Zunächst hatten mehrere Nachrichtenagenturen über eine Haftdauer von 19 Jahren berichtet. Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch erklärte auf Nachfrage der dpa, dass mit dem Urteil die Gesamtlänge der Haftdauer gemeint sein sollte; also die neun Jahre Straflager, zu denen Nawalny bereits verurteilt wurde, mit eingerechnet seien. Es bleibe aber das schriftliche Urteil abzuwarten, sagte sie. Die Staatsanwaltschaft hatte 20 Jahre Straflager für Nawalny gefordert und ihn unter anderem bezichtigt, eine extremistische Organisation gegründet und finanziert zu haben. Er selbst weist die Vorwürfe zurück, auch westliche Beobachter halten sie für politisch motiviert.
Strenge Haftbedingungen erwartet
Nawalnys Team erklärte, dass die Strafe in einem Lager unter besonderen Haftbedingungen abgesessen werden solle, die noch strenger seien als die in der bisherigen Kolonie. Nawalny sei wie ein „König“ lächelnd ohne Fesseln allein in den Saal gekommen, kommentierten seine Mitarbeiter, die sich im Exil in der EU aufhalten, bei einer Livesendung auf YouTube. Sein Bruder Oleg Nawalny, der selbst schon inhaftiert gewesen war, sagte, dass Alexej in guter „moralischer und physischer Verfassung“ sei.
Seine Unterstützer kritisieren, dass der Prozess nicht vor dem Moskauer Stadtgericht, sondern direkt in Nawalnys Strafkolonie im mehr als 200 Kilometer von Moskau entfernten Melechowo abgehalten wird. Dort versammelten sich vereinzelt Aktivisten, um den Oppositionsführer zu unterstützen. Nawalny wird nach Berichten seines Teams durch unmenschliche Haftbedingungen und Dauerisolation gefoltert.
Russlands politische Gefangene
Alexej Nawalny ist hierzulande das wohl prominenteste Gesicht der russischen Opposition – in Russland wird er kontrovers beurteilt, da er vielen als ambitiös und zu populistisch gilt. Der studierte Jurist begann seine politische Tätigkeit mit Blogs über lokale Korruptionsfälle und baute ein landesweites Netz an Organisationen auf: unter anderem den „Antikorruptionsfonds“ sowie zahlreiche Regionalbüros. Sowohl Nawalny als auch seine Mitstreiter wurden mit Klagen überzogen, ihre Tätigkeit durch die Einstufung als „Ausländische Agenten“ und „Extremisten“ immer weiter eingeschränkt und schließlich lahmgelegt. Im Jahr 2020 überlebte Nawalny knapp einen Giftanschlag, dessentwegen er nach Berlin ausgeflogen und dort in der Charité behandelt wurde. Nach erfolgreicher Reha kehrte er im Januar 2021 öffentlichkeitswirksam auf einem Linienflug nach Moskau zurück und wurde noch am Flughafen in Gewahrsam genommen. Seitdem schließt sich eine gegen ihn verhängte Haftstrafe nahtlos an die andere an. Nawalny mehrfach in andere Straflager verlegt und klagt über Misshandlung, wirkt abgemagert und ausgezehrt.
Ilja Jaschin blickt auf eine lange Karriere als Oppositionspolitiker zurück: Als junger Erwachsener übernahm er Ämter in der Partei „Jabloko“, später engagierte er sich in verschiedenen kremlkritischen Bündnissen. Seine geplanten Kandidaturen zur Bürgermeister- und Stadtratswahl in Moskau wurden von den Behörden vereitelt. In der Öffentlichkeit trat er weiter entschlossen als Kremlkritiker in Erscheinung, unter anderem mit einem YouTube-Kanal. Im Sommer 2022 wurde Jaschin wegen angeblichem Widerstand gegen Polizeibeamte und direkt nach der Freilassung erneut verhaftet, da er öffentlich das russische Massaker an Zivilisten im ukrainischen Butscha kritisiert hatte. Ein Moskauer Gericht verurteilte ihn im November 2022 zu achteinhalb Jahren Gefängnis.
Andrej Piwowarow leitete die kremlkritische Organisation „Offenes Russland“, die der im Exil lebende Putin-Kritiker Michail Chodorkowski gegründet hatte – selbst von 2003 bis 2013 ein politischer Gefangener in Russland. 2021 wurde „Offenes Russland“ zur unerwünschten Organisation erklärt. Damit drohte allen Mitarbeitern in Russland Verfolgung. Um dem zuvorzukommen, erklärte Piwowarow die Organisation für aufgelöst und stieg in ein Flugzeug von Sankt Petersburg nach Polen. Polizisten nahmen ihn auf dem Rollfeld fest und brachten ihn in ein Gefängnis nach Krasnodar, wo er 2022 zu vier Jahren Haft verurteilt wurde. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International betonten nach dem Urteil, die ihm zur Last gelegten „Aktivitäten für eine unerwünschte Organisation“ seien keine „international als Straftat anerkannte Handlung“ – vielmehr werde Piwowarow festgehalten, weil er von seinen Rechten auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit Gebrauch gemacht habe.
Wladimir Kara-Mursa hatte sich in den frühen 2000er-Jahren als Parteipolitiker und Berater des 2015 in Moskau ermordeten Boris Nemzow einen Namen gemacht. Später arbeitete er für die kremlkritische Organisation „Offenes Russland“. 2015 und 2017 wurde er mit diagnostizierten Vergiftungen intensivmedizinisch behandelt – seine Familie und er gehen davon aus, dass Kara-Mursa zwei Giftanschläge überlebt hat. Er leidet inzwischen an Polyneuropathie, einem sich vielfältig ausprägenden Nervenleiden. Nach Russlands Überfall auf die Ukraine im Frühjahr 2022 hielt Kara-Mursa im Parlament des US-Bundesstaats Arizona eine Antikriegsrede und gründete mit anderen Dissidenten die Gruppierung „Antikriegskommitee“. Er wurde kurz darauf in Moskau festgenommen und 2023 wegen angeblichen Hochverrats zu 25 Jahren Straflager verurteilt. Kara-Mursa selbst hat seinen Prozess mit den Schauprozessen gegen politische Gegner im Stalinismus verglichen – eine versuchte Berufung wies das Moskauer Gericht zurück.
Iwan Safronow berichtete als Journalist bei den russischen Zeitungen „Kommersant“ und „Wedomosti“ über Militär und Verteidigung. 2020 machte ihn der Leiter der russischen Raumfahrtbehörde zu seinem Berater – wenig später wurde er unter dem Vorwurf verhaftet, geheime Informationen an NATO-Staaten weitergegeben zu haben. De facto hatte Safronow Artikel zu Russlands Waffenverkäufen im Nahen Osten und Afrika für tschechische und deutsch-russische Auftraggeber erfasst. Die russische Justiz stufte dies als Hochverrat ein und verurteilte ihn zu 22 Jahren Straflager. Kollegen und Unterstützer bezeichneten die Vorwürfe als absurd, Safronow selbst sprach von einer „Zerrüttung der Justiz und des gesunden Menschenverstands“. Ein Berufungsverfahren verlor er.
Alexej Gorinow war der erste, der 2022 für angebliche „Falschaussagen über das russische Militär“ verurteilt wurde: Der Moskauer Kommunalpolitiker hatte sich bei einer Sitzung des Bezirkstags dagegen ausgesprochen, einen Kinder-Malwettbewerb zu veranstalten, während in der Ukraine jeden Tag Kinder stürben. Zu dieser Zeit suchte der Kreml für seinen Überfall auf die Ukraine die Formulierung einer „militärischen Spezialoperation“ durchzusetzen – Gorinow nannte den Krieg in seiner Wortmeldung beim Namen. Er habe „aus politischem Hass“ gehandelt, sagte die Richterin, die ihn zu sieben Jahren Haft verurteilte. Bei der Gerichtsverhandlung hielt der 62-Jährige ein Schild mit der Aufschrift „Brauchen Sie diesen Krieg noch?“ hoch.
Die Künstlerin Alexandra Skotschilenko ist in Russland vor allem einer jüngeren Generation bekannt – unter anderem für ihr Comic „Buch über Depressionen“, in dem sie in entstigmatisierender Weise über psychische Krankheiten aufklärt. Skotschilenko wurde im April 2022 für ihre Kunstaktion in einem Sankt Petersburger Supermarkt festgenommen: Sie hatte dort Preisschilder mit Etiketten überklebt, die Botschaften über den Krieg in der Ukraine enthielten. Seitdem sitzt sie in Untersuchungshaft, die mehrfach verlängert wurde. Bei einer Verurteilung drohen ihr bis zu zehn Jahre Gefängnis. Dass sie gesundheitliche Schäden aus der Haft zurückbehält, muss befürchtet werden: Menschenrechtsgruppen weisen immer wieder darauf hin, dass Skotschilenko einen Herzfehler und die Nahrungsmittelunverträglichkeit Zöliakie habe, aber keine dementsprechende Kost erhalte.
Alexander Gabyschew, der aus der russischen Teilrepublik Jakutien stammt, bezeichnet sich selbst als Schamanen. 2019 brach er zu einem 8000 Kilometer langen Fußmarsch nach Moskau auf, um dort ein Ritual abzuhalten, das „den bösen Geist Putin aus dem Kreml austreiben“ solle. Unterwegs scharte er Menschen um sich, die teils zu Wegbegleitern wurden und mit regimetreuen Kräften aneinandergerieten. Der Marsch wurde mehrfach gestoppt, Gabyschew festgenommen. Nachdem er 2021 auf YouTube angekündigt hatte, zu Pferd nach Moskau reiten zu wollen, brachten ihn Sicherheitskräfte gewaltsam aus seiner Wohnung in eine psychiatrische Anstalt. Dort soll er nach einer Entscheidung des Stadtgerichts von Jakutsk auf unbestimmte Zeit zur Intensivbehandlung bleiben.
Dmitrij Iwanow studierte an der Moskauer Lomonossow-Universität Mathematik und setzte sich unter anderem für unter dubiosen Umständen verurteilte Aktivisten ein – unter anderem im Prozess gegen ein angebliches anarchistisches Netzwerk, das in Russland rückwirkend als Terrororganisation eingestuft wurde, in der den Verurteilten zur Last gelegten Form aber wohl nie bestand. Iwanow betrieb einen Telegramkanal, auf dem er regierungskritische Posts und Informationen über russische Angriffe auf die Ukraine veröffentlichte. Diese Aktivitäten fallen in Russland seit Beginn der Ukraine-Invasion als „Verbreitung von Falschinformationen über die Streitkräfte“ unter Strafe. Ein Gericht verurteilte den 23-Jährigen im Frühjahr zu achteinhalb Jahren Straflager, zudem soll er nach seiner Freilassung vier Jahre lang nicht mehr das Internet nutzen dürfen. Iwanow hielt dem Urteil entgegen, die Justiz sei es, die hier ein einziges großes Fake produziert habe – er stehe zu seinem Wort, und jeder von ihm verbreitete Fakt habe sich vielfach bestätigt.
Baerbock sieht „blankes Unrecht“
Das Urteil gegen Nawalny sorgt auch für internationale Kritik. Außenministerin Annalena Baerbock warf Russland „Willkürjustiz“ vor. Die Freiheitsstrafe sei „blankes Unrecht“, schrieb sie auf der Plattform X (früher Twitter). Russlands Präsident Wladimir Putin „fürchtet nichts mehr als Eintreten gegen Krieg und Korruption und für Demokratie – selbst aus der Gefängniszelle heraus“. Er werde damit kritische Stimmen nicht zum Schweigen bringen, fügte sie hinzu.
Die Vereinten Nationen forderten die „sofortige“ Freilassung Nawalnys. Die Verurteilung des Kremlkritikers „gibt Anlass zu neuer Besorgnis über die Schikanierung durch die Justiz und die Instrumentalisierung des Gerichtssystems für politische Zwecke in Russland“, erklärte UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk.
Auch die Europäische Union bezeichnete das Urteil als „inakzeptabel“ und sprach von einem „Scheinprozess“ gegen Nawalny. „Diese willkürliche Verurteilung ist die Antwort auf seinen Mut, sich kritisch gegen das Kremlregime zu äußern“, sagte EU-Ratspräsident Charles Michel. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell teilte mit, die EU verurteile Nawalnys Festnahme, seinen Prozess und seine Verurteilung „auf das Schärfste“.
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Fünftes Urteil gegen Nawalny
In der Strafkolonie Melechowo leistet Nawalny derzeit eine neunjährige Haftstrafe wegen Betrugs und Missachtung der Justiz ab. 2021 wurde er zudem wegen eines angeblichen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen verurteilt. Das heutige Urteil ist das insgesamt fünfte gegen Nawalny. Die Prozesse gegen ihn werden weithin als Versuch des Kremls gewertet, den entschlossenen Kritiker von Präsident Putin mundtot zu machen. Nawalny hatte in der Vergangenheit Fälle von Korruption in Russland öffentlich gemacht und Demonstrationen gegen Putin organisiert.
Die Vorwürfe im neuesten Prozess bezogen sich unter anderem auf seine Antikorruptionsstiftung. Nach Angaben seiner Mitstreiter sollen damit rückwirkend alle Aktivitäten der Stiftung als strafbare Handlungen eingestuft werden. Am Donnerstag rief Nawalny über sein Team die Russen auf, Widerstand zu leisten und politische Gefangene zu unterstützen. Nichts zu unternehmen und sich einschüchtern zu lassen, wäre eine Schande, hieß es in dem Posting auf X.
Menschenrechtler weisen derweil immer wieder auf die angeschlagene Gesundheit Nawalnys hin, der im Sommer 2020 nur knapp einen Nervengiftanschlag überlebte. Nawalny wirft dem russischen Inlandsgeheimdienst FSB und Putin vor, hinter dem Mordanschlag zu stecken. Der Kreml dementiert das. Nach einer Behandlung in Deutschland kehrte er im Januar 2021 in seine Heimat Russland zurück – im Wissen, dass er dort verhaftet werden würde. Noch am Flughafen wurde er abgeführt.
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Frank Aischmann, tagesschau, 04.08.2023 18:07 Uhr
04.08.2023 • 09:26 Uhr
Kremlkritiker Weiteres Urteil gegen Nawalny erwartet
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04.06.2023 • 21:54 Uhr
Geburtstag von Kremlkritiker Demonstranten fordern Nawalnys Freilassung
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Prozesse gegen Organisationen Wie der Kreml Nawalnys Einfluss stoppt
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15.06.2022 • 19:32 Uhr
Verlegung in berüchtigte Strafkolonie Nawalny sendet ein Lebenszeichen
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