Was auch immer wir im Internet tun, wird aufgezeichnet und ausgewertet, um uns zielgerichtet Werbung anzuzeigen. Das ist eine Realität, an die viele Menschen sich inzwischen gewöhnt haben – im Gegenzug sind schließlich viele Internetangebote kostenlos.
Wo genau unsere Daten landen, wenn wir Websites aufrufen oder Apps nutzen, das können die wenigsten nachvollziehen. Auch daran haben wir uns gewöhnt. Wie sowohldie Wege des Herrn sind auch Targeted Advertising unergründlich …
Die Werbeindustrie tut viel dafür, damit das so bleibt: Die Netzwerke der Datensammler sind selbst für Branchenkenner:innen kaum zu überschauen. Jetzt präsentieren netzpolitik.org und das US-Medium The Markup einen einmaligen Einblick in das Geschäft mit unseren Daten. Wir haben die Angebotsliste von Xandr ausgewertet, einem der größten Datenmarktplätze der Werbewelt. Sie enthält mehr als 650.000 unterschiedliche Kategorien, in die die Industrie Menschen einsortiert, um sie mit gezielter Werbung erreichen zu können.
Umfang und Detailtiefe dieser Datensammlung sind erschreckend. Es gibt kaum eine menschliche Eigenschaft, die Werbetreibende nicht für Werbung ausnutzen wollen. Sie wollen Menschen aus Dänemark erreichen, die einen Toyota gekauft haben? Kein Problem. Sie wollen Menschen erreichen, die gerade finanzielle Probleme haben? Oder keine Krankenversicherung? Kein Problem. Minderjährige? Schwangere? Homosexuelle? Depressive? Politiker:innen? Alles kein Problem.
„Diese Liste ist das gewaltigste Dokument über den globalen Datenhandel
Das sagt der Wiener Tracking-Forscher Wolfie Christl. Er hat die Datei aufgestöbert und mit netzpolitik.org sowie The Markup geteilt. Das US-Medium berichtet heute unter anderem über die zahlreichen sensiblen Daten und macht sie mit einem interaktiven Tool einfach durchsuchbar. Xandr hat auf mehrere Presseanfragen nicht reagiert. Die Liste ist auf Mai 2021 datiert, sie stand bis zu unserer Anfrage auf einer Dokumentationsseite von Xandr offen im Netz. Heute ist sie nicht mehr erreichbar, aber beim Internet Archive gibt es eine archivierte Version der Seite und der Datei [23 MB]. Laut von uns befragten Jurist:innen zeige die Liste, dass das derzeitige Werbegeschäft strukturell unvereinbar mit Datenschutzanforderungen ist.
Riesige Container für Gruppen mit bestimmten Eigenschaften
Zielgerichtete Werbung ist das dominante Geschäftsmodell des Internetzeitalters. Das Versprechen: Mehr verkaufen, indem man genau die Menschen mit Werbung erreicht, die davon besonders angesprochen werden. Es ist ein Versprechen, das zieht. Die Umsätze der Branche klettern seit Jahren in immer größere Höhen, 2022 betrugen sie weltweit mehr als 550 Milliarden Dollar. Tendenz: rasant steigend. Denn je mehr man über einen Menschen weiß, desto besser man kann ihn beeinflussen, lautet die Annahme. Die Werbeindustrie arbeitet deshalb seit langem hart daran, immer mehr über uns erfahren.
Wann immer wir Websites besuchen, Apps nutzen, an Umfragen teilnehmen oder etwas mit Kreditkarte bezahlen, hinterlassen wir Daten. Hunderte Firmen weltweit sammeln diese Informationen und formen daraus sogenannte „Audience Segments“. Man muss sich diese Segmente als riesige Container für Gruppen von Menschen vorstellen. Jedes Segment enthält eine Liste mit digitalen Identifikationscodes, denen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Das sind zum Beispiel demografische Merkmale, Interessen, Konsumverhalten oder Charaktereigenschaften. Auch Informationen darüber, welche Apps und Websites wir nutzen, welche Orte wir besuchen, woran wir vermeintlich glauben, welche Krankheiten wir haben, und unsere sexuelle Orientierung landen in Segmenten.
Diese Segmente werden in der Industrie gehandelt wie ganz normale Waren.
Einer der wichtigsten Umschlagplätze dafür ist der Xandr Marketplace. Das US-Unternehmen gilt als eine der ersten Adressen für alle, die sich bei der Online-Werbung nicht vollständig den geschlossenen Systemen von Google, Meta und Amazon ausliefern wollen. 2022 hat Microsoft Xandr vom US-Telekommunikationsanbieter AT&T übernommen, Branchengerüchten zufolge für etwa eine Milliarde Dollar.
Für den ehemaligen Software-Konzern, der vielen noch primär als Hersteller von Produkten wie Windows und Office ein Begriff ist, war die Übernahme ein weiterer Schritt bei der Transformation zu einem Daten- und Werbekonzern. Während das Unternehmen den Konkurrenten Google lange für seinen Datenhunger kritisierte, erhielt Microsoft kürzlich selbst vom Forbes-Magazin den informellen Titel „Next Ad-Tech Giant“. Neben dem Ausbau des eigenen Werbenetzwerkes kaufte Microsoft unter der Führung von CEO Satya Nadella Startups wie den Werbedienstleister PromoteIQ auf. Auch die Übernahme des Sozialen Netzwerks LinkedIn und des Spieleherstellers Activision Blizzard passt in diese Strategie. Beide Unternehmen liefern nicht nur umfassende Daten von Nutzer:innen, sondern bringen auch gefragte Werbeplätze mit sich, die Microsoft vermarkten kann.
Eine Excel-Liste mit 650.000 Zeilen
Mit Xandr integriert Microsoft nun einen zentralen Player der Branche nach und nach in die eigenen Werbedienste. Xandr richtet sich mit seinen Plattformen sowohl an Werbetreibende, die Zielgruppen zuschneiden wollen, als auch an Unternehmen, die selbst Werbeplätze zur Verfügung stellen und dafür Käufer suchen – also zum Beispiel Nachrichtenwebsites, Spiele-Apps oder Smart-TV-Angebote. Außerdem bietet Xandr eine Infrastruktur für den Handel von Daten zwischen Anbietern von Werbeplätzen, Werbetreibenden und anderen Datenhändlern sowie Dienste, mit denen sich die IDs von Menschen synchronisieren lassen, um sie über mehrere Geräte hinweg tracken zu können.
Kurzum: Microsofts Neuerwerbung ist eine wichtige „Infrastruktur für das globale Werbe-Ökosystem“, wie das Branchenmagazin Adzine schreibt. Auf dem Marktplatz können andere Datenhändler ihre Daten zur Nutzung anbieten. Dass Xandr in der Vergangenheit offenbar keine Probleme hatte, hier auch fragwürdige Daten handeln zu lassen, davon zeugt die Angebotsliste. Die Datei enthält hunderte Segmente zu sensiblen Themen wie Gesundheit, sexueller Orientierung, Politik, Religion, Ethnizität und offenbar auch Segmente mit Minderjährigen.
Welche Kunden die bei Xandr angebotenen Daten nutzen, ist nicht bekannt. Wir haben Xandr und Microsoft eine umfangreiche Presseanfrage geschickt. Trotz mehrfachen Nachhakens im Verlauf von fast zwei Wochen haben weder wir noch The Markup Antworten erhalten. Laut Adzine arbeiten in Deutschland beispielsweise die Medienunternehmen Axel Springer und Burda mit Xandr. Die Zahl der Kunden ist vermutlich groß, 650.000 Segmente dürften für viele als Pluspunkt gelten. In der digitalen Werbebranche ist schließlich allen bekannt, dass das derzeitige System auf granularen Datensammlungen basiert.
An dieser Stelle ist wichtig zu betonen, dass Xandr und ähnliche Plattformen ihren Werbekunden die Daten nicht direkt überlassen. Die Werbetreibenden zahlen nicht für die Rohdaten mit den pseudonymen IDs einzelner Personen. Sondern dafür, über spezielle Plattformen zielgerichtet Menschen in bestimmten Zielgruppen-Segmenten zu erreichen. Viel davon findet automatisiert statt, die Branche spricht deshalb von Programmatic Advertising. Damit dieses System funktioniert, müssen die personenbezogenen Daten von Internetnutzer:innen durch die Hände zahlreicher Unternehmen gehen. Immer wieder kommt zudem ans Licht, dass einige Firmen doch auch Rohdaten verkaufen, zum Beispiel an das FBI.
So sieht die Angebotsliste des Datenmarktplatzes aus
Die Angebotsliste des Xandr Marketplace enthält die Metadaten zu insgesamt 651.463 Segmenten.
Für jedes Segment gibt es in der Excel-Datei eine eigene Zeile, die den Namen sowie eine ID des Anbieters enthält, den Namen des Segments und eine Segment-ID. Das sieht beispielsweise so aus:
Adsquare (Data Provider) | 2711 | 25423859 | Adsquare Data Alliance > DE > Place Visits > By Category > Eat and Drink > Restaurant > Fast Food (adsquare)
Das bedeutet, der Datenhändler Adsquare bot Daten zu Personen im Deutschland an, die Fast-Food-Restaurants besucht haben. Die Segmentnamen geben häufig Hinweise auf die Unterkategorien. Hier ist es „Place Visit“ für besuchte Orte, andere Beispiele sind „Purchase“ für getätigte Einkäufe, „Top Mobile App“ für die meistgenutzte App oder „Travel intent“ für Orte, an die jemand mutmaßlich reisen wird.
Viele Unternehmen der Branche lehnen den Begriff „Datenhändler“ für ihr Geschäft ab. Sie nennen sich lieber Technologieplattformen, Infrastrukturdienstleister oder „Location Intelligence Platform“. Schließlich geben sie die Rohdaten meist nicht direkt an die Endkunden weiter. Aber die Firmen beziehen Daten aus unterschiedlichen Quellen, organisieren und verpacken sie neu, helfen, Personen über unterschiedliche Geräte hinweg zu tracken und zu erreichen, und bieten sie anderen Firmen gegen Geld oder andere ökonomische Vorteile zur Nutzung an. Das ist Datenhandel.
Nota bene behauptet der größte Anbieter Kunden gegenüber, Daten von mehr als fünf Milliarden Personen zu haben.