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Lebendige Moore, neue Hecken, frei fließende Flüsse, mehr Stadtgrün – Konservative stellen sich qu

Kiebitze und Brachvögel sind am Verschwinden, Feuchtgebiete trocknen aus. Vor den Küsten erstickt das Leben am Dünger, den die Flüsse herantragen, und hoch in den Bergen leidet die Artenvielfalt unter dem Klimawandel. Trotz jahrzehntelanger Bemühungen, die Natur Europas zu schützen, schlagen Wissenschaftler Alarm: Die bisherigen Maßnahmen reichen dazu vorne und hinten nicht aus. Der Europäischen Umweltagentur zufolge sind 81 Prozent der geschützten Lebensräume sowie die Bestände von 39 Prozent der geschützten Vögel und von 63 Prozent anderer geschützten Arten in einem schlechten oder sehr schlechten Zustand.
„Handeln zur Erhaltung und Wiederherstellung der natürlichen Lebensräume ist dringend erforderlich“, schreiben fünfzehn führende Naturwissenschaftler in einem aktuellen Appell. Ihre Forderung: Das EU-Parlament soll unbedingt das große Vorhaben, großflächig ökologische Schäden aus der Vergangenheit wiedergutzumachen, im Juli verabschieden, damit es möglichst bald Wirkung entfalten kann.
Doch es ist fraglich, ob das passieren wird. Die rechtskonservative Fraktion im Europaparlament (EVP) hat Ende Mai demonstrativ ihre Mitwirkung an dem sogenannten „Nature Restoration Law” aufgekündigt. Sie wirft der EU-Kommission vor, die Interessen von Landwirten und Fischern zu übergehen. Die Parteien zur Rechten der EVP sind ohnehin strikt gegen neue Umweltregeln. Eine Mehrheit für das Gesetz ist damit fraglich. Alles läuft nun auf einen umweltpolitischen Showdown vor der Sommerpause zu.
Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick:
Was ist das „Nature Restoration Law”?
Das „Nature Restoration Law” gehört zum umfassenden „Green Deal“, mit dem Europa sich ökologisch modernisieren und umfassenden Klima- und Naturschutz erreichen will. Das Gesetz soll bei den tieferen Ursachen des Artenschwunds ansetzen. Statt wie bisher nur artenreiche Gebiete mehr oder weniger effektiv unter Schutz zu stellen, soll es zum Ziel werden, Ökosysteme insgesamt wiederherzustellen – sowohl innerhalb formaler Schutzgebiete als auch in der Fläche. Dem aktuellsten Vorschlag zufolge sollen dann 30 Prozent sogenannter „degradierter Gebiete“ aktiv renaturiert werden. Degradation kann verschiedenste Ursachen haben: Während der Flurbereinigung wurde zum Beispiel in Deutschland etwa die Hälfte aller Hecken entfernt. Überdüngung kann die Pflanzenvielfalt stark mindern. Wehre und Dämme können in Flüssen unüberwindbare Barrieren schaffen. Entwässerungsgräben können Feuchtgebieten kontinuierlich austrocknen.
Was heißt Renaturierung konkret?



Es geht zum Beispiel darum, Moore wiederzuvernässen, in Wäldern den natürlichen Zerfall von Bäumen zu ermöglichen oder in Flüssen Wehre und Dämme zu beseitigen, die Fische an der Fortpflanzung hindern. Renaturierung heißt also Naturschutz mit dem Bagger. Die Mitgliedsländer bekommen für die Umsetzung viel Spielraum. Allerdings sollen sie sich konkrete Ziele setzen und regelmäßig Bericht erstatten, ob diese erreicht werden. Zu den Zielen mit konkreten Zahlen gehört es, dass künftig in der EU auf 25.000 Kilometern Flüsse wieder frei fließen und mit umliegenden Auen und Altwasserarmen verbunden sein sollen. Ab 2030 sollen die Insektenpopulationen wieder spürbar wachsen. Ein wichtiges Element des Gesetzentwurfs ist zudem das sogenannte „Verschlechterungsverbot“, dem zufolge Lebensräume nach einer Renaturierung intakt gehalten werden müssen. Auch für Städte sind Pflichten vorgesehen, sie sollen ihre Grünflächen nicht reduzieren dürfen und ab 2030 deutlich ausbauen.

Prescht Europa damit im Naturschutz im internationalen Vergleich vor?
Ja und Nein. Einerseits nimmt die EU nimmt mit dem Gesetz nur ihre internationalen Pflichten ernst. Die Vereinten Nationen haben die Regeneration der Natur zu einem der wichtigsten globalen Ziele des Jahrzehnts ernannt. Ende 2022 beschlossen 196 Staaten auf dem Biodiversitätsgipfel von Montreal, dass bis 2020 rund 30 Prozent ökologisch geschädigter Lebensräume wiederhergestellt sein sollen. Dazu haben sich auch die 27 Mitgliedstaaten der EU verpflichtet. Andererseits wäre es das erstmal, dass ein gri0er Staatenverbund nach dem Gipfel von Montreal zeigen würden, dass er die eingegangenen Pflichten ernst nimmt. Das „Nature Restoration Law“ entspricht damit Maßnahmen zur CO₂-Reduktion, mit denen der Klimavertrag von Paris umgesetzt wird.
Das „Nature Restoration Law“ greift in bestehende Routinen und Geschäftsmodelle von Landwirten, Fischern und beispielsweise Flussnutzern ein. Es bezieht die gesamte Landschaft in den Naturschutz ein, nicht nur ausgewählte Reservate. Zwar ist vorgesehen, alle Betroffenen umfassend an den Maßnahmen zu beteiligen. Es soll ihnen auch möglich werden, an Naturschutzmaßnahmen zu verdienen. Dennoch empfinden zum Beispiel viele Landwirte die geplanten Maßnahmen als zusätzliche Bürde und fürchten, dass dadurch ihre Ernten und Erträge zurückgehen werden. Der Präsident des Deutschen Bauernverbandes, Joachim Rukwied, sieht das Renaturierungsgesetz und ein ebenfalls geplantes Regelwerk, den Einsatz von Pestiziden zu reduzieren, als Gefahr für die Ernährungssicherheit. Er warnt, die Eigenversorgung Europas drohe erheblich zurückzugehen, der Importbedarf deutlich anzusteigen.
Wie verhält sich die Bundesregierung?

Nach Aussage von Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) ist die deutsche Position zum „Nature Restoration Law“ klar positiv. Allerdings hatte ihr Parteikollege Robert Habeck kurz erwogen, in die Kritik einzustimmen, weil er um Ausbaumöglichkeiten für Erneuerbare Energien fürchtete. Inzwischen haben aber auch die Wirtschaftsverbände der Windindustrie das „Nature Restoration Law“ klar befürwortet. Lemke will die Ziele des EU-Gesetzes durch ein eigenes deutsches „Naturflächengesetz“ erreichen. FDP und SPD haben sich bei dem Thema bisher eher zurückgehalten.
Welche Rolle spielt die konservative Europäische Volkspartei?
Im Europaparlament hat die Europäische Volkspartei, zu der auch die deutschen Abgeordneten der CDU/CSU gehören, zwar nur 182 von 751 Stimmen. Ohne sie ist eine Mehrheit aber in Gefahr, wenn ausreichend viele der 108 Liberalen das Gesetz auch ablehnen. Die EVP hat sich seit Mitte 2022 an den Verhandlungen zum „Nature Restoration Law“ beteiligt und stets massive Kritik geübt. Am 31. Mai hat die EVP dann eine aufsehenerregende Kehrtwende vollzogen. Die deutsche Unterhändlerin Christine Schneider zog demonstrativ aus dem Umweltausschuss des Parlaments aus. Sie gab dann bekannt, die EVP lehne das Gesetz nun rundweg ab, die EU-Kommission müsse einen gänzlich neuen Vorschlag vorlegen. Schneider und die stellvertretende EVP-Fraktionsvorsitzende Esther de Lange aus den Niederlanden begründen ihren Kurs damit, dass die Vorgaben für Land- und Wassernutzern zu streng seien. Sie kritisieren, dass es keine ausreichende Analyse der Folgen gebe und die reine Renaturierung eine rückwärtsgewandte Strategie sei. „Ja, wir brauchen Bienen und Insekten, aber wir brauchen auch unsere Landwirte“, sagt de Lange. Die EVP sei grundsätzlich dagegen, landwirtschaftliche Nutzflächen aus der Produktion zu nehmen. Nötig sei auch, beim Naturschutz auch neue, gentechnisch Züchtungsmethoden einzubeziehen.

Sind Ernährungssicherheit, Energiewende und Wohnungsbau wirklich durch Renaturierung bedroht?
Die EVP setzt das Argument ein, dass die geplanten Maßnahmen die Ernten verringern und damit die Ernährungssicherheit reduzieren würden. Dies sei vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine nicht zu verantworten. Die EU-Kommission geht dagegen davon aus, dass Effekte minimal wären. Sie verweist darauf, dass funktionierende Ökosysteme die Grundlage jeder Landwirtschaft sind und der Schwund von Biodiversität die viel größere Gefahr für die Ernährung darstelle, wenn zum Beispiel Bestäuberinsekten fehlen. Wissenschaftler geben der EU-Kommission recht.
Bereits im März 2022 hatten mehr als 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davor gewarnt, den Ukrainekrieg als Argument gegen die Nachhaltigkeitsstrategien der EU einzusetzen. Sie richteten einen entsprechenden offenen Brief an Regierungen und die EU-Kommission, nachdem Unsicherheiten in der Versorgung der Welt mit Weizen aus der Ukraine die allgemeine Nervosität gesteigert hatten und Bauernverbände gefordert hatten, Naturschutzpläne im Dienst der heimischen Produktion zurückzufahren.
Umweltziele aufzugeben, würde „uns nicht vor der gegenwärtigen Krise schützen, sondern sie vielmehr verschlimmern und die Krise dauerhaft machen”, heißt es in dem Brief mit Bezug auf Erderwärmung und der Verarmung der Natur. Zu den Erstunterzeichnern gehören mit Josef Settele und Hans-Otto Pörtner zwei international renommierte Umweltforscher, die in den weltweit wichtigsten Wissenschaftsgremien für Klima, dem IPCC, und Biodiversität, dem IPBES, tätig sind. In der aktuellen Auseinandersetzung hat sich zudem die Weltnaturschutzunion IUCN, ein Zusammenschluss von Staaten und Umweltorganisationen, sowie eine Gruppe von mehr als 150 Wissenschaftlern aus aller Welt mit dem Appell zu Wort gemeldet, dass die EU das Naturschutzgesetz verabschieden solle.

Zur Behauptung der EVP, das Gesetz schade der Energiewende, hat der Dachverband der europäischen Windindustrie am 6. Juni Stellung bezogen: „Dies ist grundlegend falsch. Die Wiederherstellung der Natur und der Ausbau der Windenergie gehen Hand in Hand. Die angeblichen Risiken für den Wohnungsbau in Städten halten einer Überprüfung nicht stand. Vielmehr gilt ausreichend schattenspendendes Grün in Städten als Voraussetzung für urbanes Leben im 21. Jahrhundert.
Steckt hinter dem Kurs der EVP noch mehr?
Brüsseler Beobachter sehen in dem Kurs der Konservativen auch zwei machtpolitische Ziele: Zum einen gehe es darum, bei Regionalwahlen um die wichtigen Stimmen von Landwirten zu werben – was in Spanien Ende Mai bereits gelungen ist. In Bayern, dem Heimatland des EVP-Vorsitzenden Manfred Weber von der CSU, finden am 8. Oktober Landtagswahlen statt. Die CSU hatte früher mit Blick auf eine mögliche Koalition mit den Grünen stark ökologische Töne angestimmt und zum Beispiel die Ziele eines Volksbegehrens für Artenvielfalt weitgehend übernommen und in Gesetzesform gegossen. Doch inzwischen ist die CSU entschieden auf Anti-Umwelt-Kurs gegangen und hofft auf Stimmen von Landwirten und vom rechten politischen Rand. Eine zweite machtpolitische Seite des aktuellen Konflikts besteht darin, dass Weber sich von seiner Parteifreundin Ursula von der Leyen abgrenzen will. Diese hatte den „Green Deal“ mit ihrem Vizepräsidenten Frans Timmermans konzipiert und steht eher für eine ökologisch moderne Linie der Konservativen. Dem setzt Weber nun einen eher rechtspopulistischen Kurs entgegen. Die EVP schreckt dabei auch nicht vor unhaltbaren Behauptungen nicht zurück, etwa dass jahrhundertealte Dörfer zerstört werden sollen, um Feuchtgebiete zu renaturieren. Ariel Brunner von der Umweltorganisation BirdLife International kritisiert: „Die konservativen Parteien fahren eine Kampagne, die auf Desinformation und Lügen basiert.“ Ähnlich äußert die Grünen-Abgeordnete Jutta Paulus: „Die EVP ignoriert wissenschaftliche Erkenntnisse und macht Wahlkampf auf Kosten der Natur – inmitten des 6. Massenaussterbens auf diesem Planeten“, kritisiert sie.
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Gibt es bereits Zugeständnisse an die EVP?
Die EU-Kommission lehnt es ab, einen grundlegend neuen Vorschlag zu machen.
Sie argumentiert, dass ein neuer Vorschlag sogar noch strenger ausfallen müsste als der von Juni 2022, weil seither neue Pflichten aus dem UN-Montreal-Abkommen für Biodiversität hinzugekommen seien. Dennoch wurden in den vergangenen Tagen mehrere hochgesteckte Ziele verwässert, um die EVP doch noch umzustimmen. Anfangs hieß es zum Beispiel, dass die ökologischen Reparaturmaßnahmen auf mindestens 20 Prozent der Gesamtfläche der EU stattfinden sollen. Jetzt ist nur noch davon die Rede, dass dies bis 2030 auf 30 Prozent der geschädigten Flächen passieren soll, bis 2050 dann auf allen geschädigten Flächen. Zudem wurden Vorgaben zur Befreiung der Flüsse, zur Begrünung von Städten und zur Wiedervernässung landwirtschaftlich genutzter Moorböden abgeschwächt. Gelöscht wurde offenbar auch, den ökologischen Zustand vor 70 Jahren als Referenzpunkt zu nutzen.
Zeigt sich die EVP kompromissbereit?
Bisher nicht. Am 7. Juni bekräftigte die konservative Fraktion im Europaparlament ihre Ablehnung – trotz substantieller Zugeständnisse.
Und wie geht es weiter?
Die Zukunft des Gesetzes entscheidet sich in diesen Wochen. Der Umweltausschuss des Europaparlaments, den die rechtskonservative Allianz verlassen hatte, stimmt Mitte Juni über den Gesetzesentwurf ab. Kurz darauf kommen die Umweltministerinnen und -minister der EU-Staaten in Luxemburg zur entscheidenden Abstimmung zusammen. Im Juli schließlich steht die Abstimmung im Plenum des Parlaments an. Bis zum Votum können die Vorlagen noch verändert werden, um doch noch einen Kompromiss zu erreichen.
Was passiert, wenn das „Nature Restoration Law” im Juli scheitert?
Formal überweist das EU-Parlament den Gesetzentwurf dann an die Kommission zurück. Diese muss dann entscheiden, ob sie einen neuen Anlauf unternehmen will. Doch dafür ist die Zeit begrenzt. Denn die Amtszeit der jetzigen Kommission unter Ursula von der Leyen endet bereit im Juni 2024. Und wenn sich eine neue Kommission gebildet hat, haben Ungarn und Polen den Vorsitz des Rates. Beide Länder stehen neuen umweltpolitischen Vorhaben meist kritisch oder ablehnend gegenüber. Scheitert das „Nature Restoration Law“ also Mitte Juli, ist Ursula von der Leyen mit einem zentralen Element ihres Green Deal gescheitert, der Aufbruch im Naturschutz in Europa wäre abgeblasen. Damit hätten Konservative und Rechtspopulisten ihr erklärtes Ziel erreicht, neue Umweltauflagen vorerst zu stoppen. Schaden würde neben der Artenvielfalt auch der Klimaschutz, denn vor allem die Wiedervernässung von Mooren dafür spielt eine wichtige Rolle.