Unter den fünfzig Kapiteln in Anne Rabes Roman „Die Möglichkeit von Glück“ gibt es nur fünf, die Überschriften tragen. Vier davon gelten dem Leben des Großvaters der Icherzählerin Stine oder, genauer gesagt: seinem Vorleben, bevor die Enkelin 1986 geboren wurde. Es ist die Geschichte des 1923 in eine arme Berliner Familie hineingeborenen Paul Bahrlow, der in der NS-Zeit aufwächst, an der Ostfront (zu seinem Glück) verwundet wird und sich für die neu gegründete DDR begeistert – „Wir kamen aus dem Krieg, Stinchen, wir wollten nur eins – nie wieder Faschismus!“ Zu seiner Enttäuschung ist die Begeisterung staatlicherseits nicht in dem Ausmaß erwidert worden, wie er es sich erhoffte. Die Karriere stockt, es verschlägt Paul als Dozent in die Provinz an die Ostseeküste. In zweiter Ehe findet er immerhin spätes Familienglück; nach einer bereits kurz nach der Geburt gestorbenen Tochter kommen noch zwei Mädchen auf die Welt, eines davon, Monika, ist Stines Mutter. 1989 kollabiert der Staat, dem sich Paul in mehr als nur einer Weise verschrieben hatte, und damit beginnt das eigentliche Drama, das nun ganz aus Stines Sicht erzählt werden kann.
Um es zu verstehen, begibt sie sich lange nach dem Tod von Großvater Paul auf die Suche nach den Spuren seiner Lebenswidersprüche. Was sie gefunden hat, wird in jenen vier Kapiteln zusammengetragen.
Sie sind jeweils überschrieben mit „Die Geschichte von Paul Bahrlow“, und so könnte auch der ganze Roman heißen. Denn dessen Thema ist etwas, was Ines Geipel als transgenerationales Trauma beschrieben hat: die Weitergabe der Beschädigungen eines Lebens im Totalitarismus auch noch an jene Nachkommen, die davon unmittelbar gar nicht mehr geprägt werden konnten. So gesehen, ist Paul Bahrlow der Ausgangspunkt all der Gewalterfahrungen von Stine, die indes nicht von diesem viel geliebten Großvater ausgehen, der ihr als Kind Lehrmeister und Gesprächspartner war – die Parallelen zum Großvater aus Judith Schalanskys Debütroman „Blau steht dir nicht“, der auch die Ostsee als einen zentralen Handlungsort hat, sind verblüffend. Nein, die Nemesis ist die eigene Mutter, Lehrerin und überzeugte Kommunistin, die ihren beiden Kindern, Stine und dem etwas jüngeren Tim, eine Diktatorin ist, deren Herrschaftsrepertoire von Psychoterror über Körperstrafen bis zum Sadismus reicht. Eine Szene, in der sie ihre beiden Kinder zwingt, in brühend heißes Badewasser zu steigen, ist von unvergesslicher Brutalität.
Die steht pars pro toto für das Leben in Ostdeutschland, dessen Bevölkerung traumatisiert ist: „Es war alles Gewalt, denkst du“, legt sich Stine gegenüber sich selbst Rechenschaft ab (die Selbstgespräche sind jeweils kursiviert), „alles voller Gewalt.“ Und sie rettet sich in Sarkasmus beim Gespräch darüber mit Gleichaltrigen: „Die Geschichten, die du dir mit Pit und Vicky, Krissi und Ada erzählst, handeln alle vom Alkoholmissbrauch, von Gewalt und Verrohung, und ihr lacht darüber, als gäb’s da wirklich etwas zu lachen. Weil ihr gar nicht wisst, was ihr sonst tun sollt.“
Wieso ist „Die Möglichkeit von Glück“ dann doch ein guter Titel für diesen Roman einer Unglücksfamilie und eines Unglückslands? Weil Stine aufbegehrt, nach der Geburt des ersten eigenen Kinds – da ist Opa Paul bereits gestorben – den Kontakt zur Familie mit Ausnahme des Bruders erst einfriert und dann abbricht, als sie bemerkt, dass die Mutter versucht, hinter dem Rücken ihrer Tochter die Enkelin an sich zu binden. Aus der eigenen Biographie weiß Stine ja um den Reiz, den Großeltern auf Kinder ausüben – obgleich ihr anderer Großvater ein Haustyrann gewesen ist, hegte sie eine tiefe Zuneigung zu dessen Frau, der Mutter von Stines Vater Sven. Der wiederum hatte den Bruch mit seinem Vater dadurch dokumentiert, dass er den Familiennamen seiner Frau annahm. Aber wie Stine im Rückblick feststellt, war dieser Sven Bahrlow gar nicht der rettende Faktor im Elternhaus, als der er in der Badewannenszene auftritt. Da er seine beiden Kinder dem Schreckensregiment der Mutter ausliefert, ist er so schuldig wie sie.
Gegen diese Schreckensfortsetzung setzt Stine den Bruch, während ihr Bruder den Kontakt zur Familie aufrechterhält, aber nach Bayern umzieht und so zumindest geographisch die Distanz zu den Eltern herstellt, die Stine auf allen Ebenen anstrebt. Sie ist nach Berlin gezogen, doch das Finale des Buchs findet sie wieder an der Ostsee, mit ihrer eigenen Familie im Urlaub, und dies ist das fünfte Kapitel mit einer Überschrift, die Zeit und Ort des Augenblicks benennt: Juli 2022, Gräsö in Schweden. Es ist der zweite Ausgangspunkt all dessen, was wir zuvor gelesen haben, nun vom Ende her statt vom Beginn mit Paul Bahrlow – Stine hat sich von ihrer Herkunft emanzipiert. Ihre Kinder sind nach antiautoritären Prinzipien aufgewachsen, ohne die schwere Erbschaft der Vergangenheit. Das ist die Möglichkeit von Glück.
Wie viel von der Konstellation und dem konkreten Geschehen in diesem Roman mit Anne Rabe selbst zu tun hat, soll hier gar interessieren. Heute muss niemand mehr ein Erfahrungsbuch als Roman ausgeben, um ein Publikum zu finden. Wer einen Roman schreibt, der steht unter Formzwang, und Anne Rabe hat ein formal berückendes Buch geschrieben, das in seiner Zersplitterungsästhetik dem gebrochenen Spiegelbild entspricht, das Stine selbst von sich hat. Deren Autorin ist zwar im selben Jahr und am selben Ort geboren wie die Icherzählerin (in der namenlosen „kleinen Stadt“ des Buchs ist Wismar klar zu erkennen), aber ihr eigener Werdegang als eine Publizistin, die sich vor diesem Romandebüt schon vielfach als Kommentatorin des Umgangs mit der DDR-Vergangenheit profiliert hat, spielt hier keine Rolle. Abseits des familiären Gefüges findet nichts statt außer Stines Selbstbefragung.
Und doch ist „Die Möglichkeit von Glück“ ein Buch, das weit über seinen individuellen Gegenstand hinausreicht. Es erklärt, warum Ostdeutschland eine andere Gewaltgeschichte nach der Wiedervereinigung aufweist als Westdeutschland. Nicht quantitativ, aber qualitativ. Das heißt nicht, dass Mölln, Solingen, Winnenden oder Hanau geringer zu gewichten wären als Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Erfurt oder Halle, aber Anne Rabe postuliert andere Ursachen. Die sie anhand von Stines Familiengeschichte so eindrucksvoll verdeutlicht, wie es eine soziologische Studie nicht könnte. Und die auch den derzeit boomenden Büchern, die einer Normalisierung der DDR-Erfahrungen (und damit ihrer Relativierung) das Wort reden wollen, den Boden entziehen. Gegen den pauschalisierenden Blick hilft der aufs individuelle Schicksal. Dass es eines im Roman ist, nimmt ihm nichts an Wahrhaftigkeit. Oder an Erschütterungskraft.
Anne Rabe: „Die Möglichkeit von Glück“. Roman.
Klett-Cotta, Stuttgart 2023.
381 Seiten, geb., 24,- Euro.