Entspricht die Neutralität der Schweiz noch den völkerrechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Realitäten der Gegenwart?
Wie eigennützig war und ist diese Neutralität?
Und wie müsste sie neu konzipiert werden, damit die Schweiz sich wirklich für eine friedliche internationale Ordnung einsetzen kann?
Die Schweiz steckt in einer Selbstbeschreibungskrise
Dies tut sie deshalb, weil die Politik viele Probleme nicht mehr auf die Reihe bekommt. Diese werden nämlich durch die Aussenbeziehungen und äusseren Abhängigkeiten des Landes mitverursacht, während die Berner Machtmechanik binnenzentrisch konstruiert ist. Was Wunder also, dass dauernd über Druck von aussen geklagt wird und dass die Regierung regelmässig zum Notrecht greift. In dieser Krisenlage wurde die Neutralität nach jahrzehntelangem Dämmerschlaf erneut zur Zauberformel auferweckt, welche in einer von Katastrophen heimgesuchten, raschem Wandel unterworfenen Welt feste Orientierung verspricht.
Doch auch dies funktioniert nicht mehr. Neutralität ist heute nicht mehr ein nationalintegrativer Mythos, sondern eine polarisierende Maxime. Die Zustimmungsraten befinden sich im Sinkflug, für viele ist sie zum Anachronismus verkommen, während andere, vorzugweise am rechten Rand des politischen Spektrums (SVP, Pro Schweiz), ein Glaubensbekenntnis aus ihr machen und sie in einer besonders engen Fassung per Volksinitiative in der Verfassung verankert wollen.
Einseitige Neutralität
Die «kooperative Neutralität», die Bundesrat Ignazio Cassis im Frühjahr 2022 lancierte, sollte den vertrackten internationalen und europäischen Verflechtungszusammenhängen, in denen die Schweiz operiert, Rechnung tragen. Das Konzept stürzte umgehend ab. Es hatte ein Glaubwürdigkeitslücke, weil der neutrale Kleinstaat faktisch genau auf das Gegenteil zusteuern wollte, nämlich auf eine maximal auf Eigennutz und damit einseitig ausgerichtete Neutralitätspolitik. Nach der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte in die Ukraine vor nun schon fast anderthalb Jahren verband die Regierung ihre neutrale Positionierung mit der Ablehnung von Wirtschaftssanktionen. Das wurde allerdings weder in der Aussenwahrnehmung noch in der Schweiz selbst akzeptiert. Als durch die Medienberichterstattung bekannt wurde, dass 150 bis 200 Milliarden russische Oligarchenvermögen auf dem helvetischen Finanzplatz verwaltet werden, dass der neutrale Kleinstaat als operative Drehscheibe für mehr als die Hälfte des russischen Rohstoffhandels fungiert und dass viele Tycoons von Putins Gnaden sich hierzulande eines sorglosen Lebens erfreuen, stieg der Druck auf die Schweizer Regierung an. Nach Tagen des Zögerns und Zauderns lenkt der Bundesrat ein und übernahm am 28. Februar 2023 die Sanktionen der Europäischen Union.
Obgleich das neutralitätspolitisch und -rechtlich völlig in Ordnung war, berichtete die New York Times in den «Breaking News», die Schweiz habe nun ihre 500-jährige «tief verwurzelte Tradition der Neutralität» aufgegeben. Das russische Aussenministerium erklärte fast gleichlautend, die Schweiz habe bedauerlicherweise ihren Status als neutraler Staat eingebüsst und sei nun ein «feindlicher Staat». Im Inland liess Christoph Blocher in Überbietung des Kreml-Statements verlauten, sein Land sei jetzt «leider Kriegspartei».“„Die Neutralität wurde nach jahrzehntelangem Dämmerschlaf erneut zur Zauberformel auferweckt, welche in einer von Katastrophen heimgesuchten, raschem Wandel unterworfenen Welt feste Orientierung verspricht.“ ”
Diese «Zeitenwende»-Statements sahen darüber hinweg, dass die Sanktionen in der Schweiz nur sehr zaghaft umgesetzt werden. Obwohl, wie die Finanical Times berichtet, «Dubai das neue Genf» des Ölhandels zu werden sich anschickt, bleibt die Vertretung russischer Interessen in den Bereichen Vermögensverwaltung und Rohstoffgeschäfte in der Schweiz intakt. Diese anhaltende, unneutrale Unterstützung des Aggressors wird im militärischen Bereich überkompensiert. Weit herum Kopfschütteln löste im Herbst 2022 die Weigerung des Bundesrates aus, eine Bewilligung für den Re-Export von Luftabwehr-Munition und die Lieferung von 96 in Italien eingemotteten Leopard-Panzern via Deutschland an die Ukraine zu erteilen. Exekutive und Administration verschanzten sich hinter einer engen Auslegung der Haager Abkommen von 1907. Im Parlament suchte die Sozialdemokratie zusammen mit dem Freisinn vergeblich nach einem gesetzlichen Weg, um diese Blockierung zu überwinden. So blieb es beim Nein.
Neutralität und Nützlichkeit
Als das Völkerrecht seit dem 16. Jahrhundert die Beziehungen zwischen Staaten zu regulieren begann, war das Recht auf Neutralsein die Kehrseite des Rechts auf Krieg. Bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts liessen sich drei Effekte der Neutralität erkennen: Erstens schwächten sich, wie etwa Jean Bodin festhielt, die Kriegsparteien gegenseitig, woraus für einen neutralen Staat ohne weiteres Zutun ein relativer Gewinn resultiert. Die faktisch neutrale Haltung der Eidgenossenschaft im Dreissigjährigen Krieg (1618-48) hatte wesentlich dazu beigetragen, dass sie – so Grimmelshausen im Simplizissimus – als ein «irdisch Paradies» erschien. Zweitens liess sich ein neutraler Status nur mit Unterstützung der grossen Mächte absichern. Indem die Eidgenossenschaft auf Kriege verzichtete, konnte sie zahlungskräftige kriegführende Mächte mit Soldaten versorgen, was für die regierenden Familienverbände beträchtlichen Reichtum brachte und gleichzeitig das Profil eines nützlichen Pufferstaates schärfte. Drittens zeugte die Selbstbezeichnung als «ein Neutral Standt» (so im «Defensionale von Wyl» 1647) vom Willen, die im Corpus Helveticum wirkenden Antagonismen zu neutralisieren. Bis ins 20. Jahrhundert dienten Neutralitätserklärungen dazu, innere Spannungen zu moderieren.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert vermochten schweizerische Unternehmen, die einen Kolonialismus ohne Kolonien betrieben, als Go between zwischen rivalisierenden imperialistischen Grossmächten eine Neutralitätsdividende zu realisieren. Dass der freisinnige Parlamentarier und spätere Bundesrat Hermann Obrecht 1917, mitten im Ersten Weltkrieg, die neutrale Schweiz als «Lieblingsaufenthalt der Kapitalisten» charakterisierte, gehört ins selbe Kapitel wie die «neutrale» Ausnutzung aller Geschäftsmöglichkeiten mit dem nationalsozialistischen Deutschland während des Zweiten Weltkrieges. Im historischen Rückblick fällt auf, dass die wichtigsten «Neutralitätserklärungen» der Schweiz zu Beginn des Ersten Weltkrieges (am 3. August 1914) und des Zweiten Weltkrieges (am 30. August 1939) mit dem Übergang zu einem extrakonstitutionellen Notrechtsregime einhergingen. Beide Male setzte eine lang andauernde «Implosion des Verfassungsrechts» und eine gegenläufigen «Explosion des sekundären Vollmachtenrechts» ein (wie der Staatsrechtler Andreas Kley in seiner Verfassungsgeschichte der Schweiz schreibt).
Die Verrechtlichung der Neutralität durchwirkte diese politischen Vorgänge und wirtschaftlichen Strategien. 1815 wurde die Neutralität der Eidgenossenschaft von den Grossmächten sowohl anerkannt wie auch garantiert. Das Neutralisierungs-Design von aussen und der Hang zum Neutralsein im Innern ergänzten sich situativ perfekt. Im Zweckartikel der Bundesverfassung von 1848 wurde die Neutralität jedoch nicht erwähnt, weil man in ihr ein Mittel zum Zweck sah. Die Haager Abkommen von 1907, welche die Schweiz ratifiziert hat, kodifizierten das bisherige Völkergewohnheitsrecht. An eine Wirtschaftskriegsführung, wie sie im 20. Jahrhundert praktiziert wurde, dachten die Vertragsparteien damals noch nicht. Die Regelung von Waffenlieferungen durch neutrale Staaten blieb unterbelichtet.
Kollektive Sicherheit und Gewaltverbot
Nach dem Ersten Weltkrieg entstand eine neue Rechtslage. Mit Artikel 435 des Versailler Friedensvertrages wurde die schweizerische Neutralität 1919 ein weiteres Mal bestätigt; ein Jahr darauf trat die Schweiz dem Völkerbund bei und integrierte sich erstmals in ein System kollektiver Sicherheit. Sie war stolz darauf, dass Genf zum Sitz der ersten internationalen Organisation von Staaten auserkoren wurde. Mit der Londoner Erklärung vom 13. Februar 1920 willigte sie ein in wirtschaftliche Sanktionen gegen Staaten, die Angriffskriege auslösten. Für den (mehrheitlich vom Freisinn gestellten) Bundesrat war es klar, dass die Rechtsgüterabwägung zwischen einem sturen «integralen» Neutralitätsverständnis und der neuen Friedensordnung nur zugunsten der letzteren ausgehen konnte. Er argumentierte «in der Fortdauer des Zustandes der Schutzlosigkeit des Rechtes und der daraus folgenden Feindschaft der Völker» liege «die grösste, wenn auch vielleicht nicht unmittelbarste Gefahr für unser Land». Der neutrale Kleinstaat praktizierte fortan (bis 1938) eine «differenzielle Neutralität».
Der Völkerbund gewährte den einzelnen Staaten noch immer ein «Recht auf Krieg». Dies änderte sich mit dem Brian-Kellog-Pakt von 1928, der in der erhellenden Studie von Oona A. Hathaway und Scott. J. Shapiro als «the most transformative event of human history» interpretiert wird. Das erste Mal in der Weltgeschichte sollte der Grundsatz Si vis pacem, para pacem durchgesetzt werden. Mit der Negation des ius ad bellum geriet unweigerlich auch das ius ad neutralitatem in die strategische Defensive. Die Schweiz unterzeichnete den Pakt 1929 dennoch, weil sie zwischen Neutralitätspolitik und universeller Kriegsächtung eine klare Zielkonvergenz erkannte.
Gegen den aggressiv-expansionistischen Nationalsozialismus verfügten weder der Völkerbund noch der Kriegsächtungspakt über geeignete Abwehrmittel. Doch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde 1945 ein erweitertes allgemeines Gewaltverbot in die UN-Charta aufgenommen. Diesem entspricht das Recht auf kollektive Selbstverteidigung im Falle eines Angriffskrieges. Unter diesen Bedingungen erodierte das Neutralitätsrecht weiter. Am Ende des Kalten Krieges veröffentlichte der österreichische Völkerrechtler Karl Zemanek einen Aufsatz mit dem Titel «The Chaotic Status of the Laws of Neutrality», in dem er auf die «allgemeine Unordnung», d.h. die vielen Ungewissheiten, Lücken und Unschärfen des völkerrechtlichen Neutralitätsstatus hinwies.
Damit schlug Zemanek Töne an, in die Schweizer Völkerrechtler einstimmten. In Zürich konstatierte Dieter Schindler jr. 1992 «Anzeichen eines Verlusts an universeller Geltung»; seit 1945 sei kein Staat mehr den Haager Neutralitätsabkommen beigetreten, selbst solche nicht, die sich, wie Irland, Laos oder Malta als «neutral» bezeichneten. Es finde eine «Verdrängung des Neutralitätsrechts durch Friedensvölkerrecht» statt, das die Rechte und Pflichten neutraler Länder verändere. 2015 schrieb der Völker- und Verfassungsrechtler Daniel Thürer, in der völkerrechtlichen Literatur sei es «still geworden um die Neutralität». Als Stichwort in Lehrbüchern sei diese «praktisch ganz verschwunden». Bei ihrem UN-Beitritt 2002 strebte die Schweiz gar keinen Neutralitätsvorbehalt mehr an, sondern deponierte bloss eine Neutralitätserklärung.
Bundesverfassung, Völkerrecht und die Aufgaben der Schweiz
In einer Welt, in der es Dutzende von bewaffneten Konflikten um Ressourcen und Machtpositionen gibt, kann eine neutrale Haltung für ein Land wie die Schweiz, das Depositarstaat der Genfer Konventionen von 1949 und damit der Kernabkommen des humanitären Völkerrechts ist, auch heute durchaus sinnvoll sein. Die Haager Abkommen von 1907, welche die im Zeichen eines Rechts auf Krieg stehende Welt des 19. Jahrhunderts repräsentieren, haben als Referenzrahmen ausgedient. Es gilt, die neutrale Haltung auf die eigene Verfassung und den Wandel völkerrechtlicher Grundsätze abzustimmen. Dazu drei abschliessende Überlegungen.
Erstens muss die Schweiz den Friedensauftrag, der in ihrer eigenen Bundesverfassung von 1999 formuliert ist, weit ernster nehmen als bisher. In diesem staatsfundierenden Dokument wird die Neutralität nur zweimal erwähnt, nämlich in den Kompetenzartikeln der Bundesversammlung Art. 173) und des Bundesrates (Art. 185). Hingegen stipuliert Zweckartikel 2, die Schweizerische Eidgenossenschaft «setzt sich ein für (…) eine friedliche und gerechte internationale Ordnung». Dies korrespondiert mit der UN-Charta. Diese ist zwar reformbedürftig, stellt aber doch die zukunftsträchtigste Richtschnur der schweizerischen Aussen- und Friedenspolitik dar.
Zudem gilt es zu sehen, dass das Insistieren auf einer totalen, integralen, umfassenden Neutralität schon in der Zwischenkriegszeit das Wohlgefallen mächtiger Diktatoren gefunden hat, während die Schweiz damit ihr nationales Geschäftsmodell absichern konnte. Unabhängig von der Moralfrage, die eine solche unheimliche Allianz von Aggressoren und Neutralen aufwirft, ist ein solches Vorgehen heute nicht mehr praktikabel. Es verhindert zudem ein verstärktes Engagement der Schweiz in suprastaatlichen sowie internationalen Organisationen sowie eine sicherheitspolitische Öffnung nach Europa und es sabotiert die konstruktive Klärung des Verhältnisses der Schweiz zur Europäischen Union.
Drittens sollte die Schweiz mit einer auf die UN-Charta Bezug nehmenden Ausnahmeregelung Waffenlieferungen – seien sie direkt oder indirekt – an die Ukraine ermöglichen. Eine generelle Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes wäre hingegen kontraproduktiv. Dass das Parlament kurz vor dem russischen Angriffskrieg das Waffenausfuhrgesetz nochmals verschärfte, hatte seinen Grund keineswegs in einer «Friedensillusion», wie dies Rüstungslobbyisten behaupten. Vielmehr lieferte die Schweiz laut dem Uppsala Conflict Data Program zwischen 2000 und 2017 Waffen an 32 Staaten, die in Konflikte involviert waren. 2017 betraf das mehr als 30 Prozent der Rüstungsgüter. Dies ohne Einbezug der sog. Dual use-Güter, die direkt kriegsrelevant sind. Ein ETH-Militärforscher erklärte unlängst, solche von der Schweiz in beträchtlichem Ausmass getätigten Lieferungen spielten «für die Kampfkraft der russischen Armee eine grössere Rolle als die Einfuhr von fertigen Waffensystemen».
Wenn der Historiker Marco Jorio, Verfasser eines neuen Überblickswerks zur schweizerischen Neutralität, polemisiert, das «Verbot, an Kriegführende Rüstungsmaterial zu liefern» sei «Ausdruck eines moralisch-pazifistischen Mainstreams in unserem Land», so verdreht er die Geschichte. Vielmehr zeigt sich, dass die Schweiz den Geist ihrer Verfassung doppelt verletzt, indem sie ohne Rücksicht auf die internationale Friedensordnung «an Kriegführende Rüstungsmaterial» exportierte, um sich anschliessend in scheinheiliger Neutralitätspose gegen Lieferungen an die Ukraine zu stellen, von deren Verteidigungskrieg die künftige Sicherheit Europas und der Schweiz massgeblich abhängt. Verantwortlich für dieses Versagen ist ein bürgerlich-rechtsnationalistisch dominiertes Parlament, das mit Pazifismus wenig am Hut hat.
Auch wenn die Schweiz doch noch Waffen liefern würde,
wäre dies nicht kriegsentscheidend.
Die Fixierung nämlichauf die militärische Frage verstellt den Blick auf die Aufgaben, auf die sich der neutrale Kleinstaat mit seiner beträchtlichen wirtschaftlich-finanziellen Kapazität konzentrieren sollte. Angesagt ist eine massive Beteiligung der Schweiz am wirtschaftlichen Wiederaufbau und an der medizinischen Versorgung der Ukraine. Zur Finanzierung könnte eine Kriegsgewinnsteuer eingeführt werden. Wichtig ist zudem eine dynamisch-umsichtige Rolle der Schweiz als Mitglied des UNO-Sicherheitsrates in diesem und nächsten Jahr. Dringend ist die umgehende Ratifikation des Atomwaffenverbotsvertrages, der auf der Kippe steht. Gegen eine desparate Variante der «Zeitenwende», die sich Putins Gewaltprinzip willfährig anverwandelt und auf allgemeine Aufrüstung setzt, sollte sich eine neutrale Schweiz weiterhin «verstärkt für Abrüstung und Rüstungsbeschränkung» stark machen, wie das der Völker- und Staatsrechtler Daniel Thürer 2015 anmahnte. Si vis pacem, para pacem ist eine Maxime mit Zukunft. Aber …