Vom 14. Juli bis zum 8. Oktober zeigt die Staatliche Kunsthalle Baden-Baden ein experimentelles Ausstellungsformat: Auditions for An Unwritten Opera stellt erstmals in Deutschland das vielschichtige Schaffen des Künstlers Mutlu Çerkez (1964-2005) einer breiteren Öffentlichkeit neu vor. Ausgehend von einer Einzelpräsentation entfaltet sich eine Konstellation von Installationen und Ausstellungsstücken. Ausgewählte Arbeiten von Çerkez treten in Dialog mit zeitgenössischen Praktiken von Künstlern wie Juliet Carpenter, Jesse Darling und Hanne Lippard sowie historische Positionen, etwa On Kawara, Ruth Wolf-Rehfeldt, Felix Torres und vielen mehr.
Wir leben in einer Zeit, in der sich Trauer auf Interaktionsmomente in den sozialen Medien reduziert hat – und Politiken des Begehrens und Vergnügungstechnologien unsere Aufmerksamkeit auf den Bildschirm und selbstbezogene Stimulationen lenken. Dies kann jedoch nicht die wahre Bedeutung geteilter Freude ersetzen. Indem sie den Ausstellungsraum mit emotionaler Intelligenz, kollektivem Unbewussten und konzeptionellem Denken verbindet, wird die Ausstellung zu einem mentalen Raum zwischen Freude und Trauer. Dazu ruft sie die Werke von Mutlu Çerkez wieder in Erinnerung, um die Art und Weise zu untersuchen, wie das Leben eines Künstlers dem einer Institution gegenübergestellt wird: In der Entwicklung eines Werks als „Work in Progress“ und als Aktualität einer Praxis mit all ihrer Solidarität, Relevanz und Zeitgenossenschaft.
Wie kein anderes Genre reflektiert die Oper das Nebeneinander von Leben und Tod. Eine unwritten opera – die titelgebende ungeschriebene Oper – lädt als Kunstwerk dazu ein, eine radikale Poetik zeitgenössischer Praxis zu entwickeln. Die Ausstellung greift eine künstlerische Position wieder auf, die immer wieder nach einer bestimmten Form gefragt hat: nach der ungeschriebenen Oper als konzeptionelles Werk. In seiner Unwritten Opera widmete Mutlu Çerkez sich zwischen 1992 und 2000 fast ein Jahrzehnt lang konzeptionellen Übungen in Form einer Reihe von Requisiten- und Make-up-Design-Studien und untersuchte verschiedene Plattencovern von Bootleg-Aufnahmen von Led Zeppelin. Çerkez führte die Praxis der Unwritten Opera weiter, indem er ihre Formen und Materialität auf eine Gemälde oder den auch von Jimmy Page verwendeten Marshall-Gitarrenverstärker (Untitled: 14 July 2030, 1999 als „stage furniture/props for an unwritten opera“ gezeigt) ausdehnte, oder auf ihren Inhalt: einen beschrifteten Vorhang oder Auditions for an Unwritten Opera im Jahr 2000, eine Ausstellung, die aus einer Videodokumentation der Ausstellungseröffnung bestand.
Das Hauptwerk „A design for the overture curtain of an Unwritten Opera, Untitled: 15 January 2028“ (1999), das auch im Rahmen der 5. Istanbul Biennale (1997) gezeigt wurde, dient als Schlüsselreferenz für die Dramaturgie und Choreografie der Ausstellung.
Die Ausstellung entwickelte sich entlang von Çerkez‘ Werk. Gezeigt wird es neben Arbeiten einer neuen Generation von queeren, kritischen und radikalen Praktiken, die Fragen zum Probenprozess, der Zustand von work in progress und zum Künstlerleben als eine Biografie des Übergangs stellen. Der Untertitel der Ausstellung schlägt den Begriff „around“ anstelle eines Ausdrucks wie „about“ vor. Dieses „Rund um die Werke von Mutlu Çerkez“ bezieht sich auf ein Umkreisen, Versammeln und Zusammenbleiben. Partituren, Proben, kognitive Übungen, Noten und andere Formen konzeptionellen Denkens treten als Leitmotiv für das Verständnis des Lebens eines Künstlers und der Lebensspanne eines Kunstwerks auf – insbesondere in den Werken von Antonia Baehr, Delia Gonzalez, Julian Dashper und Marco Fusinato. Auch die gemeinsamen Arbeiten von Mutlu Çerkez mit Marco Fusinato und Callum Morton sind in der Ausstellung zu sehen.
Eine neue Filmarbeit von Juliet Carpenter, die auf der Shortlist für den Walters Prize 2024 steht, sowie eine jüngste Arbeit des für den Turner Prize 2023 nominierten Jesse Darling werden im Rahmen dieses Projekts gezeigt. Ein anderer Raum ist einem konzeptionellen Dialog zwischen zwei in Berlin lebenden Künstlerinnen gewidmet: Die mit dem Preis der Nationalgalerie 2023 ausgezeichnete Hanne Lippard sowie Ruth Wolf-Rehfeldt, die 2022 mit dem Hannah-Höch-Preis ausgezeichnet wurde. Zusammen mit diesen Positionen schlägt die Ausstellung vor, Formen der Reinkarnation, der Reproduktion, der Regeneration und des Erinnerns innerhalb der Grenzen des menschlichen Gedächtnisses und der Fluchten des Vergessens neu zu denken.
Ausgewählte aktuelle Werke von Pedro Gómez-Egaña und Serkan Özkaya, die mit ortsspezifischen Parametern und neuen museologischen Fragestellungen an den Ausstellungsraum der Kunsthalle angepasst wurden, schaffen räumliche Verbindungen zur Ausstellungserzählung, indem sie unseren Blick, die menschliche Anatomie und die dynamischen Beziehungen zwischen dem menschlichen Körper und der Institution berücksichtigen. Zwei Werke von Özlem Günyol & Mustafa Kunt werden anlässlich des zehnten Jahrestages der Gezi-Proteste wieder aufgegriffen.
Egemen Demirci, der zwei Jahre lang als „Hauskünstler“ mit der Kunsthalle Baden-Baden zusammengearbeitet hat – eine Position, die geschaffen wurde, um Künstler*innen mit bezahlten Arbeitsstunden in den institutionellen Rahmen einzubetten – nimmt Spectator on White, eine Arbeit von 2012, wieder auf. In dieser Videoarbeit gehen Ausstellungsbesucher*innen durch imaginäre Kunstwerke, die aus ihrer Erinnerung abgerufen werden und für die Betrachter*innen des Videos unsichtbar sind. Die Neuauflage dieses bestehenden Werks in der neoklassizistischen Architektur der Kunsthalle als staatlicher Kunstinstitution, in einem denkmalgeschützten Gebäude und in der Stadt der Festspiele, des Kurhauses und des Friedrichsbads stellt eine starke Verbindung zu Mutlu Çerkez‘ ungeschriebener Oper her, vielleicht sogar als das fehlende Libretto.
Beauftragt von der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, dem Museum of Contemporary Art, Warrane/Sydney, und der Plimsoll Gallery, University of Tasmania, präsentiert Nipaluna/Hobart Léuli Eshrāghi seine neue Zweikanal-Videoarbeit, die sich durch ihre poetischen und performativen Handlungen mit den Gemälden von Mutlu Çerkez zu DNA-Strukturen verbindet.
Auditions for an Unwritten Opera wird ermöglicht durch Leihgaben des Monash University Museum of Art | MUMA, der Felix Gonzalez-Torres Foundation, der Staatsgalerie Stuttgart, des Griffith University Art Museum, der Anna Schwartz Gallery, Melbourne (Australien), PALAS (Australien), der Michael Lett Gallery in Auckland (Neuseeland), der Sultana Gallery in Paris, der Zilberman Gallery und ChertLüdde in Berlin sowie von Hot Wheels Athen.
In ausführlichem fachlichen Austausch mit Charlotte Day, Marco Fusinato, Callum Morton und anderen Kollegen von Mutlu Çerkez, sowie mit Pierre Bal Blanc, Florian Lüdde und Andrew Kachel, werden durch die Präsentation von Werken von On Kawara, Jeff Wall Production, Ruth Wolf-Rehfeldt, Felix Gonzales Torres und anderen weitere kunsthistorische Verbindungslinien zu dem Erbe von Mutlu Çerkez offengelegt.
Die Druckerzeugnisses und andere Ausstellungsmaterialien werden von Matter Of, einem langjährigen Partner der Kunsthalle, als Hommage an das typografische Werk von Mutlu Çerkez gestaltet. Die Recherchen und der Aufbau dieser Ausstellung werden in eine Publikation einfließen, die von Hatje Cantz herausgegeben wird und 2024 in Australien erscheint.
Auditions for An Unwritten Opera. Rund um die Werke von Mutlu Çerkez wurde ermöglicht durch die großzügige Unterstützung des Landes Baden Württemberg.
Wir bedanken uns bei Serkan Özkaya`s Canada Council for the Art für die Unterstützung bei Neuproduktionen und Reisekosten.