Im Gespräch erklärt die Historikerin Irina Scherbakowa, 1949 in Moskau geboren, ist Historikerin, Germanistin, Übersetzerin und Mitbegründerin der nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisation Memorial, die mittlerweile in Russland verboten ist. Scherbakowa war für die wissenschaftliche Arbeit wie die Bildungsarbeit von Memorial zuständig. 2022 erhielt Memorial den Friedensnobelpreis. Scherbakowa lebt in Deutschland und Israel, 2017 veröffentlichte sie das Buch „Die Hände meines Vaters“, eine Geschichte ihrer Familie., warum die russische Gesellschaft trotz horrender Verluste in der Ukraine passiv bleibt, wie lange Putin den Krieg wohl weiterzuführen bereit ist und wo seine allumfassende Kontrolle über das Land erste Risse aufweist.
Frau Scherbakowa, wann haben Sie erkannt, wie gefährlich Wladimir Putin ist?
Irina Scherbakowa: Bei Putin hatte ich von Anfang an ein schlechtes Gefühl. Ich erinnere mich an Silvester 1999, als Boris Jelzin im Fernsehen seinen Rücktritt als Präsident erklärte und Putin als Nachfolger ankündigte. Das hat mir die Feier verdorben, denn diese Personalie erschien mir als brandgefährlich.
Für die meisten ihrer Landsleute war Putin damals ein unbeschriebenes Blatt.
Ich wusste um Putins Herkunft und seine Karriere im KGB, auch um seine Beziehungen zur Staatssicherheit der DDR. Und es wurde viel über seine kriminelle Vergangenheit während seiner Zeit in Sankt Petersburg geredet. Schnell war absehbar, dass mit ihm keine demokratische Entwicklung des Landes möglich sein würde.
Anfangs sahen viele Menschen in ihm jedoch den ersehnten Retter aus dem Chaos der Postsowjetzeit
Das war eine Täuschung. Putin begann sehr schnell mit der Einschränkung von Freiheiten – als Erste waren die Medien dran, vor allem das unabhängige Fernsehen sollte unter Kontrolle gebracht werden. Auch wir bei Memorial spürten schnell den Druck. Er wurde immer stärker. Nach den Massenprotesten gegen die Wahlfälschungen bei den Parlamentswahlen 2011 wurde es für uns gefährlich. Bald darauf gab es das restriktive Gesetz über angebliche „ausländische Agenten“, natürlich stand auch Memorial auf der Liste. So wurden wir zu Staatsfeinden erklärt. Putin war schon damals gemeingefährlich, er drehte Russland in Richtung des Autoritarismus.
Hätten Sie es ihm aber schon vor 2022 zugetraut, einen Großangriff auf die Ukraine zu befehlen und damit die europäische Friedensordnung zu zerstören?
Putin ist vieles zuzutrauen – das weiß ich heute. Vor dem 24. Februar 2022 konnte auch ich einfach nicht glauben, dass er diesen Schritt wagen würde, nicht nur den Donbas, sondern die ganze Ukraine anzugreifen. Trotz der Besetzung der Krim 2014, trotz der pseudohistorischen Schriften aus dem Kreml, in denen Putin behauptet, dass die Ukraine niemals eine selbstständige Nation gewesen sei und er ihr das Existenzrecht abspricht. Meine Tochter war hellsichtiger als ich: Sei nicht blind, warnte sie mich, der Krieg ist unvermeidbar.
Seine Skrupellosigkeit hat Putin auch früher immer wieder demonstriert, etwa in Tschetschenien und in Syrien. Warum glaubten Sie, dass er vor einem großen Krieg zurückschrecken würde?
Putin und seine Leute sind Kriminelle, Recht und Gesetz bedeuten ihnen nichts. Aber ich hielt sie auch zeitweilig für typische Mafiosi, die eben keine Selbstzerstörung betreiben.
Die westlichen Regierungschefs und Diplomaten meinten ebenfalls, dass im Kreml Pragmatiker sitzen
Da haben sie sich bitter getäuscht. Aus dem Pragmatiker und Kriminellen wurde ein Herrscher, der die sogenannte russische Welt wiederherstellen will. Das sind jetzt Putins Ziele – und er ist bereit, den Krieg so lange zu führen, bis er das erreicht hat. Oder den ewigen Krieg zu führen, den er jetzt einen „nationalen befreienden Krieg“ nennt. Das macht ihn so ungeheuer gefährlich.
Während Russland den Weg in die Autokratie ging, strebt die Ukraine gen Westen.
Wie erklären Sie diese Entwicklung?
Die Ukrainer haben ein ganz anderes Selbstverständnis als die Russen. Sie sind überzeugt, dass ihr Land zu Europa gehört. Und sie sind sich bewusst, dass sie ihr Land verteidigen müssen. Deshalb haben sie schon nach der russischen Krim-Besetzung 2014 in der Ostukraine gekämpft, und sie haben sich für den aktuellen Krieg vorbereit.Irina Scherbakowa, 1949 in Moskau geboren, ist Historikerin, Germanistin, Übersetzerin und Mitbegründerin der nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisation Memorial, die mittlerweile in Russland verboten ist. Scherbakowa war für die wissenschaftliche Arbeit wie die Bildungsarbeit von Memorial zuständig. 2022 erhielt Memorial den Friedensnobelpreis. Scherbakowa lebt in Deutschland und Israel, 2017 veröffentlichte sie das Buch „Die Hände meines Vaters“, die Geschichte ihrer Familie.