Nicht über das Europa selbstzerstörerischer Kriege mit den Köpfen voller Hass, falscher Nationalismen und egoistischer politischer Tricks. Nein, ich meine das Europa der Vernunft, der Humanitas, der Kultur und Künste und der fruchtbaren interkontinentalen Begegnungen.

Um es geographisch zu umreißen: Das Europa von Paris bis Kuibyschew, von den Shetlandinseln bis zum Ural, von Amsterdam über Budapest bis Bukarest und von Berlin bis Sewastopol oder von Hammerfest, Uppsala und Riga bis Belgrad und Odessa.

Es läßt sich auch sinnenhafter und bildlicher ausdrücken: Ich meine das Europa des Wunders der gotischen Kathedrale zu Chartres aus dem 12. bis zum Wunder des Kiewer Höhlenklosters Petscherskaja Lawra aus dem 11. Jahrhundert. Von der Rosette in der Fassade des Straßburger Münsters bis zu den großformatigen Ikonen aus der Zeit des Zaren Boris Godunow. Von den Mysterien der Farbfenstermosaike im Dom zu Köln, bis hin zu jenen der Fresken auf den Außenmauern der Klöster Voroneţ und Suceviţa in der Moldau. Oder vom Escorial Philipps II. in Kastilien bis zum Palast des Fürsten Grigorij Potjomkin in Jekaterinoslaw, vom phänomenalen Moses des Michelangelo in San Pietro in Vincoli bis zu den sassanidischen und by- zantinischen Schätzen in der Eremitage. Aber auch von der Jenseitigkeit der Musik Johann Sebastian Bachs bis zur Abgründigkeit der altslawischen Li- turgiegesänge. Doch nicht zu vergessen von der Magna Carta Libertatum, dem Grundgesetz aus dem 13. Jahrhundert der Engländer, bis hin zur Rus- kaja Prawda, dem Corpus iuris civilis des Großfürsten Jaroslaw des Weisen aus dem 11. Jahrhundert. Nicht zuletzt muss in dieser willkürlichen Reihung die Rede sein von der Handelsroute der deutschen Hanse im 15./16. Jahrhundert aus Lübeck an der 0stsee über Krakau an der Weichsel und Bacău an der Bistritz bis zum Schwarzen Meer.

Fassen wir näher gelegene Jahrhunderte ins Auge, so darf der Hinweis auf den Austausch der innereuropäischen Ideenbewegungen, die den geistigen Atem unseres Kontinents seit jeher bestimmen, erst recht nicht unterbleiben. Abgesehen von den Unternehmungen, sich durch immer zahlreiche Übersetzungen einander mitzuteilen – es sind mehr als auf jedem anderen Kontinent – etwa das Literaturgespräch zwischen Paris und Moskau, die ge- genseitige Befruchtung der deutschen und österreichischen mit den tschechi- schen, russischen und ukrainischen Musikzentren,die florentinischen Archi- tekturimpulse in Sankt Petersburg, aber ebenso schon die Präsenz der italienischen Baumeister Ferovanti oder Selario in Moskau im 16. Jahrhundert. „Die Kultur Europas“, schrieb der ehemalige Präsident der Föderation Europäischer Schriftsteller Jochen Kelter gerade, „ist seit zweitausend Jahren auf der Wanderschaft.“ Und der niederländische Schriftsteller Geert Mak ergänzte dieser Tage: „Europa (…) ist ein Kontinent, auf dem man mühelos in der Zeit hin und her reisen kann.“

Natürlich konkretisierte sich diese Wanderschaft der Ideen und Impulse im Lebensweg herausragender Europäer, deren Namen bis heute Glanz behielten. Einige Beispiele aus den letzten Jahrhunderten: Um die Mitte des 18. Jahrhunderts lebte der Pariser Voltaire am Hof des Preußenkönigs Friedrichs II. des Großen in Potsdam – der Berliner Alexander von Humboldt hingegen ein Dreivierteljahrhundert später mehrere Jahre in Paris, wie kurz danach auch der Pole Chopin. Die in Sankt Petersburg residierende Zarin Katharina II. die Große wiederum war eine Deutsche aus der Familie Anhalt Zerbst. Hatte jedoch nicht schon vorher der moldauische Fürst und Gelehrte Dimitrie Cantemir– seit 1714 Mitglied der Berliner Akademie – als Freund des Zaren Peters des Großen in Rußland gelebt, wo er auch starb?

Als symbolisch für diese innereuropäischen Ideenflüsse sei schließlich der Hinweis erlaubt, dass der katholische Österreicher Rainer Maria Rilke sein berühmtes dreiteiliges Stunden-Buch im morgenländisch-orthodoxen Rußland zu schreiben begann, während der gläubige orthodoxe Christ und Russe Dostojewskij seinen großen Roman Die Brüder Karamasow im abendländischen Baden-Baden und im protestantischen Berlin schrieb bzw. entwarf.

Die Beispiele dieser Art andauernden Revirements europäischer Geistespotenz zwischen den jeweiligen Kulturzentren ließen sich endlos weiter führen. Wir sind auf Beschränkung angewiesen, und es geht zunächst um die Skizzierung der Fähigkeit der Europäer, sich trotz ihrer Polarisierungen und unabhängig von ihnen gegenseitig anzuregen, es geht darum, hier Europa als Einheit in Erinnerung zu rufen – oder, nach einem Wort von Thomas Sterns Eliot, als „Einheit in der Vielfalt“: Europa als ein Kosmos des aus allen und in alle Himmelsrichtungen strömenden Gebens und Nehmens.

Dass die Dynamik, mit der dies geschah, Wirkungen auch über Europa hinaus erzielte, die bis in unsere Epochen lebendig sind, gehört ebenfalls hierher. Ist es doch schließlich so, dass Vision, Plan und Erarbeitung der mathematischen Voraussetzungen für die Weltraumflüge nicht weit von hier ausgingen – vom siebenbürgischen Physiker Hermann Oberth, den die Historiker den „Vater der modernen Raumfahrt“ nennen, und fast gleichzeitig von einem zweiten Europäer, dem russischen Astrodynamiker Konstantin Ziolkowsky. Die beiden genialen Männer hatten sich trotz der strengen politischen Grenzen einander mitgeteilt. Und noch lange nicht zu guter Letzt daran, dass es ein Europäer – der Ukrainer Sergej Koroljow – war, der den ersten künstlichen Erdsatelliten,„Sputnik“, zu deutsch „Reisegefährte“, entwickelte und ins Weltall aufsteigen ließ; vier Jahre später war es dann der 24jährige Russe Juri Gagarin, der, 1961, als erster Mensch die Erde in einer Raumkapsel umrundete, dass es, weiter, der Deutsche Wernher von Braun war, der den US- Amerikanern die „Apollo 11“ baute, die 1969 zum ersten Mal Astronauten auf den Mond brachte. Zu nennen wäre schließlich noch einen Europäer vergleichbaren Formats: den Bukarester Henry Coandă – er schuf 1910 das erste strahlgetriebene Flugzeug, 1911 die erste zweimotorige Flugmaschine und baute 1919 das erste Luftkissenboot. Coandăs Nachfolgemodelle fliegen und schwimmen heute über allen Kontinenten, auf allen Meeren des Globus. Coandă wurde 1886 hier geboren und starb – nach Aufenthalt in Frankreich und den USA.

Der Élan vital, von dem der Franzose Henry Bergson in den Jahren vor dem I. Weltkrieg schrieb, erhielt sich den Europäern bis in unsere Epoche. Es sei hier jedoch nicht unsere Absicht, hier die Frage nach dem Grund zu stellen, wieso Europa zur Gedankenquelle von globaler Ergiebigkeit wurde.

Der Kern der europäischen Kulturpotenz liegt in der Vitalität seiner Regionen – sofern wir unter Region eine gesellschaftliche Gruppe verstehen, die – abgesehen von ihrer Nationszugehörigkeit – in geschichtlichem Wachstum erkennbare Spezifika entwickelte; Region also als in sich geschlossener Kulturraum. Sollte Europa die Vielfalt an regional definierter Ausdrucksfähigkeit verlieren, wird es aufhören, das Europa zu sein, das wir, unabhängig von unserer Nationalität, im Sinne des uns angemessenen Kulturklimas als Heimat empfinden. Das ist nur bedingt, nur abstrakt und ideologisch in der nationalen, es ist allein in der überschaubaren regionalen Dimension als persönliches Ereignis möglich

Alle an Regionen gebundenen Erscheinungen bedeuten in der Summe sowohl kulturellen Reichtum als auch historische Information. Wer z. B. die Gelegenheit hatte, in Südtirol aus Anlass der Himmelfahrt Marias am Pilgergang einer Dorfgemeinde in einem Tal der Dolomiten oder der Stubaier Alpen zu einer Anhöhe hinauf teilzunehmen, wird über die berühmte Burgen- und Festungsarchitektur der Grafen von Tirol hinaus erfahren, wo das Herz dieser einzigartigen Region schlägt: wo ihre Lebenskraft und deren Orientierung liegen.
Mitten zwischen den Menschen in Festtracht vom fünften bis zum neunzigsten Lebensjahr unter den Fahnen der Muttergottes zu stehen, deren Segen der Pfarrer für die Anwesenden und für die Welt erbittet, macht den uralten sakralen Pilgerakt als Erlebnis im Sinne des Wortes aus den Römerbriefen spürbar: Si Deus pro nobis, quis contra nos? Erst von dieser sicheren Bestimmtheit her werden auch die Kunstschätze Tirols, die Klöster, Schlösser und ihre Bibliotheken, in ihrem geistigen Impetus verständlich. Im gleichen Sinne müsste auch von jenen Bauern der bayerischen Hallarta-Region die Rede sein, die seit der vorkarolingischen Zeit – seit dem frühen 8. Jahrhundert – Hopfen anbauen und zur Erntezeit Fahrten unter großer Beteiligung vornehmen, ein Ritual, das sich bei genauem Hinsehen wie der Text eines aufgeschlagenen Buches über zurückgelegte historische Wege liest. Es könnte genauso über jene Lieder und Tanzweisen finnischer Waldarbeiter gesprochen werden, in denen sich Elemente der Pentatonik aus den germanischen Runen-Melodien – c-d-e-g-a – nicht nur in musealer Aufzeichnung, sondern als immer noch gesungenes Musikgut erhielten.
Oder über den rund eintausend Jahre alten Brauch des Abrollens von Feuerrädern im Friaul, im Odenwald, Sauerland, Spessart, im Tessin und Weserbergland.
Es wäre mutatis mutandis Gleiches über die Provence, über Kastilien, Burgund, die ungarische Puszta, die Zips und Böhmen oder östliche Landschaften wie etwa die polnische Wojewodschaft Tarnóv mitzuteilen – regionale Zentren, deren Potenz die Potenz der Völker Europas ergibt.

Wozu aber den Blick auf Kastilien oder die Provence richten, befinden wir uns doch hier in einem Land, dessen Regionen in ihrem Kulturgepäck all dies in exemplarischer Fülle besitzen? Gehen wir – zum Beispiel – in die Maramuresch und erleben Sie die Ernsthaftigkeit der halb sakralen, halb profanen Umzüge der Bauern von den Berghöfen am Heiligdreikönigstag mit überlieferten Sprüchen, mit festgelegter Rede und Gegenrede. Nach viereinhalb Kommunismusjahrzehnten erfuhr der Brauch eine Auferstehung in nicht geahnter Lebendigkeit – er war stärker als die Diktatur. Oder, gehen wir in eine Siedlung in den moldauischen Ostkarpatenwäldern und wohnen dort einem Osterfest mit sonst nirgendwo anzutreffenden Festgewändern bei. Oder erinnern wir uns der von der genialen Maria Tănase gesammelten und gesungenen Volkslieder, Klagegesänge, Freudenrufkadenzen … Wissen wir welche Schätze wir hier besitzen?

Alle diese Feste von Sizilien bis in die Moldau, von Kreta bis in die Puszta, sei es in den Glanzfarben italienischer Renaissancekostüme, sei es in peloponnesischen Hirtentrachten, dazu die regionalen Idiome und die seit ungezählten Generationen weitergegebenen Tänze oder Lieder ergänzen das Bild unserer Persönlichkeit über das plakativ repräsentative Kulturzeugnis hinaus substantiell – sofern wir Wert darauf legen, über den Tag hinaus uns selber wahrzunehmen und wissen zu wollen, wer wir sind, woher wir kommen, in welchem Boden wir wurzeln.

Und überlegen wir uns schließlich, wie viel etwa aus der Musik der Völker in die europäische Kunstmusik einfloss – von Bach über Beethoven bis hin zu Verdi, Bartók und Enescu, wie stark Märchen und Sagen in die Literatur der Europäer hinein wirkten. Ließ sich nicht Mihail Sadoveanu von der Volksballade Mioriţa zum Roman Baltagul, Goethe vom Volksbuch Faust zu seiner zweiteiligen Tragödie, Shakespeare von der Sage über den britannischen Herrscher zu König Lear anregen?

Nun, in den Ländern Ost- und Südosteuropas deutete die kommunistische Kulturideologie nicht allein das gesamte geistige Erbe in ihrem Sinne um, sie degradierte zugleich den gesamten Komplex der Volkskultur und -kunst zur Attrappe.
Die Aushöhlung ging nach der Losung des Lenin-Wortes „National in der Form, sozialistisch im Inhalt“ vor sich: Die Individualität der Regionen wurde aufgelöst im uniformen „Neuen Menschen“.
Nicht mehr der historisch entwickelte Wesenskern war ihr Inhalt, sondern die Absicht der Allerweltsideologie. Aber um nichts anderes in der Auswirkung sieht sich heute der Wille zur Behauptung regionaler Eigenstämmigkeit einem geschichtlich angelegten und ebenfalls gegen ihn gerichteten Prozess ausgesetzt: der von ökonomischen Interessen und Ansprüchen ausgehenden Vereinheitlichung der Gesellschaft – der Globalisierung.
Es entspricht der Logik dieser Situation, dass sich der 1949 geschaffene Europa-Rat Conseil de l’Europe in einem Papier mit dem Schutz der Regionen in den Staaten der Europäischen Union befasste; die Institution in Straßburg erkannte die kulturelle Verödungsgefahr nicht allein in den Ländern ihrer Verantwortung, sondern in ganz Europa – und damit die der Schädigung der kontinentalen Kulturpotenz.
Die Erkenntnis hat mit der immer heftigeren Reaktion von immer mehr Regionen in Ländern wie Deutschland, Frankreich, Niederlande, Österreich auf die weltweite Vereinheitlichungstendenz, das heißt auf die Niederwalzung ihrer Eigenart zu tun, sie ist die zwangsläufige Antwort auf die Bedrohung ihrer Individualität. Unter dem Druck mächtiger transnationaler Vorgänge in der Finanz-, Investitions- und Industriepolitik macht sich, wie Soziologen feststellen, der Widerstand vor allem besonders profilierter und kulturell eigenwüchsiger Regionen bemerkbar; sie haben das als „reaktives Bedürfnis nach Selbstbesinnung“ bezeichnet. Ihre Sprecher weisen dabei auf die seit jeher europabestimmenden Kulturstrukturen der Regionen hin, auf die, wie sie sagen, im Tausch gegen falsch interpretierte Fortschrittlichkeit ohne kollektiven Schaden auf Dauer nicht verzichtet werden könne, und ohne die – wie der ehemalige Bundespräsident Deutschlands, Joachim Gauck, einmal anmerkte – „Europa nicht Europa sein kann“.

Und genau an eben diesem Punkt drängt sich ein nächstes Problem von existentiellem Gewicht ins Blickfeld des Beobachters: Ist Ihnen aufgefallen, dass ich eingangs dieser Ausführung nachdrücklich auf Europas Ideenflüsse von Ost nach West und umgekehrt hinwies, nicht aber auf die vergleichbaren Nord-Süd-, bzw. Süd-Nord-Bewegungen. Der Grund:

Der 1917 von den Siegern der bolschewistischen Revolution niedergelassene Ei- serne Vorhang bedeutete eine so gut wie hermetische Abriegelung der so- eben entstandenen Sowjetunion von Europas Mitte und Westen; nach 1945 schloss diese Abriegelung dann eine Reihe weiterer Länder des Ostens und Südostens in ihren geographischen und politischen Isolationsraum ein. Sie wurde so zu einer Grenzmauer zwischen Europa Ost und Europa West und erhielt sich bis 1989/90, das ist rund ein Dreivierteljahrhundert lang … Viel zu lange sahen die Zeithistoriker in ihr ausschließlich eine politische Ost- West-Teilung. Sie war jedoch viel mehr: Sie war eine kulturelle Zweiteilung unseres Kontinents, sie bedeutete die gewaltsame Durchschneidung des geis- tigen Gewebes Europa. Machte einst „die Wanderung der Kultur durch ganz Europa“, von der Jochen Kelter sprach, Substanz und Erscheinung Europas als „Vielfalt in der Einheit“ aus, so zerstörte der Eiserne Vorhang– eine Prä- gung Joseph Goebbels’, die Winston Churchill übernahm – den trotz aller
Innereuropäischer Kulturdialog. Lückenhafte Marginalien zu einem großen Thema
polarisierenden Spannungen und blutigen Auseinandersetzungen gewach- senen kontinentalen Kulturorganismus … Ein in der Geschichte unseres Erd- teils bis dahin unvorstellbarer Akt barbarischer Zivilisationszertrümmerung! Wohl hatte es schon vor der Oktober/November-Revolution von 1917 – be- reits im 19. Jahrhundert – Differenzen zwischen westlicher und östlicher Mentalitätsorientierung gegeben, denken Sie an Dostojewkijs Zorn auf „die Westler“, der auch Tolstois Zorn war, da beide den rationalistischen Akzent Westeuropas als „Gefahr für die russische Seele“ begriffen. Doch nun vertief- ten und brutalisierten sich diese Differenzen in den Händen der Sowjets aus ganz anderen Gründen zu einem Zustand ohnegleichen. Wer nach den An- fängen dieses Phänomens sucht, wird nicht zuletzt auf die von der Aufklä- rung – der Lumière– in Europas Westen weit nachhaltiger als in Europas Osten etablierte Wirkung rationalistischer Denkweisen stoßen.
Der Ende der 1930er Jahre im sibirischen KZ-Imperium Stalins verschwun- dene Deutsche Walter Schubart, einer der intensivsten Osteuropakenner des 20. Jahrhunderts, formulierte es in seinem Buch Europa und die Seele des Ostens (Neuauflage 1998) so: „Das östliche Denken hat stets etwas von Pro- phetie, von Priester- und Sehertum. Es hat nie etwas von Mathematik. (…) Seine Kultur des Urvertrauens verschmäht das Kausalitätsprinzip, das für den Westen eigentümlich und unentbehrlich ist.“ Anders ausgedrückt: Der „Esprit géometrique“ der französischen Aufklärer, das ist die in mathematisch kalkulierendem Verständnis denkende Lebenshaltung, die von Immanuel Kant postulierte „reine Vernunft“ oder Max Webers „instrumenteller Rationalismus“ sind dem östlichen Denken traditionell fremd. An die Stelle des seinem Wesen nach westlichen „Willens zur Macht“ Nietzsches tritt im Osten die Liebes-Idee, an die der Bereitschaft des Westens zur offensiven, ja aggressiven Problemlösung tritt im Osten die Gewissheit im Bewahren. Die vom Westen ausgegangenen Naturwissenschaften, schrieb der englische Historiker Peter Watson 2010 in seinem monumentalen Werk Der deutsche Genius. Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI. frei nach Jürgen Habermas, „die Naturwissenschaften zerstörten die Grundlagen des religiösen Glaubens und boten nichts als Ersatz an“. Das irritierte den Osten zutiefst.
Das Bewusstwerden dieser Divergenz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun- derts drängte fast alle bedeutenden Geister des Ostens zu Kulturproklamaionen, und während im Westen zusätzlich zur naturwissenschaftlich bedingten Lockerung der religiösen Bindung ausgehend vom Symbolismus zu allen anderen auch noch die Tendenz wuchs, die Religion durch die Kunst zu ersetzen, wies ein östlicher Schriftsteller wie der Pole Czesław Miłosz (1911–2004) noch im Jahr 2001 diese Tendenz mit dem kategorischen Satz zurück: „Ich anerkenne diesen Ästhetizismus nicht!“ Das darf pars pro toto als die Haltung des Großteils der östlichen Intellektuellen verstanden werden. An anderer Stelle umschrieb Miłosz die unterschiedliche Ost-West-Befindlichkeit folgendermaßen: „Durch Europa verläuft eine Gefühlslinie, und alles, was östlich von ihr liegt, erscheint dem Westen unverständlich.I (…) Früher stand dort geschrieben: ‚Ubileones‘– wo die Löwen wohnen.“ Dies östliche Anderssein, schon lange vor dem Eisernen Vorhang hundertfach definiert, ergriff nach und nach auch das südöstliche Europa.
Der bosnische Schriftsteller Ivo Andrić (1892–1975) schrieb darüber ebenso wie der Rumäne Émile Cioran (1911–1995), eindeutig auch der Mazedone Mitko Madzunkow (*1943), der die entlarvende Frage stellte: Was denn habe der Aufklärungsrationalismus den europäischen Völkern in der Praxis des Zusammenlebens gebracht? Er gibt die Antwort mit dem Hinweis auf die beiden Länder der bedeutendsten Aufklärungsgeister, Frankreich und Deutschland, und deren seit der Aufklärung gegeneinander geführte verheerende Kriege von Napoleon bis Hitler. Der kroatische Philosoph Boris Buden (*1956) benannte seine Vorbehalte gegen das aufgeklärte Westeuropa mit dem Satz: „In unserer Abneigung gegen Europa liegt ohne Zweifel unsere Rettung – aber auch unser Verhängnis.“ Und die Polin Maria Janion faßt das heutige postrevolutionäre Dilemma des Ostens in die Forderung: „Nach Westen – ja, aber nicht ohne unsere Toten“, das heißt: mit dem eigenen, spezifischen östlichen Erbe, mit der Fülle östlicher Traditionen und historisch geformter Denk- wie Verhaltensweisen und deren emotionaler Werteordnung. Daraus spricht auch das Selbstbewusstsein der dem Westen überlegenen ethnographischen Pracht des Ostens.
An dieser Stelle sei abermals die Regionen ins Gespräch gebracht. Denn sie vor allem sind es, die von den diktatorischen Ideologien in den ehemaligen „Ostblockstaaten“– mit unterschiedlicher Nuance von Land zu Land – deswegen zerstört werden sollten, weil ihr Wille zur Individualität die zäheste Widerstandskraft barg – und immer noch birgt. Wieder nämlich kommt in unseren Tagen der Vorbehalt aus den Regionen, diesmal gegen die uni- formierende Absicht der Finanz- und Ökonomiepotenziale. Von ihrer „wachsenden Gegenwehr“ sprach Walter Laqueur – 1964–1991 Direktor des Londoner Instituts für Zeitgeschichte – in seinem fulminanten Buch von 2006 Die letzten Tage von Europa. Freilich wird sich auch die Idee der Regionalität nur dann legitimieren können, wenn zu ihrem kulturellen Verständnis die Friedfertigkeit und damit die Humanitas tritt.

Seien wir des Umstands bewusst, dass alle meine Anmerkungen der verfügbaren Zeit wegen nicht viel mehr als unbefriedigende Bruchstücke bieten. Dessen ungeachtet halte ich fest, dass die innereuropäische „Kulturwanderung“ trotz des 1840 vom russischen Philosophen Pjotr Tschaadajew losgetretenen Disputs pro und contra West/Ost–Ost/West- Gemeinsamkeit, trotz des Eisernen Vorhangs von 1917 bzw. 1945 bis 1989/90 die einzige kontinentale Wegmarke für unsere Zukunft sein kann. Wir müssen jedoch akzeptieren, dass die Niederreißung des Eisernen Vor- hangs der Kommunisten nur der erste Schritt auf diesem Weg war. Denn die kardinale Folge der Durchtrennung Europas war zum einen die exzessive Hinwendung der nicht betroffenen Länder zum transatlantischen Westen bei gleichzeitiger Einbuße des Gefühls der Verbundenheit mit dem Osten, zum anderen die Entfremdung der europäischen Völker dies- und jenseits der Trennungsmauer. Vor allem aber die mit Arroganz gepaarte innere Abwendung des Westens vom Osten und sein Verlust an Information über diesen. Es nützt nichts, diese Ungleichheiten zu leugnen oder klein zureden, viel eher hilft ihre eindeutige Benennung, um sie zu überwinden. Nach 1989/90 wurde ihr Ausmaß offenbar: Die Menschen in Ost und West durchliefen drei bzw. zwei Generationen grundlegend divergierende Lebenserfahrungen, wobei sich beide Seiten falsche Bilder voneinander machten. Der bereits genannte Niederländer Geert Mak stellte auf seinen Reisen durch das heutige Europa fest, „dass Generation um Generation eine Kruste der Distanz und Entfremdung zwischen Ost- und Westeuropäern wuchs“. Trotz vieler bemerkenswerter institutioneller Bemühungen um Überbrückung dauert die Lage an. Zu ihr gehört – was nicht übersehen werden darf – das Phänomen des Leids als Teil der Kultur Europas; der Osten hat dabei dem Westen Erfahrungsdimensionen von einer Qualität mitzuteilen, deren Besonderheiten unter gesamthistorischem Aspekt dem Westen unbekannt sind.

So gilt es ein zweifaches Problem zu bedenken: Der im Bereich der Westländer immer deutlicher vorgetragene Anspruch der Regionen, als Kulturspezifika demonstrativ berücksichtigt zu werden, fällt zusammen mit der in den Ostländern erforderlichen Renaissance der Regionen. Von ihnen, nicht von ihren Nationalregierungen wird der Impuls der Wiedergenesung kommen, werden sich ganze Nationen erholen können. Die Geschichte Europas lehrt es auf Schritt und Tritt: Viel eher ist eine Nation als Ganzes durch widrige Umstände in die Knie zu zwingen und zu entmündigen als der Behauptungswille der begrenzteren regionalen Einheit. Wie hätten denn z.B. die kleinen baltischen Völker ohne dieses hartnäckige Festhalten an ihrer kulturellen Regionalität bis in unsere Tage überlebt? Und sollte sich jemand die Frage nach der Vereinbarkeit von modernem Denken und moderner Le- benshaltung auf der einen Seite und dem Wunsch nach tradierter Verwurze- lung auf der anderen Seite stellen – nach dem „Verstehen der Überlieferung, aus der wir kommen“, schrieb der vor wenigen Jahren verstorbene Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900–2002) –, so sei er auf ein Land verwiesen, in dem sich wie in keinem anderen, das ich kenne, Lebenshaltung, Zivilisati- onsstandard und Kulturgespräch auf dem höchsten heute denkbaren Niveau in der Symbiose mit der ebenso starken Tradition lebendiger Volkskultur zu- sammenfinden: Es ist das kleine Norwegen, dessen Mondänität und Modernität sich in einer vollendeten Selbstverständlichkeit der Harmonie mit uraltem Brauchtum verstehen. Gleiches gilt für Finnland und Schweden.
Diese Marginalien zu einem großen Thema abschließend, kommen wir auf den Osteuropäer Czesław Miłosz zurück – dessen Buch Verführtes Denken (1953), notabene, über die Manipulierbarkeit in politicis europäischer Intelektualität immer noch aktuell ist – und lese seinen Satz, der 1999 anlässlich der 50. Jährung seit Bestehen des Europa-Rates auf einer Stele an der deutsch-französischen Grenzbrücke über den Rhein von Kehl nach Straßburg stand. Er lautet: „Ich bin die Stimme aus dem anderen Europa, dem Europa des Ostens, die im Namen vieler Städte und vieler Länder östlich von Deutschland erklingt – möge diese Brücke zwischen Frankreich und Deutschland an all die anderen Brücken erinnern, die gebaut werden müssen, damit Europa endlich wird, was es ist: eine Einheit.“
Lassen Sie mich also über Europa sprechen – wie mein Auftrag für die fol- genden Minuten lautet. Europa, sage ich gleich zu Beginn, das immer soviel wert sein und auf der internationalen Waagschale wiegen wird, wie es seine Völker im Einzelnen sind. Nicht über das Europa selbstzerstörerischer Krie- ge mit den Köpfen voller Hass, falscher Nationalismen und egoistischer poli- tischer Tricks.
Nein, ich meine das Europa der Vernunft, der Humanitas, der Kultur und Künste und der fruchtbaren interkontinentalen Begegnungen. Um es geogra- phisch zu umreißen: Das Europa von Paris bis Kuibyschew, von den Shet- landinseln bis zum Ural, von Amsterdam über Budapest bis Bukarest und von Berlin bis Sewastopol oder von Hammerfest, Uppsala und Riga bis Bel- grad und Odessa.
Es läßt sich auch sinnenhafter und bildlicher ausdrücken: Ich meine das Eu- ropa des Wunders der gotischen Kathedrale zu Chartres aus dem 12. bis zum Wunder des Kiewer Höhlenklosters Petscherskaja Lawra aus dem 11. Jahr- hundert. Von der Rosette in der Fassade des Straßburger Münsters bis zu den großformatigen Ikonen aus der Zeit des Zaren Boris Godunow. Von den Mysterien der Farbfenstermosaike im Dom zu Köln am Rhein bis hin zu je- nen der Fresken auf den Außenmauern der Klöster Voroneţ und Suceviţa in der Moldau. Oder vom Escorial Philipps II. in Kastilien bis zum Palast des Fürsten Grigorij Potjomkin in Jekaterinoslaw, vom phänomenalen Moses des Michelangelo in San Pietro in Vincoli bis zu den sassanidischen und by- zantinischen Schätzen in der Eremitage. Aber auch von der Jenseitigkeit der Musik Johann Sebastian Bachs bis zur Abgründigkeit der altslawischen Li- turgiegesänge. Doch nicht zu vergessen von der Magna Carta Libertatum, dem Grundgesetz aus dem 13. Jahrhundert der Engländer, bis hin zur Rus- kaja Prawda, dem Corpus iuris civilis des Großfürsten Jaroslaw des Weisen aus dem 11. Jahrhundert. Nicht zuletzt muss in dieser willkürlichen Reihung die Rede sein von der Handelsroute der deutschen Hanse im 15./16. Jahr- hundert aus Lübeck an der 0stsee über Krakau an der Weichsel und Bacău an der Bistritz bis zum Schwarzen Meer.
1 Plenarvortrag auf dem IX. Internationalen Kongress der Germanisten Rumäniens, 4.-7. Juni 2013, Bu- karest. Erschienen auch in: Hans Bergel, Das Spiel und das Chaos. Essay und Vorträge. Mit einer Vorbe- merkung von George Guţu. Edition Noack & Block in der Frank & Timme GmbH, Berlin 2013, S. 145-160.

Fassen wir näher gelegene Jahrhunderte ins Auge, so darf der Hinweis auf den Austausch der innereuropäischen Ideenbewegungen, die den geistigen Atem unseres Kontinents seit jeher bestimmen, erst recht nicht unterblei- ben. Abgesehen von den Unternehmungen, sich durch immer zahlreiche Übersetzungen einander mitzuteilen – es sind mehr als auf jedem anderen Kontinent – etwa das Literaturgespräch zwischen Paris und Moskau, die ge- genseitige Befruchtung der deutschen und österreichischen mit den tschechi- schen, russischen und ukrainischen Musikzentren,die florentinischen Archi- tekturimpulse in Sankt Petersburg, aber ebenso schon die Präsenz der italie- nischen Baumeister Ferovanti oder Selario in Moskau im 16. Jahrhundert. „Die Kultur Europas“, schrieb der ehemalige Präsident der Föderation Euro- päischer Schriftsteller Jochen Kelter erst vor Kurzem, „ist seit zweitausend Jahren auf der Wanderschaft.“ Und der niederländische Schriftsteller Geert Mak ergänzte dieser Tage: „Europa (…) ist ein Kontinent, auf dem man mü- helos in der Zeit hin und her reisen kann.“
Natürlich konkretisierte sich diese Wanderschaft der Ideen und Impulse im Lebensweg herausragender Europäer, deren Namen bis heute Glanz behiel- ten. Einige Beispiele aus den letzten Jahrhunderten: Um die Mitte des 18. Jahrhunderts lebte der Pariser Voltaire am Hof des Preußenkönigs Fried- richs II. des Großen in Potsdam – der Berliner Alexander von Humboldt hin- gegen ein Dreivierteljahrhundert später mehrere Jahre in Paris, wie kurz da- nach auch der Pole Chopin. Die in Sankt Petersburg residierende Zarin Ka- tharina II. die Große wiederum war eine Deutsche aus der Familie Anhalt- Zerbst. Hatte jedoch nicht schon vorher der moldauische Fürst und Gelehrte Dimitrie Cantemir– seit 1714 Mitglied der Berliner Akademie – als Freund des Zaren Peters des Großen in Rußland gelebt, wo er auch starb? Hierher gehört es auch, dass der in Craiova in Südosteuropa geborene Titu Maiorescu in Westeuropa jene entscheidenden geistigen Impulse erhielt, die er mit epo- chaler Wirkung für die Kulturorientierung der Rumänen umsetzte, dass Mi- hai Eminescu die Jahre 1869–1874 in Wien und Berlin verbrachte, Rumäni- ens bedeutender Dramatiker Caragiale 1904–1912 hier lebte und starb. Und war die weltweit bekannte Erste Rhapsodie des im Nordosten der Moldau geborenen George Enescu nicht in Westeuropa, in Paris, entstanden? Als m. E. symbolisch für diese innereuropäischen Ideenflüsse sei schließlich der Hinweis erlaubt, dass der katholische Österreicher Rainer Maria Rilke sein berühmtes dreiteiliges Stunden-Buch im morgenländisch-orthodoxen Ruß- land zu schreiben begann, während der gläubige orthodoxe Christ und Russe Dostojewskij seinen großen Roman Die Brüder Karamasow im abendländischen Baden-Baden und im protestantischen Berlin schrieb bzw. entwarf.

Die Beispiele dieser Art andauernden Revirements europäischer Geistespo- tenz zwischen den jeweiligen Kulturzentren ließen sich endlos anführen. Ich bin auf Beschränkung angewiesen, und es geht mir – wie Sie längst bemerkt haben – zunächst um die Skizzierung der Fähigkeit der Europäer, sich trotz ihrer Polarisierungen und unabhängig von ihnen gegenseitig anzuregen, es geht mir in diesem Teil meiner Ausführung darum, Ihnen Europa als Einheit in Erinnerung zu rufen – oder, nach einem Wort von Thomas Sterns Eliot, als „Einheit in der Vielfalt“: Europa als ein Kosmos des aus allen und in alle Himmelsrichtungen strömenden Gebens und Nehmens.
Dass die Dynamik, mit der dies geschah, Wirkungen auch über Europa hin- aus erzielte, die bis in unsere Epochen lebendig sind, gehört ebenfalls hier- her. Denken Sie z. B. daran, dass Vision, Plan und Erarbeitung der mathema- tischen Voraussetzungen für die Weltraumflüge nicht weit von hier ausgin- gen – vom siebenbürgischen Physiker Hermann Oberth, den die Historiker den „Vater der modernen Raumfahrt“ nennen, und fast gleichzeitig von ei- nem zweiten Europäer, dem russischen Astrodynamiker Konstantin Ziol- kowsky. Die beiden genialen Männer hatten sich trotz der strengen politi- schen Grenzen einander mitgeteilt. Denken Sie ebenso daran, dass es ein Eu- ropäer – der Ukrainer Sergej Koroljow – war, der den ersten künstlichen Erdsatelliten,„Sputnik“, zu deutsch „Reisegefährte“, entwickelte und ins Weltall aufsteigen ließ; vier Jahre später war es dann der 24jährige Russe Juri Gagarin, der, 1961, als erster Mensch die Erde in einer Raumkapsel um- rundete, dass es, weiter, der Deutsche Wernher von Braun war, der den US- Amerikanern die „Apollo 11“ baute, die 1969 zum ersten Mal Astronauten auf den Mond brachte. Als Reverenz vor der Stadt, in der wir uns befinden, nen- ne ich schließlich noch einen Europäer vergleichbaren Formats: den Buka- rester Henry Coandă – er schuf 1910 das erste strahlgetriebene Flugzeug, 1911 die erste zweimotorige Flugmaschine und baute 1919 das erste Luftkis- senboot. Coandăs Nachfolgemodelle fliegen und schwimmen heute über al- len Kontinenten, auf allen Meeren des Globus. Coandă wurde 1886 hier ge- boren und starb – nach Aufenthalt in Frankreich und den USA – vor vierzig Jahren ebenfalls hier.
Der Élan vital, von dem der Franzose Henry Bergson in den Jahren vor dem I. Weltkrieg schrieb,erhielt sich den Europäern also bis in unsere Epochen. Der in Rumänien geborene, in Paris an der Sorbonne und in Innsbruck an der Leopold-Franzens-Universität zum Kunstwissenschaftler und Kulturphilosophen ausgebildete Walter Myss (1920–2008) veranschaulichte in seinem 1981–1985 erschienenen Hauptwerk Von Daidalos bis Picasso. Europäische Geistesgeschichte im Spiegel der Kunst, dass der überwiegende Teil der Grundmuster, die heute das Bild der Zivilisationen auf den fünf Erdteilen be- stimmen, in Europa entstand. Nicht allein – notiert er unter anderem – ge- hen die Normen wissenschaftlichen Denkens nach dem Prinzip empirischer Forschung an allen Universitäten und in allen Forschungslabors auf der Erde auf einen Europäer zurück, den Griechen Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr., sondern ebenso begann, fast zweieinhalb Jahrtausende später, auch das weltweit zu Lande, zu Wasser und in der Luft benützte Fahrzeug mit Ver- brennungsmotor seinen Weg in Europa: Die beiden Deutschen Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach ersannen und bauten ihn. Aber denken Sie in diesem Zusammenhang z. B. auch an den Briten Ernest Rutherford, den „Vater der modernen Atomphysik“, die heute nicht weniger die Geister auf unserer Erde erregt – ich fasse es in die makabre Formel: Seit Hiroshima 1945 über Tschernobyl 1986 bis Fukushima 2011.
Doch nicht nur aus der Domäne der Naturwissenschaften und ihrer Techni- ken bezieht Walter Myss die Belege für seine Behauptung von der globalen europäischen Prägekraft – eine Erkenntnis übrigens, zu der nach ihm auch der englische Kulturhistoriker Mark Leonard kam, der 2005 schrieb, dass „die europäische Art, die Dinge anzugehen, sich in der Welt durchsetzen wird“. Myss stellte überdies fest, dass europäische Modelle sogar in der Kunst global vorbildhaft wurden, wenn sich z. B. japanische Komponisten der in Europa entwickelten Form der Symphonie bedienen, wie ja das dorti- ge Konzertleben weitgehend mit europäischer Musik bestritten wird. Wuss- ten sie, dass aber auch das Taschentuch, das Damen und Herren auf allen Kontinenten bei sich tragen – so ist zumindest anzunehmen –, eine Erfin- dung der italienischen Renaissance ist?, dass der weltweit getragene Herren- anzug nebst Krawatte im 19. Jahrhundert zunächst von den Europäern Form und Façon erhielt?, dass die von London bis Birma, von Oslo bis Kapstadt, von New York bis zum Feuerlandarchipel getragene Schuhform in Europa kreiert wurde? Erinnern Sie sich auch daran, dass der moderne Sport mit der Vielzahl seiner Gattungen von Europa aus die Welt „eroberte“ – die Leicht- athletik ist eine Erbe der griechischen Antike, die olympische Idee der Neu- zeit kam aus Frankreich, das Fußballspiel wurde in England entwickelt, das Handballspiel in Deutschland erfunden. Und – mehr als alles andere – die Idee des Humanismus als Philosophie, als auf den Menschen gerichtete Weltanschauung ging vom Europa des 14.–16. Jahrhunderts aus. Sie gehört
heute zumindest zum Vokabular aller Staaten und dient ihren Regierungen als wichtigste Legitimation.

Es ist nicht meine Absicht, hier die Frage nach dem Grund zu stellen, wieso Europa zur Gedankenquelle von globaler Ergiebigkeit wurde. Es ist jedoch meine Absicht, Sie auf ein Charakteristikum hinzuweisen, das nicht allein Substanz und Struktur, sondern auch den Reichtum der Bekundungs- und Erscheinungsformen Europas ausmacht. Ich meine dies: Der Kern der euro- päischen Kulturpotenz liegt in der Vitalität seiner Regionen – sofern wir un- ter Region eine gesellschaftliche Gruppe verstehen, die – auch abgesehen von ihrer Nationszugehörigkeit – in geschichtlichem Wachstum erkennbare Spezifika entwickelte; Region demnach als in sich geschlossener Kulturraum. Sollte Europa die Vielfalt an regional definierter Ausdrucksfähigkeit verlie- ren, wird es aufhören, dasjenige Europa zu sein, das wir, unabhängig von un- serer Nationalität, im Sinne des uns angemessenen Kulturklimas als Heimat empfinden. Das ist nur bedingt, nur abstrakt und ideologisch in der nationa- len, es ist allein in der überschaubaren regionalen Dimension als persönli- ches Ereignis möglich „Ohne Tradition ist der Mensch doch ein Fremder im eigenen Land“, antwortete mir ein Italiener in Garda erstaunt auf die Frage nach dem Grund der außerordentlichen Beteiligung an der seit Jahrhunder- ten als Volksfest – als Festa popolare – ausgetragenen Regatta aller Ort- schaften der Garda-See-Landschaft.
Sehen Sie, ich kann mir z. B. nicht vorstellen, dass die Toskana ohne ihre al- ten und bis heute vor Lebenslust überbordenden regionalen Bräuche die Toskana wäre. Natürlich ist die Toskana die Landschaft der florentinischen Kunstschätze – der David-Gestalt in Bronze des Donatello, der späteren in Marmor des Michelangelo, des Palazzo Strozzi, des Ponte Vecchio etc. Aber sie ist zumindest im gleichen Maße die Heimat z. B. des seit dem Mittelalter ungebrochen lebendigen Volksfestes des Calcio in costume auf der Piazza della Signoria, des Scoppio del carro oder vieler anderer vergleichbarer Ma- nifestationen von La Spezia im Norden bis Arezzo im Süden. Oder können Sie sich Andalusien vorstellen ohne den bis ins 16., wenn nicht gar ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Flamenco-Tanz mit seinen Variationen wie Alegria, Fandanguillo, Farruca, Milonga? Auch hier wie im Fall der Toska- na: Selbstverständlich sind Architekturen wie die Mezquita in Córdoba und das Minarett La Giralda in Sevilla herausragende Wahrzeichen der Region Andalusien. Doch von nicht minderer Präsenz ist es der hier entstandene Kastagnettentanz, der dazu gehörende Gesang – der Flamenco cante – öder
die Gitarrenbegleitung – der Toque. Usw.

Alle diese an die Region gebundenen Erscheinungen bedeuten in summa so- wohl kulturellen Reichtum als auch historische Information. Wer z. B. die Gelegenheit hatte, in Südtirol aus Anlass der Himmelfahrt Marias am Pilger- gang einer Dorfgemeinde in einem Tal der Dolomiten oder der Stubaier Al- pen zu einer Anhöhe hinauf teilzunehmen, wird über die berühmte Burgen- und Festungsarchitektur der Grafen von Tirol hinaus erfahren, wo das Herz dieser einzigartigen Region schlägt: wo ihre Lebenskraft und deren Orientie- rung liegen. Mitten zwischen den Menschen in Festtracht vom fünften bis zum neunzigsten Lebensjahr unter den Fahnen der Muttergottes zu stehen, deren Segen der Pfarrer für die Anwesenden und für die Welt erbittet, macht den uralten sakralen Pilgerakt als Erlebnis im Sinne des Wortes aus den Rö- merbriefen spürbar: Si Deus pro nobis, quis contra nos? Erst von dieser si- cheren Glaubensgestimmtheit her werden auch die Kunstschätze Tirols, die Klöster, Schlösser und ihre Bibliotheken, in ihrem geistigen Impetus verständlich.

Im gleichen Sinne müsste auch von jenen Bauern der bayerischen Hallartau- Region die Rede sein, die seit der vorkarolingischen Zeit – seit dem frühen 8. Jahrhundert – Hopfen anbauen und zur Erntezeit Wahlfahrten unter großer Beteiligung vornehmen, ein Ritual, das sich bei genauem Hinsehen wie der Text eines aufgeschlagenen Buches über zurückgelegte historische Wege liest. Es könnte genauso über jene Lieder und Tanzweisen finnischer Wald- arbeiter gesprochen werden, in denen sich Elemente der Pentatonik aus den germanischen Runen-Melodien – c-d-e-g-a – nicht nur in musealer Auf- zeichnung, sondern als immer noch gesungenes Musikgut erhielten. Oder über den rund eintausend Jahre alten Brauch des Abrollens von Feuerrädern im Friaul, im Odenwald, Sauerland, Spessart, im Tessin und Weserbergland. Usw. Es wäre mutatis mutandis Gleiches über die Provence, über Kastilien, Burgund, die ungarische Puszta, die Zips und Böhmen oder östliche Land- schaften wie etwa die polnische Wojewodschaft Tarnóv mitzuteilen – regio- nale Zentren, deren Potenz die Potenz der Völker Europas ergibt.
Wozu aber den Blick auf Kastilien oder die Provence richten, befinden wir uns doch hier in einem Land, dessen Regionen in ihrem Kulturgepäck all dies in exemplarischer Fülle besitzen? Gehen Sie z.B. in die Maramuresch und erleben Sie, wie ich, die Ernsthaftigkeit der halb sakralen, halb profanen Umzüge der Bauernburschen von den Berghöfen am Heiligdreikönigstag mit überlieferten Sprüchen, mit festgelegter Rede und Gegenrede. Nach viereinhalb atheistischen Kommunismusjahrzehnten erfuhr der Brauch eine Aufer- stehung in nicht geahnter Lebendigkeit – er war stärker als die Diktatur. Ge- hen Sie in eine Siedlung in den moldauischen Ostkarpatenwäldern und woh- nen Sie einem Osterfest mit sonst nirgendwo anzutreffenden Festgewändern und Kulthandlungen bei. Oder erinnern Sie sich der von der genialen Maria Tănase gesammelten und gesungenen Volkslieder, Klagegesänge, Freuden- rufkadenzen … Wissen die Menschen dieses Landes, welche Schätze sie hier besitzen?

Alle diese Feste von Sizilien bis in die Moldau, von Kreta bis in die Puszta, sei es in den Glanzfarben italienischer Renaissancekostüme, sei es in pelopon- nesischen Hirtentrachten, dazu die regionalen Idiome und die seit ungezähl- ten Generationen weitergegebenen Tänze oder Lieder etc. ergänzen das Bild unserer Persönlichkeit über das plakativ repräsentative Kulturzeugnis hin- aus substantiell – sofern wir, freilich, Wert darauf legen, über den Tag hin- aus uns selber wahrzunehmen und wissen wollen, wer wir sind, woher wir kommen, in welchem Boden wir wurzeln.

Schließlich sei noch zu überlegen, wie viel etwa aus der Musik der Völker in die europäische Kunstmusik einfloss – von Bach über Beethoven bis Verdi, Bar- tók und Enescu, wie stark Märchen und Sagen in die Literatur der Europäer hinein wirkten. Ließ sich nicht Mihail Sadoveanu von der Volksballade Mio- riţa zum Roman Baltagul, Goethe vom Volksbuch Faust zu seiner zweiteili- gen Tragödie, Shakespeare von der Sage über den britannischen Herrscher zu König Lear anregen?

Nun, in den Ländern Ost- und Südosteuropas deutete die kommunistische Kulturideologie nicht allein das gesamte geistige Erbe in ihrem Sinne um, sie degradierte zugleich den gesamten Komplex der Volkskultur und -kunst zur Attrappe. Die Aushöhlung ging nach der Losung des Lenin-Wortes „National in der Form, sozialistisch im Inhalt“ vor sich, die Individualität der Regionen wurde aufgelöst im uniformen „Neuen Menschen“. Nicht mehr der historisch entwickelte Wesenskern war ihr Inhalt, sondern die Absicht der Allerwelts- ideologie. Aber um nichts anderes in der Auswirkung sieht sich heute der Wille zur Behauptung regionaler Eigenstämmigkeit einem geschichtlich an- gelegten und ebenfalls gegen ihn gerichteten Prozess ausgesetzt: der von ökonomischen Interessen und Ansprüchen ausgehenden Vereinheitlichung der Gesellschaft – der Globalisierung.
Es entspricht der Logik dieser Situation, dass sich der 1949 geschaffene Europa-Rat – Conseil de l’Europe – vor rund zwei Monaten in einem Papier mit dem Schutz der Regionen in den Staaten der Europäischen Union befasste; die Institution in Straßburg erkannte die kulturelle Verödungsgefahr nicht allein in den Ländern ihrer Verantwortung, sondern in ganz Europa – und damit die der Schädigung der kontinentalen Kulturpotenz. Die Erkenntnis hat mit der immer heftigeren Reaktion von immer mehr Regionen in Län- dern wie Deutschland, Frankreich, Niederlande, Österreich auf die weltweite Vereinheitlichungstendenz, d. h. auf die Niederwalzung ihrer Eigenart zu tun,sie ist die zwangsläufige Antwort auf die Bedrohung ihrer Individualität. Unter dem Druck mächtiger transnationaler Vorgänge in der Finanz-, Inves- titions- und Industriepolitik macht sich, wie Soziologen feststellen, der Wi- derstand vor allem besonders profilierter und kulturell eigenwüchsiger Re- gionen bemerkbar; sie haben das als „reaktives Bedürfnis nach Selbstbesin- nung“ bezeichnet. Ihre Sprecher weisen dabei auf die seit jeher europabe- stimmenden Kulturstrukturen der Regionen hin, auf die, wie sie sagen, im Tausch gegen falsch interpretierte Fortschrittlichkeit ohne kollektiven Scha- den auf Dauer nicht verzichtet werden könne, und ohne die – wie der Bundespräsident Deutschlands, Joachim Gauck anmerkte – „Europa nicht Europa sein kann“.

Genau an diesem Punkt drängt sich ein nächstes Problem von existentiellem Gewicht ins Blickfeld des Beobachters; ich will es erklären: Es ist Ihnen auf- gefallen, dass ich eingangs dieser Ausführung nachdrücklich auf Europas Ideenflüsse von Ost nach West und umgekehrt hinwies, nicht aber auf die vergleichbaren Nord-Süd-, bzw. Süd-Nord-Bewegungen. Der Grund: Der 1917 von den Siegern der bolschewistischen Revolution niedergelassene Ei- serne Vorhang bedeutete eine so gut wie hermetische Abriegelung der so- eben entstandenen Sowjetunion von Europas Mitte und Westen; nach 1945 schloss diese Abriegelung dann eine Reihe weiterer Länder des Ostens und Südostens in ihren geographischen und politischen Isolationsraum ein. Sie wurde so zu einer Grenzmauer zwischen Europa Ost und Europa West und erhielt sich bis 1989/90, das ist rund ein Dreivierteljahrhundert lang … Viel zu lange sahen die Zeithistoriker in ihr ausschließlich eine politische Ost- West-Teilung. Sie war jedoch viel mehr: Sie war eine kulturelle Zweiteilung unseres Kontinents, sie bedeutete die gewaltsame Durchschneidung des geis- tigen Gewebes Europa. Machte einst „die Wanderung der Kultur durch ganz Europa“, von der Jochen Kelter sprach, Substanz und Erscheinung Europas als „Vielfalt in der Einheit“ aus, so zerstörte der Eiserne Vorhang– eine Prä- gung Joseph Goebbels’, die Winston Churchill übernahm – den trotz aller
polarisierenden Spannungen und blutigen Auseinandersetzungen gewachsenen kontinentalen Kulturorganismus … Ein in der Geschichte unseres Erd- teils bis dahin unvorstellbarer Akt barbarischer Zivilisationszertrümmerung! Wohl hatte es schon vor der Oktober/November-Revolution von 1917 – be- reits im 19. Jahrhundert – Differenzen zwischen westlicher und östlicher Mentalitätsorientierung gegeben, denken Sie an Dostojewkijs Zorn auf „die Westler“, der auch Tolstois Zorn war, da beide den rationalistischen Akzent Westeuropas als „Gefahr für die russische Seele“ begriffen. Doch nun vertief- ten und brutalisierten sich diese Differenzen in den Händen der Sowjets aus ganz anderen Gründen zu einem Zustand ohnegleichen. Wer nach den An- fängen dieses Phänomens sucht, wird nicht zuletzt auf die von der Aufklä- rung – der Lumière– in Europas Westen weit nachhaltiger als in Europas Osten etablierte Wirkung rationalistischer Denkweisen stoßen.

Der Ende der 1930er Jahre im sibirischen KZ-Imperium Stalins verschwundene Deutsche Walter Schubart, einer der intensivsten Osteuropakenner des 20. Jahrhunderts, formulierte es in seinem Buch Europa und die Seele des Ostens (Neuauflage 1998) so: 
„Das östliche Denken hat stets etwas von Pro- phetie, von Priester- und Sehertum. Es hat nie etwas von Mathematik. (…) Seine Kultur des Urvertrauens verschmäht das Kausalitätsprinzip, das für den Westen eigentümlich und unentbehrlich ist.“ Anders ausgedrückt: Der „Esprit géometrique“ der französischen Aufklärer, das ist die in mathema- tisch kalkulierendem Verständnis denkende Lebenshaltung, die von Imma- nuel Kant postulierte „reine Vernunft“ oder Max Webers „instrumenteller Rationalismus“ sind dem östlichen Denken traditionell fremd. An die Stelle des seinem Wesen nach westlichen „Willens zur Macht“ Nietzsches tritt im Osten die Liebes-Idee, an die der Bereitschaft des Westens zur offensiven, ja aggressiven Problemlösung tritt im Osten die Gewissheit im Bewahren. Die vom Westen ausgegangenen Naturwissenschaften, schrieb der englische His- toriker Peter Watson 2010 in seinem monumentalen Werk Der deutsche Ge- nius. Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI. frei nach Jürgen Habermas, „die Naturwissenschaften zerstörten die Grundlagen des religiösen Glaubens und boten nichts als Ersatz an“. Das irritierte den Osten zutiefst.

Das Bewusstwerden dieser Divergenz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drängte fast alle bedeutenden Geister des Ostens zu Kulturproklama- tionen, und während im Westen zusätzlich zur naturwissenschaftlich beding- ten Lockerung der religiösen Bindung ausgehend vom Symbolismus zu allen anderen auch noch die Tendenz wuchs, die Religion durch die Kunst zu er- setzen, wies ein östlicher Schriftsteller wie der von mir hoch geachtete Pole Czesław Miłosz (1911–2004) noch im Jahr 2001 diese Tendenz mit dem ka- tegorischen Satz zurück: „Ich anerkenne diesen Ästhetizismus nicht!“ Das darf pars pro toto als die Haltung des Großteils der östlichen Intellektuellen verstanden werden. An anderer Stelle umschrieb Miłosz die unterschiedliche Ost-West-Befindlichkeit folgendermaßen: „Durch Europa verläuft eine Ge- fühlslinie, und alles, was östlich von ihr liegt, erscheint dem Westen unver- ständlich.Ich komme aus jenem Teil Europas. (…) Früher stand dort geschrieben: ‚Ubileones‘– wo die Löwen wohnen.“ Dies östliche Anderssein, schon lange vor dem Eisernen Vorhang hundertfach definiert, ergriff nach und nach auch das südöstliche Europa.

Der bosnische Schriftsteller Ivo Andrić (1892–1975) schrieb darüber ebenso wie der Rumäne Émile Cioran (1911–1995), eindeutig auch der Mazedone Mitko Madzunkow (*1943), der die entlarvende Frage stellte: Was denn habe der Aufklärungsrationalismus den europäischen Völkern in der Praxis des Zusammenlebens gebracht? Er gibt die Antwort mit dem Hinweis auf die beiden Länder der bedeutendsten Aufklärungsgeister, Frankreich und Deutschland, und deren seit der Aufklärung gegeneinander geführte verhee- rende Kriege von Napoleon bis Hitler. Der kroatische Philosoph Boris Buden (*1956) benannte seine Vorbehalte gegen das aufgeklärte Westeuropa mit dem Satz: „In unserer Abneigung gegen Europa liegt ohne Zweifel unsere Rettung – aber auch unser Verhängnis.“ Und die Polin Maria Janion faßt das heutige postrevolutionäre Dilemma des Ostens in die Forderung: „Nach Westen – ja, aber nicht ohne unsere Toten“, das heißt: mit dem eigenen, spe- zifischen östlichen Erbe, mit der Fülle östlicher Traditionen und historisch geformter Denk- wie Verhaltensweisen und deren emotionaler Werteord- nung. Daraus spricht auch das Selbstbewusstsein der dem Westen überlege- nen ethnographischen Pracht des Ostens.

An dieser Stelle sei abermals am die Regionen ins Gespräch gebracgt. Denn sie vor allem sind es, die von den diktatorischen Ideologien in den ehemaligen „Ost- blockstaaten“– mit unterschiedlicher Nuance von Land zu Land – deshalb zerstört werden sollten, weil ihr Wille zur Individualität die zäheste Wider- standskraft barg – und immer noch birgt. Wieder nämlich kommt, ich sagte es, in unseren Tagen der Vorbehalt aus den Regionen, diesmal gegen die uni- formierende Absicht der Finanz- und Ökonomiepotenziale. Von ihrer „wachsenden Gegenwehr“ sprach Walter Laqueur – 1964–1991 Direktor des Londoner Instituts für Zeitgeschichte – in seinem fulminanten Buch von 2006 Die letzten Tage von Europa. Freilich wird sich auch die Idee der Regionalität nur dann legitimieren können, wenn zu ihrem kulturellen Verständnis die Friedfertigkeit und damit die Humanitas tritt.

Es ist des Umstands bewusst zu werden, dass alle meine Anmer- kungen der verfügbaren Zeit wegen nicht viel mehr als unbefriedigende Bruchstücke bieten. Dessen ungeachtet halte ich fest, dass die innereuropäi- sche „Kulturwanderung“ trotz des 1840 vom russischen Philosophen Pjotr Tschaadajew losgetretenen Disputs pro und contra West/Ost–Ost/West- Gemeinsamkeit, trotz des Eisernen Vorhangs von 1917 bzw. 1945 bis 1989/90 die einzige kontinentale Wegmarke für unsere Zukunft sein kann. Wir müssen jedoch akzeptieren, dass die Niederreißung des Eisernen Vor- hangs der Kommunisten nur der erste Schritt auf diesem Weg war. Denn die kardinale Folge der Durchtrennung Europas war zum einen die exzessive Hinwendung der nicht betroffenen Länder zum transatlantischen Westen bei gleichzeitiger Einbuße des Gefühls der Verbundenheit mit dem Osten, zum anderen die Entfremdung der europäischen Völker dies- und jenseits der Trennungsmauer. Vor allem aber die mit Arroganz gepaarte innere Abwen- dung des Westens vom Osten und sein Verlust an Information über diesen. Es nützt nichts, diese Ungleichheiten zu leugnen oder kleinzureden, viel eher hilft ihre eindeutige Benennung, um sie zu überwinden. Nach 1989/90 wur- de ihr Ausmaß offenbar: Die Menschen in Ost und West durchliefen drei bzw. zwei Generationen grundlegend divergierende Lebenserfahrungen, wo- bei sich beide Seiten falsche Bilder voneinander machten. Der bereits ge- nannte Niederländer Geert Mak stellte auf seinen Reisen durch das heutige Europa fest, „dass Generation um Generation eine Kruste der Distanz und Entfremdung zwischen Ost- und Westeuropäern wuchs“. Trotz vieler bemer- kenswerter institutioneller Bemühungen um Überbrückung dauert die Lage an. Zu ihr gehört – was nicht übersehen werden darf – das Phänomen des Leids als Teil der Kultur Europas; der Osten hat dabei dem Westen Erfah- rungsdimensionen von einer Qualität mitzuteilen, deren Besonderheiten un- ter gesamthistorischem Aspekt dem Westen unbekannt sind.

So gilt es, ein zweifaches Problem zu bedenken: Der im Bereich der Westländer immer deutlicher vorgetragene Anspruch der Regionen, als Kul- turspezifika demonstrativ berücksichtigt zu werden, fällt zusammen mit der in den Ostländern erforderlichen Renaissance der Regionen. Von ihnen, nicht von ihren Nationalregierungen wird der Impuls der Wiedergenesung
kommen, werden sich ganze Nationen erholen können. 
Die Geschichte Europas lehrt es auf Schritt und Tritt: Viel eher ist eine Nation als Ganzes durch widrige Umstände in die Knie zu zwingen und zu entmündigen als der Behauptungswille der begrenzteren regionalen Einheit. Wie hätten denn z.B. die kleinen baltischen Völker ohne dieses hartnäckige Festhalten an ihrer kulturellen Regionalität bis in unsere Tage überlebt? Und sollte sich jemand die Frage nach der Vereinbarkeit von modernem Denken und moderner Le- benshaltung auf der einen Seite und dem Wunsch nach tradierter Verwurze- lung auf der anderen Seite stellen – nach dem „Verstehen der Überlieferung, aus der wir kommen“, schrieb der vor wenigen Jahren verstorbene Philosoph Hans-Georg Gadamer (1900–2002) –, so sei er auf ein Land verwiesen, in dem sich wie in keinem anderen, das ich kenne, Lebenshaltung, Zivilisati- onsstandard und Kulturgespräch auf dem höchsten heute denkbaren Niveau in der Symbiose mit der ebenso starken Tradition lebendiger Volkskultur zu- sammenfinden: Es ist das kleine Norwegen, dessen Mondänität und Moder- nität sich in einer vollendeten Selbstverständlichkeit der Harmonie mit ural- tem Brauchtum verstehen. Gleiches gilt für Finnland und Schweden.

Diese Marginalien zu einem großen Thema abschließend, komme ich auf den Osteuropäer Czesław Miłosz zurück – dessen Buch Verführtes Denken (1953), notabene, über die Manipulierbarkeit in politicis europäischer Intel- lektualität immer noch aktuell ist –und lese Ihnen seinen Satz vor, der 1999 anlässlich der 50. Jährung seit Bestehen des Europa-Rates auf einer Stele an der deutsch-französischen Grenzbrücke über den Rhein von Kehl nach Straßburg stand. Er lautet: „Ich bin die Stimme aus dem anderen Europa, dem Europa des Ostens, die im Namen vieler Städte und vieler Länder öst- lich von Deutschland erklingt – möge diese Brücke zwischen Frankreich und Deutschland an all die anderen Brücken erinnern, die gebaut werden müs- sen, damit Europa endlich wird, was es ist: eine Einheit.“
Lassen Sie mich also über Europa sprechen – wie mein Auftrag für die fol- genden Minuten lautet. Europa, sage ich gleich zu Beginn, das immer soviel wert sein und auf der internationalen Waagschale wiegen wird, wie es seine Völker im Einzelnen sind. Nicht über das Europa selbstzerstörerischer Krie- ge mit den Köpfen voller Hass, falscher Nationalismen und egoistischer politischer Tricks.

Nein, ich meine das Europa der Vernunft, der Humanitas, der Kultur und Künste und der fruchtbaren interkontinentalen Begegnungen. Um es geogra- phisch zu umreißen: Das Europa von Paris bis Kuibyschew, von den Shet- landinseln bis zum Ural, von Amsterdam über Budapest bis Bukarest und von Berlin bis Sewastopol oder von Hammerfest, Uppsala und Riga bis Bel- grad und Odessa.
Es läßt sich auch sinnenhafter und bildlicher ausdrücken: Ich meine das Eu- ropa des Wunders der gotischen Kathedrale zu Chartres aus dem 12. bis zum Wunder des Kiewer Höhlenklosters Petscherskaja Lawra aus dem 11. Jahrhundert. Von der Rosette in der Fassade des Straßburger Münsters bis zu den großformatigen Ikonen aus der Zeit des Zaren Boris Godunow. Von den Mysterien der Farbfenstermosaike im Dom zu Köln n bis hin zu jenen der Fresken auf den Außenmauern der Klöster Voroneţ und Suceviţa in der Moldau. Oder vom Escorial Philipps II. in Kastilien bis zum Palast des Fürsten Grigorij Potjomkin in Jekaterinoslaw, vom phänomenalen Moses des Michelangelo in San Pietro in Vincoli bis zu den sassanidischen und by- zantinischen Schätzen in der Eremitage. Aber auch von der Jenseitigkeit der Musik Johann Sebastian Bachs bis zur Abgründigkeit der altslawischen Liturgiegesänge. Doch nicht zu vergessen von der Magna Carta Libertatum, dem Grundgesetz aus dem 13. Jahrhundert der Engländer, bis hin zur Rus- kaja Prawda, dem Corpus iuris civilis des Großfürsten Jaroslaw des Weisen aus dem 11. Jahrhundert. Nicht zuletzt muss in dieser willkürlichen Reihung die Rede sein von der Handelsroute der deutschen Hanse im 15./16. Jahr- hundert aus Lübeck an der 0stsee über Krakau an der Weichsel und Bacău an der Bistritz bis zum Schwarzen Meer.

Fassen wir zu guter Letzt näher gelegene Jahrhunderte ins Auge, so darf der Hinweis auf den Austausch der innereuropäischen Ideenbewegungen, die den geistigen Atem unseres Kontinents seit jeher bestimmen, erst recht nicht unterbleiben. Abgesehen von den Unternehmungen, sich durch immer zahlreiche Übersetzungen einander mitzuteilen – es sind mehr als auf jedem anderen Kontinent – etwa das Literaturgespräch zwischen Paris und Moskau, die gegenseitige Befruchtung der deutschen und österreichischen mit den tschechischen, russischen und ukrainischen Musikzentren, die florentinischen Architekturimpulse in Sankt Petersburg, aber ebenso schon die Präsenz der italienischen Baumeister Ferovanti oder Selario in Moskau im 16. Jahrhundert.

„Die Kultur Europas“, schrieb der ehemalige Präsident der Föderation Euro- päischer Schriftsteller Jochen Kelter erst vor Kurzem, „ist seit zweitausend Jahren auf der Wanderschaft.“ Und der niederländische Schriftsteller Geert Mak ergänzte dieser Tage: „Europa (…) ist ein Kontinent, auf dem man mü- helos in der Zeit hin und her reisen kann.“
Natürlich konkretisierte sich diese Wanderschaft der Ideen und Impulse im Lebensweg herausragender Europäer, deren Namen bis heute Glanz behiel- ten. Einige Beispiele aus den letzten Jahrhunderten: Um die Mitte des 18. Jahrhunderts lebte der Pariser Voltaire am Hof des Preußenkönigs Fried- richs II. des Großen in Potsdam – der Berliner Alexander von Humboldt hin- gegen ein Dreivierteljahrhundert später mehrere Jahre in Paris, wie kurz da- nach auch der Pole Chopin. Die in Sankt Petersburg residierende Zarin Ka- tharina II. die Große wiederum war eine Deutsche aus der Familie Anhalt- Zerbst. Hatte jedoch nicht schon vorher der moldauische Fürst und Gelehrte Dimitrie Cantemir– seit 1714 Mitglied der Berliner Akademie – als Freund des Zaren Peters des Großen in Rußland gelebt, wo er auch starb? Hierher gehört es auch, dass der in Craiova in Südosteuropa geborene Titu Maiorescu in Westeuropa jene entscheidenden geistigen Impulse erhielt, die er mit epo- chaler Wirkung für die Kulturorientierung der Rumänen umsetzte, dass Mi- hai Eminescu die Jahre 1869–1874 in Wien und Berlin verbrachte, Rumäni- ens bedeutender Dramatiker Caragiale 1904–1912 hier lebte und starb. Und war die weltweit bekannte Erste Rhapsodie des im Nordosten der Moldau geborenen George Enescu nicht in Westeuropa, in Paris, entstanden? Als m. E. symbolisch für diese innereuropäischen Ideenflüsse sei schließlich der Hinweis erlaubt, dass der katholische Österreicher Rainer Maria Rilke sein berühmtes dreiteiliges Stunden-Buch im morgenländisch-orthodoxen Ruß- land zu schreiben begann, während der gläubige orthodoxe Christ und Russe Dostojewskij seinen großen Roman Die Brüder Karamasow im abendländischen Baden-Baden und im protestantischen Berlin schrieb bzw. entwarf.
Die Beispiele dieser Art andauernden Revirements europäischer Geistespo- tenz zwischen den jeweiligen Kulturzentren ließen sich endlos anführen. Ich bin auf Beschränkung angewiesen, und es geht mir – wie Sie längst bemerkt haben – zunächst um die Skizzierung der Fähigkeit der Europäer, sich trotz ihrer Polarisierungen und unabhängig von ihnen gegenseitig anzuregen, es geht mir in diesem Teil meiner Ausführung darum, Ihnen Europa als Einheit in Erinnerung zu rufen – oder, nach einem Wort von Thomas Sterns Eliot, als „Einheit in der Vielfalt“: Europa als ein Kosmos des aus allen und in alle Himmelsrichtungen strömenden Gebens und Nehmens.
Dass die Dynamik, mit der dies geschah, Wirkungen auch über Europa hin- aus erzielte, die bis in unsere Epochen lebendig sind, gehört ebenfalls hier- her. Denken Sie z. B. daran, dass Vision, Plan und Erarbeitung der mathema- tischen Voraussetzungen für die Weltraumflüge nicht weit von hier ausgin- gen – vom siebenbürgischen Physiker Hermann Oberth, den die Historiker den „Vater der modernen Raumfahrt“ nennen, und fast gleichzeitig von ei- nem zweiten Europäer, dem russischen Astrodynamiker Konstantin Ziol- kowsky. Die beiden genialen Männer hatten sich trotz der strengen politi- schen Grenzen einander mitgeteilt. Denken Sie ebenso daran, dass es ein Europäer – der Ukrainer Sergej Koroljow – war, der den ersten künstlichen Erdsatelliten,„Sputnik“, zu deutsch „Reisegefährte“, entwickelte und ins Weltall aufsteigen ließ; vier Jahre später war es dann der 24jährige Russe Juri Gagarin, der, 1961, als erster Mensch die Erde in einer Raumkapsel um- rundete, dass es, weiter, der Deutsche Wernher von Braun war, der den US- Amerikanern die „Apollo 11“ baute, die 1969 zum ersten Mal Astronauten auf den Mond brachte. Als Reverenz vor der Stadt, in der wir uns befinden, nen- ne ich schließlich noch einen Europäer vergleichbaren Formats: den Buka- rester Henry Coandă – er schuf 1910 das erste strahlgetriebene Flugzeug, 1911 die erste zweimotorige Flugmaschine und baute 1919 das erste Luftkis- senboot. Coandăs Nachfolgemodelle fliegen und schwimmen heute über al- len Kontinenten, auf allen Meeren des Globus. Coandă wurde 1886 hier ge- boren und starb – nach Aufenthalt in Frankreich und den USA – vor vierzig Jahren ebenfalls hier.
Der Élan vital, von dem der Franzose Henry Bergson in den Jahren vor dem I. Weltkrieg schrieb,erhielt sich den Europäern also bis in unsere Epochen. Der in Rumänien geborene, in Paris an der Sorbonne und in Innsbruck an der Leopold-Franzens-Universität zum Kunstwissenschaftler und Kulturphi-
ZGR 1 (43) / 2013 11

Hans Bergel
losophen ausgebildete Walter Myss (1920–2008) veranschaulichte in seinem 1981–1985 erschienenen Hauptwerk Von Daidalos bis Picasso. Europäische Geistesgeschichte im Spiegel der Kunst, dass der überwiegende Teil der Grundmuster, die heute das Bild der Zivilisationen auf den fünf Erdteilen be- stimmen, in Europa entstand. Nicht allein – notiert er unter anderem – ge- hen die Normen wissenschaftlichen Denkens nach dem Prinzip empirischer Forschung an allen Universitäten und in allen Forschungslabors auf der Erde auf einen Europäer zurück, den Griechen Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr., sondern ebenso begann, fast zweieinhalb Jahrtausende später, auch das weltweit zu Lande, zu Wasser und in der Luft benützte Fahrzeug mit Ver- brennungsmotor seinen Weg in Europa: Die beiden Deutschen Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach ersannen und bauten ihn. Aber denken Sie in diesem Zusammenhang z. B. auch an den Briten Ernest Rutherford, den „Vater der modernen Atomphysik“, die heute nicht weniger die Geister auf unserer Erde erregt – ich fasse es in die makabre Formel: Seit Hiroshima 1945 über Tschernobyl 1986 bis Fukushima 2011.
Doch nicht nur aus der Domäne der Naturwissenschaften und ihrer Techni- ken bezieht Walter Myss die Belege für seine Behauptung von der globalen europäischen Prägekraft – eine Erkenntnis übrigens, zu der nach ihm auch der englische Kulturhistoriker Mark Leonard kam, der 2005 schrieb, dass „die europäische Art, die Dinge anzugehen, sich in der Welt durchsetzen wird“. Myss stellte überdies fest, dass europäische Modelle sogar in der Kunst global vorbildhaft wurden, wenn sich z. B. japanische Komponisten der in Europa entwickelten Form der Symphonie bedienen, wie ja das dorti- ge Konzertleben weitgehend mit europäischer Musik bestritten wird. Wuss- ten sie, dass aber auch das Taschentuch, das Damen und Herren auf allen Kontinenten bei sich tragen – so ist zumindest anzunehmen –, eine Erfin- dung der italienischen Renaissance ist?, dass der weltweit getragene Herren- anzug nebst Krawatte im 19. Jahrhundert zunächst von den Europäern Form und Façon erhielt?, dass die von London bis Birma, von Oslo bis Kapstadt, von New York bis zum Feuerlandarchipel getragene Schuhform in Europa kreiert wurde? Erinnern Sie sich auch daran, dass der moderne Sport mit der Vielzahl seiner Gattungen von Europa aus die Welt „eroberte“ – die Leicht- athletik ist eine Erbe der griechischen Antike, die olympische Idee der Neu- zeit kam aus Frankreich, das Fußballspiel wurde in England entwickelt, das Handballspiel in Deutschland erfunden. Und – mehr als alles andere – die Idee des Humanismus als Philosophie, als auf den Menschen gerichtete Weltanschauung ging vom Europa des 14.–16. Jahrhunderts aus. Sie gehört
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heute zumindest zum Vokabular aller Staaten und dient ihren Regierungen als wichtigste Legitimation.
Es ist nicht meine Absicht, hier die Frage nach dem Grund zu stellen, wieso Europa zur Gedankenquelle von globaler Ergiebigkeit wurde. Es ist jedoch meine Absicht, Sie auf ein Charakteristikum hinzuweisen, das nicht allein Substanz und Struktur, sondern auch den Reichtum der Bekundungs- und Erscheinungsformen Europas ausmacht. Ich meine dies: Der Kern der euro- päischen Kulturpotenz liegt in der Vitalität seiner Regionen – sofern wir un- ter Region eine gesellschaftliche Gruppe verstehen, die – auch abgesehen von ihrer Nationszugehörigkeit – in geschichtlichem Wachstum erkennbare Spezifika entwickelte; Region demnach als in sich geschlossener Kulturraum. Sollte Europa die Vielfalt an regional definierter Ausdrucksfähigkeit verlie- ren, wird es aufhören, dasjenige Europa zu sein, das wir, unabhängig von un- serer Nationalität, im Sinne des uns angemessenen Kulturklimas als Heimat empfinden. Das ist nur bedingt, nur abstrakt und ideologisch in der nationa- len, es ist allein in der überschaubaren regionalen Dimension als persönli- ches Ereignis möglich „Ohne Tradition ist der Mensch doch ein Fremder im eigenen Land“, antwortete mir ein Italiener in Garda erstaunt auf die Frage nach dem Grund der außerordentlichen Beteiligung an der seit Jahrhunder- ten als Volksfest – als Festa popolare – ausgetragenen Regatta aller Ort- schaften der Garda-See-Landschaft.
Sehen Sie, ich kann mir z. B. nicht vorstellen, dass die Toskana ohne ihre alten und bis heute vor Lebenslust überbordenden regionalen Bräuche die Toskana wäre. Natürlich ist die Toskana die Landschaft der florentinischen Kunstschätze – der David-Gestalt in Bronze des Donatello, der späteren in Marmor des Michelangelo, des Palazzo Strozzi, des Ponte Vecchio etc. Aber sie ist zumindest im gleichen Maße die Heimat z. B. des seit dem Mittelalter ungebrochen lebendigen Volksfestes des Calcio in costume auf der Piazza della Signoria, des Scoppio del carro oder vieler anderer vergleichbarer Ma- nifestationen von La Spezia im Norden bis Arezzo im Süden. Oder können Sie sich Andalusien vorstellen ohne den bis ins 16., wenn nicht gar ins 15. Jahrhundert zurückreichenden Flamenco-Tanz mit seinen Variationen wie Alegria, Fandanguillo, Farruca, Milonga? Auch hier wie im Fall der Toska- na: Selbstverständlich sind Architekturen wie die Mezquita in Córdoba und das Minarett La Giralda in Sevilla herausragende Wahrzeichen der Region Andalusien. Doch von nicht minderer Präsenz ist es der hier entstandene Kastagnettentanz, der dazu gehörende Gesang – der Flamenco cante .

Alle diese an die Region gebundenen Erscheinungen bedeuten in summa sowohl kulturellen Reichtum als auch historische Information. Wer z. B. die Gelegenheit hatte, in Südtirol aus Anlass der Himmelfahrt Marias am Pilger- gang einer Dorfgemeinde in einem Tal der Dolomiten oder der Stubaier Al- pen zu einer Anhöhe hinauf teilzunehmen, wird über die berühmte Burgen- und Festungsarchitektur der Grafen von Tirol hinaus erfahren, wo das Herz dieser einzigartigen Region schlägt: wo ihre Lebenskraft und deren Orientie- rung liegen. Mitten zwischen den Menschen in Festtracht vom fünften bis zum neunzigsten Lebensjahr unter den Fahnen der Muttergottes zu stehen, deren Segen der Pfarrer für die Anwesenden und für die Welt erbittet, macht den uralten sakralen Pilgerakt als Erlebnis im Sinne des Wortes aus den Rö- merbriefen spürbar: Si Deus pro nobis, quis contra nos? Erst von dieser si- cheren Glaubensgestimmtheit her werden auch die Kunstschätze Tirols, die Klöster, Schlösser und ihre Bibliotheken, in ihrem geistigen Impetus ver- ständlich.

Im gleichen Sinne müsste auch von jenen Bauern der bayerischen Hallartau- Region die Rede sein, die seit der vorkarolingischen Zeit – seit dem frühen 8. Jahrhundert – Hopfen anbauen und zur Erntezeit Wahlfahrten unter großer Beteiligung vornehmen, ein Ritual, das sich bei genauem Hinsehen wie der Text eines aufgeschlagenen Buches über zurückgelegte historische Wege liest. Es könnte genauso über jene Lieder und Tanzweisen finnischer Wald- arbeiter gesprochen werden, in denen sich Elemente der Pentatonik aus den germanischen Runen-Melodien – c-d-e-g-a – nicht nur in musealer Auf- zeichnung, sondern als immer noch gesungenes Musikgut erhielten. Oder über den rund eintausend Jahre alten Brauch des Abrollens von Feuerrädern im Friaul, im Odenwald, Sauerland, Spessart, im Tessin und Weserbergland. Usw. Es wäre mutatis mutandis Gleiches über die Provence, über Kastilien, Burgund, die ungarische Puszta, die Zips und Böhmen oder östliche Land- schaften wie etwa die polnische Wojewodschaft Tarnóv mitzuteilen – regio- nale Zentren, deren Potenz die Potenz der Völker Europas ergibt.
Wozu aber den Blick auf Kastilien oder die Provence richten, befinden wir uns doch hier in einem Land, dessen Regionen in ihrem Kulturgepäck all dies in exemplarischer Fülle besitzen? Gehen Sie z.B. in die Maramuresch und erleben Sie, wie ich, die Ernsthaftigkeit der halb sakralen, halb profanen Umzüge der Bauernburschen von den Berghöfen am Heiligdreikönigstag mit überlieferten Sprüchen, mit festgelegter Rede und Gegenrede. Nach vierein-
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halb atheistischen Kommunismusjahrzehnten erfuhr der Brauch eine Aufer- stehung in nicht geahnter Lebendigkeit – er war stärker als die Diktatur. Ge- hen Sie in eine Siedlung in den moldauischen Ostkarpatenwäldern und woh- nen Sie einem Osterfest mit sonst nirgendwo anzutreffenden Festgewändern und Kulthandlungen bei. Oder erinnern Sie sich der von der genialen Maria Tănase gesammelten und gesungenen Volkslieder, Klagegesänge, Freuden- rufkadenzen … Wissen die Menschen dieses Landes, welche Schätze sie hier besitzen?
Alle diese Feste von Sizilien bis in die Moldau, von Kreta bis in die Puszta, sei es in den Glanzfarben italienischer Renaissancekostüme, sei es in pelopon- nesischen Hirtentrachten, dazu die regionalen Idiome und die seit ungezähl- ten Generationen weitergegebenen Tänze oder Lieder etc. ergänzen das Bild unserer Persönlichkeit über das plakativ repräsentative Kulturzeugnis hin- aus substantiell – sofern wir, freilich, Wert darauf legen, über den Tag hin- aus uns selber wahrzunehmen und wissen wollen, wer wir sind, woher wir kommen, in welchem Boden wir wurzeln.
Und überlegen Sie schließlich, wie viel etwa aus der Musik der Völker in die europäische Kunstmusik einfloss – von Bach über Beethoven bis Verdi, Bar- tók und Enescu, wie stark Märchen und Sagen in die Literatur der Europäer hinein wirkten. Ließ sich nicht Mihail Sadoveanu von der Volksballade Mio- riţa zum Roman Baltagul, Goethe vom Volksbuch Faust zu seiner zweiteili- gen Tragödie, Shakespeare von der Sage über den britannischen Herrscher zu König Lear anregen?

Nun, in den Ländern Ost- und Südosteuropas deutete die kommunistische Kulturideologie nicht allein das gesamte geistige Erbe in ihrem Sinne um, sie degradierte zugleich den gesamten Komplex der Volkskultur und -kunst zur Attrappe. Die Aushöhlung ging nach der Losung des Lenin-Wortes „National in der Form, sozialistisch im Inhalt“ vor sich, die Individualität der Regionen wurde aufgelöst im uniformen „Neuen Menschen“. Nicht mehr der historisch entwickelte Wesenskern war ihr Inhalt, sondern die Absicht der Allerwelts- ideologie. Aber um nichts anderes in der Auswirkung sieht sich heute der Wille zur Behauptung regionaler Eigenstämmigkeit einem geschichtlich an- gelegten und ebenfalls gegen ihn gerichteten Prozess ausgesetzt: der von ökonomischen Interessen und Ansprüchen ausgehenden Vereinheitlichung der Gesellschaft – der Globalisierung.
Es entspricht der Logik dieser Situation, dass sich der 1949 geschaffene Eu- ZGR 1 (43) / 2013 15

ropa-Rat – Conseil de l’Europe– vor rund zwei Monaten in einem Papier mit dem Schutz der Regionen in den Staaten der Europäischen Union befasste; die Institution in Straßburg erkannte die kulturelle Verödungsgefahr nicht allein in den Ländern ihrer Verantwortung, sondern in ganz Europa – und damit die der Schädigung der kontinentalen Kulturpotenz. Die Erkenntnis hat mit der immer heftigeren Reaktion von immer mehr Regionen in Län- dern wie Deutschland, Frankreich, Niederlande, Österreich auf die weltweite Vereinheitlichungstendenz, d. h. auf die Niederwalzung ihrer Eigenart zu tun,sie ist die zwangsläufige Antwort auf die Bedrohung ihrer Individualität. Unter dem Druck mächtiger transnationaler Vorgänge in der Finanz-, Inves- titions- und Industriepolitik macht sich, wie Soziologen feststellen, der Wi- derstand vor allem besonders profilierter und kulturell eigenwüchsiger Re- gionen bemerkbar; sie haben das als „reaktives Bedürfnis nach Selbstbesin- nung“ bezeichnet. Ihre Sprecher weisen dabei auf die seit jeher europabe- stimmenden Kulturstrukturen der Regionen hin, auf die, wie sie sagen, im Tausch gegen falsch interpretierte Fortschrittlichkeit ohne kollektiven Scha- den auf Dauer nicht verzichtet werden könne, und ohne die – wie der Bun- despräsident Deutschlands, Joachim Gauck, vor wenigen Tagen anmerkte – „Europa nicht Europa sein kann“.
Genau an diesem Punkt drängt sich ein nächstes Problem von existentiellem Gewicht ins Blickfeld des Beobachters; ich will es erklären: Es ist Ihnen auf- gefallen, dass ich eingangs dieser Ausführung nachdrücklich auf Europas Ideenflüsse von Ost nach West und umgekehrt hinwies, nicht aber auf die vergleichbaren Nord-Süd-, bzw. Süd-Nord-Bewegungen. Der Grund: Der 1917 von den Siegern der bolschewistischen Revolution niedergelassene Ei- serne Vorhang bedeutete eine so gut wie hermetische Abriegelung der so- eben entstandenen Sowjetunion von Europas Mitte und Westen; nach 1945 schloss diese Abriegelung dann eine Reihe weiterer Länder des Ostens und Südostens in ihren geographischen und politischen Isolationsraum ein. Sie wurde so zu einer Grenzmauer zwischen Europa Ost und Europa West und erhielt sich bis 1989/90, das ist rund ein Dreivierteljahrhundert lang … Viel zu lange sahen die Zeithistoriker in ihr ausschließlich eine politische Ost- West-Teilung. Sie war jedoch viel mehr: Sie war eine kulturelle Zweiteilung unseres Kontinents, sie bedeutete die gewaltsame Durchschneidung des geis- tigen Gewebes Europa. Machte einst „die Wanderung der Kultur durch ganz Europa“, von der Jochen Kelter sprach, Substanz und Erscheinung Europas als „Vielfalt in der Einheit“ aus, so zerstörte der Eiserne Vorhang– eine Prä- gung Joseph Goebbels’, die Winston Churchill übernahm – den trotz allepolarisierenden Spannungen und blutigen Auseinandersetzungen gewach- senen kontinentalen Kulturorganismus … Ein in der Geschichte unseres Erd- teils bis dahin unvorstellbarer Akt barbarischer Zivilisationszertrümmerung! Wohl hatte es schon vor der Oktober/November-Revolution von 1917 – be- reits im 19. Jahrhundert – Differenzen zwischen westlicher und östlicher Mentalitätsorientierung gegeben, denken Sie an Dostojewkijs Zorn auf „die Westler“, der auch Tolstois Zorn war, da beide den rationalistischen Akzent Westeuropas als „Gefahr für die russische Seele“ begriffen. Doch nun vertief- ten und brutalisierten sich diese Differenzen in den Händen der Sowjets aus ganz anderen Gründen zu einem Zustand ohnegleichen. Wer nach den An- fängen dieses Phänomens sucht, wird nicht zuletzt auf die von der Aufklä- rung – der Lumière– in Europas Westen weit nachhaltiger als in Europas Osten etablierte Wirkung rationalistischer Denkweisen stoßen.
Der Ende der 1930er Jahre im sibirischen KZ-Imperium Stalins verschwun- dene Deutsche Walter Schubart, einer der intensivsten Osteuropakenner des 20. Jahrhunderts, formulierte es in seinem Buch Europa und die Seele des Ostens (Neuauflage 1998) so: „Das östliche Denken hat stets etwas von Pro- phetie, von Priester- und Sehertum. Es hat nie etwas von Mathematik. (…) Seine Kultur des Urvertrauens verschmäht das Kausalitätsprinzip, das für den Westen eigentümlich und unentbehrlich ist.“ Anders ausgedrückt: Der „Esprit géometrique“ der französischen Aufklärer, das ist die in mathema- tisch kalkulierendem Verständnis denkende Lebenshaltung, die von Imma- nuel Kant postulierte „reine Vernunft“ oder Max Webers „instrumenteller Rationalismus“ sind dem östlichen Denken traditionell fremd. An die Stelle des seinem Wesen nach westlichen „Willens zur Macht“ Nietzsches tritt im Osten die Liebes-Idee, an die der Bereitschaft des Westens zur offensiven, ja aggressiven Problemlösung tritt im Osten die Gewissheit im Bewahren. Die vom Westen ausgegangenen Naturwissenschaften, schrieb der englische His- toriker Peter Watson 2010 in seinem monumentalen Werk Der deutsche Genius. Eine Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI. frei nach Jürgen Habermas, „die Naturwissenschaften zerstörten die Grundlagen des religiösen Glaubens und boten nichts als Ersatz an“. Das irritierte den Osten zutiefst.

Diese Marginalien zu einem großen Thema abschließend, komme ich auf den Osteuropäer Czesław Miłosz zurück – dessen Buch Verführtes Denken (1953), notabene, über die Manipulierbarkeit in politicis europäischer Intellektualität immer noch aktuell ist –  und schreibe am Ende einen Satz  welcher der Jährung seit Bestehen des Europa-Rates auf einer Stele an der deutsch-französischen Grenzbrücke über den Rhein von Kehl nach Straßburg steht. Er lautet: „Ich bin die Stimme aus dem anderen Europa, dem Europa des Ostens, die im Namen vieler Städte und vieler Länder östlich von Deutschland erklingt – möge diese Brücke zwischen Frankreich und Deutschland an all die anderen Brücken erinnern, die gebaut werden müssen, damit Europa endlich wird, was es ist: eine Einheit.“

Aug. 2023 | In Arbeit | Kommentieren