicken betrübt. Diesen
Stil nannte man Verismus, abgeleitet vom lateinischen Wort «verus»
Kopisten 46
für «wahr», aber wir können heute nicht beurteilen, ob solche Por-
träts naturgetreuer sind als die griechischen Büsten. Beide verkör-
perten ein Ideal, doch bei den Römern kam Erfahrung vor Jugend,
Weisheit vor Unschuld, Verlässlichkeit und Stoizismus vor oberfläch-
licher Schönheit. Nicht nur Senatoren und Militäroffiziere liebten
veristische Skulpturen, auch Händler und Handwerker ließen sich
auf ihren Grabsteinen mit all ihren Fehlern und Mängeln verewigen.
Der Verismus wurde nur dann zum Problem, wenn man noch
jung an Jahren und körperlich und geistig wenig gereift war. So er-
ging es Octavian, dem Großneffen und Adoptivsohn von Julius Cae-
sar, der im Alter von 32 Jahren der erste römische Kaiser Augustus
wurde. Es wäre nicht glaubwürdig gewesen, wenn er sich als alt
und weise hätte darstellen lassen, daher griff er auf das griechische
Modell der idealisierten Jugend zurück. In den gesamten 41 Jahren
seiner Herrschaft zeigten ihn seine Skulpturen als jungen Mann, das
Kinn straff und bartlos, der kleine Mund mit vollen Lippen, die
Augenpartie faltenlos, darüber dichte kurze Locken. Allerorten im
römischen Imperium fand man Büsten von Augustus. Ein Exemplar
aus Bronze, etwa 25 v. Chr. entstanden, wurde im Sudan entdeckt,
und es gibt ägyptische Büsten von ihm mit dem Kopfputz eines
Pharao. Diese Standbilder repräsentierten ihn und seine Macht,
wenn er nicht persönlich anwesend war. Denar-Münzen, die 20 v. Chr.
in Spanien geprägt wurden, zeigen ein Profilbild von ihm, man
konnte den Kaiser – seine Macht und seinen Schutz – also buchstäb-
lich mit sich herumtragen.
Skulpturen, die von adeligen oder Herrscherfamilien wie der von
Augustus bestellt wurden, bestanden traditionell aus Marmor oder
Bronze, robusten Materialien, die ihre Auftraggeber überleben konn-
ten. Daher sind die italienischen Städte Herculaneum und Pompeji
eine ungewöhnliche und unschätzbare Quelle für Kunsthistoriker.
Die unweit des Vesuvs liegenden Siedlungen wurden unter vier bis
sechs Metern Asche und Bimsstein begraben, als der Vulkan im Jahr
79 ausbrach und das gesamte Leben in der Stadt, von Armen wie
Reichen, zum Stillstand brachte. Die 1748 begonnenen Ausgrabun-
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gen sind bis heute nicht abgeschlossen. Die Innenräume der frei-
gelegten Häuser mit ihren Mosaiken nach Vorlagen griechischer Ge-
mälde und Wandbilder, die mythologische Szenen, Landschaften und
Scheinarchitektur zeigen, belegen, wie präsent die Kunst im Alltags-
leben war.
Wir wissen von Plinius, dass in der Malerei der illusionistische Stil
geschätzt wurde. Die Künstler aus Pompeji arbeiteten bei der Aus-
schmückung der Villen viel mit Trompe-l’œil, bemalten Gips, sodass
er wie Marmor wirkte, ließen Vögel auf drapierten Stoffen sitzen
und malten Ausblicke aus Fenstern. Das Atrium war der erste Raum,
den Besucher zu sehen bekamen, und er glich einem Bühnenbild,
dekoriert mit Möbeln und Kunstwerken, die den Geschmack und die
Neigungen des Besitzers am besten zum Ausdruck brachten. Statuen
von Dionysos, dem griechischen Gott der Freude, ließen auf viel
Müßiggang schließen; Porträtgalerien griechischer Philosophen und
römischer Vorfahren wiesen auf das kulturelle Erbe und Bildung
hin. In den Empfangsräumen neben dem Atrium zierten oft mytho-
logische Szenen und feierliche Zeremonien die Wände. In der Villa
der Mysterien ist ein Zimmer mit Wandfresken ausgekleidet, auf
denen die Vorbereitungen für eine Hochzeit zu sehen sind. Junge
Männer und Frauen bewegen sich durch Räume, die von Göttern
der Liebe und Fruchtbarkeit bevölkert sind, darunter Dionysos und
Eros. Die großen gemalten Figuren, die Posen griechischer Skulptu-
ren einnehmen, wirken echt und authentisch. Sie agieren in einem
schmalen Bereich vor leuchtend rotem Hintergrund, wodurch der
Eindruck entsteht, als würden sie den eintretenden Gästen ent-
gegenkommen, als wären diese ebenfalls Teil der geheimnisvollen
Zeremonie.
Im Haus des Fauns, einem der größten und prächtigsten Gebäude
Pompejis, befindet sich auf dem Boden eines Gartenzimmers die
Mosaik-Nachbildung eines griechischen Gemäldes, das Alexander im
Kampf gegen König Dareios von Persien zeigt. Das Mosaik misst sechs
mal drei Meter und enthielt ursprünglich rund drei Millionen tesserae,
kleine viereckige Steinplättchen in Gelb, Braun, Weiß, Schwarz und
Grau, mit denen die bewegte Schlachtenszene dargestellt wurde. Es
ist der Augenblick von Dareios’ Niederlage, der sich zu Alexander
umblickt, während seine Männer flüchten, die Speere noch auf den
Feind gerichtet. Ein Pferd versucht sich von dem Soldaten, der es
festhält, loszureißen, und zieht uns mitten hinein in das Geschehen;
hier offenbart sich, wie gut der Künstler die Perspektive beherrschte
(wir sehen den Rumpf und den Kopf des Pferdes wie von hinten).
Dieses Mosaik ist die einzig bekannte Reproduktion des Original-
gemäldes. Die Vorlage könnte entweder ein berühmtes, im 4. Jahr-
hundert von Helene von Ägypten geschaffenes Gemälde der Schlacht
bei Issos gewesen sein oder eine Schlachtenszene, die Plinius bei der
16 • Initiationsriten des Dionysoskultes (Ausschnitt), um 79 n. Chr.,
Mysterienvilla, Pompeji, Auflistung griechischer Meisterwerke in seiner Naturgeschichte er-
wähnt. Wie dem auch sei, heute existiert es jedenfalls nur noch in
Form dieses Mosaiks, das durch Zufall erhalten blieb, weil es im Jahr
79 unter Vulkanasche begraben wurde.
Als der Vesuv ausbrach, erstreckte sich das römische Imperium
von England bis nach Afrika, von Spanien bis zur Türkei. Wenn wir
im nächsten Kapitel im Jahr 110 wieder einsteigen, nähert es sich
dem Höhepunkt seiner Macht.

2023. 464 S., mit 173 Abbildungen
ISBN 978-3-406-80622-3
Weitere Informationen finden Sie hier:
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Unverkäufliche Leseprobe
© Verlag C.H.Beck oHG, München
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Jan. 2024 | In Arbeit | Kommentieren