Tatsächlich war dieses Dokument bei seiner Verabschiedung nicht viel mehr als eine Deklaration hehrer Ziele. Und diese waren auch nicht einmal „allgemein“ akzeptiert. Wie sollten auch die 48 Staaten, die für die Erklärung stimmten, die Menschheit repräsentieren?

Welches Recht hatten insbesondere die Kolonialmächte unter ihnen dazu? Bei der Abstimmung enthielten sich zudem die Sowjetunion und die Staaten ihres Machtbereichs sowie Saudi-Arabien und Südafrika. So blieben die Menschenrechte – auch wenn manche nationale Verfassung sie zur Grundlage von Bürgerrechten auf ihrem Staatsgebiet erhob – eine unverbindliche Willenserklärung mit zweifelhafter Legitimität. Hannah Arendt schrieb denn auch sarkastisch: „Die Menschenrechte haben immer das Unglück gehabt, von politisch bedeutungslosen Individuen oder Vereinen repräsentiert zu werden, deren sentimental humanitäre Sprache sich oft nur um ein geringes von den Broschüren der Tierschutzvereine unterschied.“[3]

Die unverbindliche Erklärung in völkerrechtlich bindende Verträge zu verwandeln, damit zögerten die Staaten lange. Trotzdem weckte sie sofort die Hoffnung vieler Menschen und Gruppen, die sich in ihren Rechten verletzt sahen. Massenhaft schickten sie ihre Anklagen an die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen. Allein im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens erreichten die Kommission über 30 000 Petitionen. Es folgte: nichts. Entsprechend bitter fiel das Urteil von John Humphrey aus. Der Jurist hatte als kanadischer Delegierter den ersten Entwurf der Menschenrechtserklärung aufgesetzt und später den UN-Menschenrechtsbereich geleitet. 1984 schrieb er desillusioniert, die Menschenrechtskommission sei der „aufwendigste Papierkorb, der je erfunden wurde“.[4]
Während die Verkündung universeller Menschenrechte bei vielen Menschen also einen Nerv traf, spielten diese im politischen Diskurs der Staaten während des Kalten Kriegs zunächst kaum eine Rolle. Auch die antikolonialen Befreiungsbewegungen prangerten zwar ab und an die Doppelmoral der imperialen Mächte an, die ihren Untertanen in den Kolonien die Menschenrechte vorenthielten. Der Diskurs der antikolonialen Bewegungen speiste sich aber meist aus anderen Quellen, etwa dem Recht auf Selbstbestimmung.

Aufschwung einer neuen Utopie

Erst in den 1970er Jahren gewannen die Menschenrechte in der internationalen Politik an Gewicht, insbesondere mit der KSZE-Schlussakte von 1975. Diese war ein wichtiger Schritt in der Entspannungspolitik und verankerte in ihrem „Prinzipienkatalog“ die nationale Souveränität, die Unverletzlichkeit von Grenzen, aber eben auch die Achtung der Menschenrechte. Die westlichen Staaten bestanden dabei auf dem letzten Punkt und die realsozialistischen Staaten stimmten ihm zu – wohl in der Überzeugung, dass die Menschenrechte weiterhin ein Papiertiger bleiben würden.
Entgegen dieser Erwartung entstanden aber Dissidentengruppen, die sich genau auf dieses Lippenbekenntnis stützten. Auch im Westen begann eine Bewegung zu wachsen, die die Qualität der Menschenrechte als „unpolitischen“ Referenzpunkt in einer Zeit der ideologisch verhärteten Konfrontation des Kalten Krieges begriff. Als Ausdruck dieser politischen Neutralität begannen etwa Gruppen von Amnesty International jeweils drei politische Gefangene zu „adoptieren“: einen aus dem Ostblock, einen aus einem westlichen Staat und einen in der damals so bezeichneten Dritten Welt.
Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen hatten einen großen Anteil daran, dass in den 1970er Jahren schließlich Menschenrechte ins Zentrum internationaler Politik rückten. Und das nicht nur rhetorisch: 1976 traten die beiden UN-Menschenrechtspakte in Kraft. Die Rechte aus der Allgemeinen Erklärung von 1948 waren jetzt in zwei völkerrechtlich verbindlichen Verträgen verankert, auch wenn sich in der Zweiteilung – ein Pakt für bürgerliche und politische Rechte, einer für wirtschaftliche, soziale und kulturelle – die Blockkonfrontation abbildete.[5] Nicht nur in Osteuropa beriefen sich Dissidenten auf sie, auch für linke Bewegungen im Westen gewann das Bekenntnis zu den Menschenrechten an Bedeutung, vor allem in Verteidigung gegen die brutale Repression der Militärdiktaturen in Lateinamerika. Die Amnesty-Kampagne gegen die Folter durch das Pinochet-Regime in Chile erzeugte eine ungeahnte Aufmerksamkeit und trug zum Friedensnobelpreis für die Organisation 1977 bei.
In den Staaten des Warschauer Pakts waren es Dissidentengruppen wie Charta 77, die sich auf die Menschenrechte beriefen und mithalfen, das repressive System zu unterminieren. Als dann tatsächlich das realsozialistische Modell kollabierte, war nicht das Ende der Geschichte gekommen, aber es begann eine beeindruckende Institutionalisierung der Menschenrechte. Nachdem der Kommunismus seine Anziehungskraft verloren hatte, aber auch die neoliberale Globalisierung ihre Opfer produzierte, nahmen für viele die Menschenrechte den Platz als „letzte Utopie“[6] ein.
Die meisten Staaten beugten sich dem Zeitgeist und stimmten für den Ausbau der UN-Menschenrechtsinstitutionen. So wurden diese endlich mehr „als der aufwendigste Papierkorb“ der Welt. Ein wichtiger Schritt dabei war die Wiener Menschenrechtskonferenz 1993, die das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte schuf. Aber viele Staaten passten auch ihre nationalen Gesetze an: Zwischen 1989 und 1999 schafften beispielsweise 37 Staaten die Todesstrafe ab, so viele wie in keinem anderen Jahrzehnt davor oder danach.

Das Eigenleben der Menschenrechte

Es scheint ein Muster in der Geschichte der Menschenrechte zu sein, dass die feierlichen Erklärungen immer wieder unvorhergesehene Wirkungen entfalten: Die Schöpfer der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution dachten bei ihren „Droits de l’Homme et du Citoyen“ weder an Sklaven noch an Frauen. Aber sofort entwarfen Frauen, angeführt von Olympe de Gouges, eine „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“, und in der französischen Kolonie Saint-Domingue, dem heutigen Haiti, beriefen sich die aus Afrika verschleppten Sklaven und ihre Nachkommen auf die Erklärung. 1804 hatte Haiti schließlich seine Unabhängigkeit erkämpft und schaffte die Sklaverei endgültig ab.
Genau diese Effekte fürchteten einige Staaten vor der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung: Das britische „colonial office“ warnte in internen Memos, das Bekenntnis zu den Menschenrechten könnte dem Empire den Todesstoß versetzen. In den USA äußerte George F. Kennan, Direktor des Planungsstabs im Außenministerium, Bedenken. Die Erklärung enthalte „Ideale und Prinzipien, die wir heute in unserem eigenen Land nicht einhalten können“. Das lade zu „Vorwürfen der Scheinheiligkeit gegen uns“ ein.
Der Vorwurf der Scheinheiligkeit oder Doppelmoral begleitet tatsächlich die Menschenrechtspolitik bis heute. Oft zu Recht, oft ist der Vorwurf aber auch zu billig: Aufgrund der hohen normativen Ansprüche, die die Erklärung setzt, ist eine gleichmäßige und konsequente Umsetzung gar nicht möglich. Selbst die beste Menschenrechtspolitik müsste Rücksicht auf begrenzte Ressourcen nehmen, Prioritäten setzen und Kompromisse eingehen.
Sind die Menschenrechte kolonial?
„Doppelte Standards“ und „Einmischung in innere Angelegenheiten“ sind aber nur ein Teil der Einwände gegen universelle Menschenrechte. Mit der scheinbar unaufhaltsamen Institutionalisierung der Menschenrechte wurde auch die prinzipielle Kritik linker Intellektueller an der Idee selbst lauter. Dabei lassen sich zwei Tendenzen unterscheiden: Erstens eine marxistisch inspirierte Linie, die in den Menschenrechten einen bürgerlichen Charakter eingeschrieben sieht. Menschenrechte postulierten demnach eine formale, individuelle Gleichheit. Sie ignorierten damit nicht nur die soziale Ungleichheit, sondern sicherten mit dem Recht auf Eigentum geradezu die kapitalistische Klassengesellschaft ab. Der zweite Strang ist eine Kritik aus dekolonialer oder postkolonialer Perspektive. Demnach seien die Menschenrechte, grob gesprochen, ein zutiefst europäisches Konstrukt, das sich von seiner europäisch-westlichen Herkunft auch nicht losmachen kann. Eine Position, die Politikerinnen und Politiker noch stützen, wenn sie von „westlichen Werten“ sprechen.
Aus beiden Kritiken speist sich oft ein zynischer Blick auf die Menschenrechte: Sie seien ohnehin nur ein Instrument zur Rechtfertigung interventionistischer Politik, mit der insbesondere westliche Staaten ihre Machtinteressen verfolgen würden. Sehen wir von dieser komplett desillusionierten Haltung ab, enthalten beide Kritikstränge richtige Aspekte. Nur ist die Analyse oft zu statisch. Als seien die Menschenrechte mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution in die Welt gekommen und hätten sich seither in ihrem Gehalt nicht verändert. Schon die Entstehungsgeschichte der Allgemeinen Erklärung widerspricht dieser Sicht. Zum Beispiel enthält sie – insbesondere auf Drängen der Delegierten sozialistischer, aber auch lateinamerikanischer Staaten – soziale und wirtschaftliche Rechte, zum Teil in erstaunlicher Detailtiefe, wie beim „Recht auf bezahlten Urlaub“. Und an der Ausarbeitung des Textes arbeiteten Delegierte aus China, Indien und dem Libanon wesentlich mit und versuchten, Rechtsideen aus anderen Erdteilen einfließen zu lassen.
Vor allem aber sind der Gehalt und die Interpretation der Menschenrechte immer politisch umkämpft und entwickeln sich weiter. Auch deshalb wird die Diskussion um (falschen) Universalismus und Partikularismus virulent bleiben. Dennoch haben sich viele Bewegungen im Globalen Süden längst die Universalität der Menschenrechte angeeignet. Das relativiert manche akademische Kritik. Die Menschenrechte beweisen praktisch ihre Kraft, indem sie in verschiedenen Kontexten Kämpfe für die Interessen der Machtarmen motivieren und legitimieren.[7]

Der Krieg gegen den Terror als Wendepunkt

Spätestens der 11. September 2001 stoppte den politischen und juristischen Aufschwung der Menschenrechte der vorangegangenen Jahrzehnte. Über die Gründe für die Entstehung des islamistischen Terrorismus lässt sich streiten. Jedenfalls waren die Anschläge von Al Qaida keine bewaffnete Kritik an einem kolonialen Menschenrechtsbegriff, zu der sie manche stilisieren wollten. Die Ideologie der Islamisten ist die Negation der Idee von universellen menschlichen Werten überhaupt.[8]
Fatal war aber auch, dass die US-Regierung unter George W. Bush in ihrem Krieg gegen den Terror die Menschenrechte fundamental missachtete – Guantánamo und Abu Ghraib stehen dafür. Sie schienen damit der zynischen Interpretation recht zu geben und lieferten jenen Staaten Argumente, die sich schon längst von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verabschieden wollten. So stellten schon 1994 die arabischen Staaten der universellen Erklärung ihre „Arabische Charta der Menschenrechte“ entgegen – eigentlich ein durchschaubares Manöver, um sich gegen Kritik zu immunisieren. Ein ähnliches Vorhaben, aber strategisch langfristig angelegt, verfolgt die Volksrepublik China mit ihrer Interpretation der Menschenrechte. Schon 1991 veröffentlichte die chinesische Regierung ein „Weißbuch Menschenrechte“, in dem sie ihre Lesart darlegte, in der das „Recht auf Entwicklung“ einen privilegierten Platz einnimmt.[9]
Dennoch blieb das Land lange Zeit passiv in den Menschenrechtsgremien der UN und versuchte vor allem, Menschenrechtsverletzungen im eigenen Land zu verbergen und abzustreiten. Das änderte sich spätestens 2013 mit der Präsidentschaft Xi Jinpings. China ging in die Offensive und versucht seither strategisch geschickt, sein Menschenrechtsverständnis und seine Propagandasprache in offiziellen UN-Dokumenten zu verankern. Das Land beharrte darauf, dass Menschenrechtsstandards vom Entwicklungsstand des jeweiligen Staats abhängig seien. Außerdem sollten Menschenrechtsfragen in zwischenstaatlicher „Win-win-Kooperation“ bearbeitet werden, sprich ohne Einmischung von NGOs, Drittstaaten oder internationalen Gremien. 2017 brachte China dann zum ersten Mal überhaupt eine Resolution in den UN-Menschenrechtsrat ein. Der harmlose Titel lautet: „Beitrag von Entwicklung zum Genuss aller Menschenrechte“. So gelang es der chinesischen Di-plomatie, Schritt für Schritt das chinesische Menschenrechtsverständnis in der UN zu verankern. Gleichzeitig versucht der chinesische Staat, Kritik an der eigenen Politik mit immer rabiateren Mitteln zu verhindern.[10]
Inzwischen verlieren die Menschenrechte und das Völkerrecht insgesamt immer mehr an Boden. Sie werden oft nicht einmal mehr als rhetorische Leerformel gebraucht. Ein Tiefpunkt in dieser Entwicklung war sicher der russische Überfall auf die Ukraine. Zwar versucht sogar der russische Präsident, die „militärische Intervention“ mit dem Schutz für die russischsprachige Bevölkerung oder Ähnlichem zu legitimieren, es geht aber eben nur um die Rechte der „eigenen“ Gruppe. Oft spricht er aber auch unverblümt von der Wiederherstellung alter russischer Größe. Aber auch in der Gegenreaktion kommt die „wertegeleitete“ Außenpolitik doppelt unter Druck. Um die deutsche Energieversorgung zu sichern, musste ein grüner Wirtschaftsminister Deals mit den autoritären Herrschern und Unterstützern der Hamas in Katar abschließen; und in der Suche nach Bündnispartnern verschließt die „Wertegemeinschaft“ des Westens die Augen vor der Zerstörung der Demokratie in Indien unter Präsident Narendra Modi.[11]
Dort, wo man noch von Rechtsstaaten sprechen kann, droht sich die Spannung zwischen Menschen- und Bürgerrechten gänzlich zugunsten der Bürgerrechte aufzulösen. Nationalisten, Rechtspopulisten und Protofaschisten möchten von Menschenrechten nichts wissen. Maximal geht es ihnen um die Rechte der Bürger der eigenen Nation. Auch dort, wo die Rechten (noch) in der Opposition sind, geben die Regierungen diesem Druck immer mehr nach. Gut lässt sich das an der Migrationspolitik der EU beobachten, aber auch an der Abschottung der USA an ihrer Südgrenze. Auch hier: Mauerbau, Rückführungsabkommen, lebensgefährliche Fluchtrouten.

Der düsteren Lage zum Trotz wäre es unklug, die Menschenrechte
als eine sterbende Idee abzutun

Es gab nie die Aussicht, dass sie vollständig eingelöst werden. Sie können auch kein Ersatz für gerechtere und nachhaltigere Formen der Organisation von Gesellschaft sein. Insofern trifft die Kritik an Menschenrechten von Samuel Moyn als „letzter Utopie“, sprich illusionärer Vorstellung: Sie sind kein Ersatz für Politik. Sie bilden aber einen unersetzlichen Bezugsrahmen für internationale Kooperation, auch und gerade nichtstaatlicher Akteure.
Aus der Hochzeit der Menschenrechte sind wichtige Institutionen hervorgegangen, die gerade an Einfluss verlieren, aber von Menschenrechtsorganisationen genutzt werden, zum Beispiel, um strategische Gerichtsverfahren anzustoßen. So klagten irakische Folteropfer mit juristischer Unterstützung deutscher und US-amerikanischer Organisationen in Deutschland nach dem Völkerstrafgesetzbuch gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Auf der gleichen Grundlage strengte das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) erfolgreich ein Verfahren gegen syrische Folterer an. Das Ermittlungsverfahren gegen Wladimir Putin vor dem Internationalen Strafgerichtshof verhinderte seine Reise nach Südafrika, weil das Land die 1998 geschaffene Institution anerkennt. Dass internationale Netzwerke in konkreten Fällen immer wieder Erfolge erzielen, liegt vor allem daran, dass die Menschenrechte keine normative Idee geblieben sind, sondern in juristische Normen gegossen wurden. Weit weg von einer nie erreichbaren umfassenden Gerechtigkeit, aber praktisch vor Gerichten durchsetzbar. Mit ihren Erfolgen schaffen Menschenrechtsorganisationen so ein Stück „konkrete Utopie der Menschenrechte“[12].

Nutzen und Grenzen praktischer Menschenrechtspolitik

Gleichzeitig kranken diese fallbezogenen Interventionen von NGOs und Gerichten daran, dass Menschenrechte nur da eingeklagt werden können, wo ein – wie auch immer defizitärer – Rechtsstaat besteht. Staaten wie Iran, wo sich nur die Protestbewegung auf die Menschenrechte beruft, haben sich ideologisch und praktisch so weit von dem Versprechen der Allgemeinen Erklärung verabschiedet, dass sie sich weder durch öffentliche internationale Kampagnen noch durch das „soft law“ der UN-Menschenrechtsmechanismen beeindrucken lassen. Trotzdem sollte niemand diese Möglichkeiten leichtfertig als selektiv abtun. So sind sie etwa für viele Folteropfer die einzige Möglichkeit, ein wenig Gerechtigkeit zu finden.
Es gibt also mindestens zwei Felder, auf denen das Ideal, das vor 75 Jahren in der Allgemeinen Erklärung Gestalt annahm, weiterhin wirkt: Zum einen haben die Menschenrechte dort einen ganz praktischen Nutzen, wo sie nicht nur normatives Leitbild, sondern auch als Grundlage für Rechtsschutz oder die Verurteilung von Folterern und Massenmördern dienen können.
Zweitens bleiben sie ein überragender Bezugspunkt, um eine Weltpolitik überhaupt zu denken, die mehr ist als der chaotische Machtkampf zwischen Staaten, international agierenden Konzernen, kriminellen Kartellen und Terrororganisationen. Sie sind momentan vielleicht die einzige Grundlage für das, was Seyla Benhabib einen „Kosmopolitismus ohne Illusionen“ nennt. Benhabib schrieb schon 2016, es gelte, den Kosmopolitismus vor seinen „nationalistisch-kommunitaristischen Kritikern auf der Rechten und seinen zynischen Verächtern auf der Linken“ zu retten und gegen die postmodernen und dekonstruktivistischen Skeptiker zu verteidigen.

Menschenrechte sind kosmopolitisch oder sie sind keine

Dieser Kosmopolitismus muss „ohne Illusionen“ sein, weil die Menschenrechte weder Machtverhältnisse aufheben noch Interessenpolitik ersetzen können. Sie sind ein Instrument und ein Feld der Politik, aber ein wichtiges: „Wir müssen die Dokumente globalen öffentlichen Rechts und die Rechtsfortschritte in Menschenrechtsabkommen ohne allzu viel utopisches Getöse nüchtern nutzen, um den Aufbau gegenhegemonialer transnationaler Bewegungen zu unterstützen“, so Benhabib. Die genaue Formulierung und der Katalog der universellen Rechte werden immer umstritten bleiben, wichtig bleibt es jedoch, einen Kern an Universalität zu verteidigen.
Für die politische Wirksamkeit der Idee universeller Rechte ist es auch nicht entscheidend, welcher philosophischen Schule ihre Begründung entspringt, wie Philipp Sarasin zu Recht feststellt: „Die Selbstsicherheit des Universalismus der Aufklärer aus dem 18. Jahrhundert ist uns gründlich abhandengekommen […] Dennoch gibt es keinen Grund, auf ihre besten Ideen zu verzichten.“ Aufklärung könne heute bedeuten, „den Begriff der Menschheit durch die Entschädigung historischen Unrechts zu erneuern – und die Idee der Gleichheit durch vielfältige Praktiken des Füreinander-Sorgens. Philosophische ‚Letztbegründungen‘ braucht es dafür nicht.“
Mit der Klimakrise wird immer deutlicher, dass dieses „Füreinander-Sorgen“ kommende Generationen einschließen muss. Die Menschheit – und hier ist der Begriff angebracht, ohne die unterschiedliche Verantwortung zwischen Nationen und Klassen zu verwischen – braucht internationale Kooperation, um den Planeten bewohnbar zu halten. Und dafür ist ein minimaler gemeinsamer Bezugsrahmen nötig. Die Menschenrechte bieten diesen.[13]
Menschenrechte können vieles sein, ihr Potenzial ist längst nicht ausgeschöpft. Im Moment aber dienen sie vielleicht vor allem einem viel bescheidenerem, aber gleichzeitig fundamentalem Ziel: eine Grundlage zu bieten, auf der eine Politik für einen bewohnbaren Planeten möglich ist.
Die Schiffsmetapher wurde oft missbraucht, um die extrem ungleiche Verteilung von Rechten, Ressourcen und Verantwortung zu verwischen. „Beruhigt euch, wir sitzen alle im selben Boot!“ Spätestens mit der Klimakrise ist aber klar geworden, dass die Menschheit tatsächlich einiges gemeinsam hat mit den Passagieren und der Besatzung auf einem angeschlagenen Schiff, das in einem schweren Sturm treibt. Und für alle, die dieses Schiff flicken wollen, statt es zu versenken oder sich in ihre Luxusjacht zu retten, bleiben die Menschenrechte ein Kompass, der die gemeinsame Richtung vorgeben kann. Vielleicht der einzige.

__________________________________________________________________________________

[1] Als Vorbild diente die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789. Mit einem kleinen, aber wichtigen Unterschied, der in der deutschen Übersetzung nicht deutlich wird: Die indische Delegierte Hansa Mehta bestand darauf, statt des ursprünglichen „men“ den Begriff „human beings“ zu verwenden, um Frauen unmissverständlich einzuschließen.
[2] Vgl. auch im Weiteren: Jan Eckel, Die Ambivalenz des Guten, Menschenrechte in der internationalen Politik seit den 1940ern, Göttingen 2014.
[3] Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M. 1955.
[4] John Humphrey, Human Rights and the United Nations, S. 28, New York 1984.
[5] China hat den Pakt über politische und bürgerliche Rechte unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Das Gleiche gilt für die USA beim Pakt über wirtschaftiche, soziale und kulturelle Rechte.
[6] Samuel Moyn, The Last Utopia, Human Rights in History, Cambridge 2012.
[7] Jurisgenerativität nennt Seyla Benhabib diese Kraft: „[D]ie jurisgenerativen Wirkungen von Menschenrechtserklärungen und -verträgen [geben] neuen Akteuren – beispielsweise Frauen sowie ethnischen, sprachlichen und religiösen Minderheiten – die Möglichkeit, sich in die Öffentlichkeit einzubringen, neue Vokabulare für öffentlich gestellte Forderungen zu entwickeln und neue Formen von Gerechtigkeit vorwegzunehmen.“ Dieses und die weiteren Zitate aus: Seyla Benhabib, Kosmopolitismus ohne Illusionen, Menschenrechte in unruhigen Zeiten, Berlin 2016.
[8] Es lässt sich diskutieren, ob sie nicht eine Art düsteren religiösen Universalismus vertreten. Dieser beruht aber sicher nicht auf Ideen der Gleichheit und Freiheit.
[9] Silke Voß-Kyeck, Chinas Politik im UN-Menschenrechtssystem, Berlin April 2022.
[10] Schon 2013 wurde eine Chinesin, die vor dem Menschenrechtsrat aussagen sollte, auf dem Flughafen festgenommen; sie starb einige Monate später in der Haft. 2021 drohte China der Ukraine mit dem Stopp der Lieferungen von Covid-19-Impfstoff, worauf das Land seine Unterstützung für eine unabhängige Überprüfung der Menschenrechtssituation in der chinesischen Provinz Xinjiang zurückzog.
[11] Vgl. Arundhati Roy, Wir sind zu Nazis geworden, in: „Blätter“, 11/2023, S. 65-74.
[12] Wolfgang Kaleck, Die konkrete Utopie der Menschenrechte, Berlin 2021.
[13] Ob dazu die Menschenrechte um Rechte für die Natur ergänzt werden müssen, ist eine andere Frage. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeigt, dass sich auch aus den schon verankerten Grundrechten die Pflicht zum Klimaschutz ableiten lässt. Das Gericht stellte 2021 fest, dass der Staat die Klimakrise bekämpfen muss, um die Freiheitsrechte künftiger Generationen zu schützen.

Dez. 2023 | Allgemein, Feuilleton, Politik, Sapere aude | Kommentieren