Sam Ginn gehört zu den erfolgreichsten Start-up-Gründern im Silicon Valley. Die zündende Idee gewann er durch die Lektüre Martin Heideggers, den er durch Seminare Hans Ulrich Gumbrechts kennenlernte.
?: Herr Ginn, Herr Gumbrecht, wie ist zu verstehen, dass ein Informatiker und ein Philosoph sich überhaupt kennenlernen und einen solch intensiven Gedankenaustausch pflegen?
Hans Ulrich Gumbrecht: An amerikanischen Universitäten studieren Sie anfangs sehr breit gefächert, Sie bekommen Einblicke in ganz unterschiedliche Bereiche und Themen. Erst im dritten oder vierten Jahr spezialisieren Sie sich. Ich war zufällig Sam Ginns Tutor im Grundstudium, der Gruppe gehörten sieben weitere Studierende an. Bereits unser erstes Treffen war bemerkenswert, denn hier wurde mir klar: Sam ist jemand, der sich für Intensität interessiert.
Woran haben Sie das festgemacht?
Gumbrecht: Als ich der Gruppe ankündigte, sie zum Essen einladen zu wollen, fragte Sam: „In was für eine Art von Restaurant denn?“ Und ich antwortete: „In eins auf der California Avenue.“ Dort gibt es viele sehr gute Restaurants. Sam aber ließ nicht locker: „Ich interessiere mich wirklich sehr für Essen. Warum kann eine so wohlhabende Uni wie Stanford, mit einem Stiftungsvermögen von 30 Milliarden Dollar, uns nicht in ein Drei-Sterne-Restaurant einladen?“ Da merkte ich, das Essen faszinierte ihn als Gegenstand der ästhetischen Erfahrung, und das war ungewöhnlich für einen angehenden Informatiker.
Sam Ginn: Sepp Gumbrecht wurde mein Lehrmeister in vielen Dingen. Immer lag der Fokus auf der Intensität des Erlebens oder – in seinen eigenen Worten – darauf, eine Präsenz herzustellen. Auch im Denken. Es geht darum, jeden Moment auszukosten, so viel daraus zu lernen wie möglich, das ist etwas ganz anderes als bloße Gelehrsamkeit. Du brauchst keine Fakten zu lernen, sondern du sollst lernen, die Dinge wertzuschätzen und zu erfahren – seien es Getränke oder Speisen, sei es die Literatur, die Philosophie oder das Programmieren. Und in unserem ersten Gespräch ging es mir natürlich überhaupt nicht darum, Stanford für ein möglichst teures Essen bezahlen zu lassen; ich wollte, dass Stanford möglichst intensive Erlebnisse erzeugte.
Der wichtigste Philosoph für Sie ist Martin Heidegger, was überraschend ist. Was ist für Sie an Heidegger interessant, der doch als technologiefeindlicher Denker gilt? Wie kann ein solcher Philosoph Sie zu einem besseren Programmierer machen?
Ginn: Von Heidegger habe ich gelernt, dass die Art, wie Sprache in der KI gedacht wird, transformiert werden muss. Meine Spezialität ist das sogenannte Natural Language Processing, kurz NLP. Das ist der Zweig der künstlichen Intelligenz, der sich damit befasst, wie Dinge mittels Sprache verstanden, hervorgebracht und kommuniziert werden. Die Grundannahme dieses Feldes war, dass sich jedes Wort in jeder Sprache – Englisch, Deutsch, Arabisch – durch einen speziellen Zahlenvektor darstellen lässt. Was die KI also als Erstes tut, um zum Beispiel einen Absatz zu lesen, den Sie geschrieben haben, und zu erkennen, ob er positiv oder negativ gemeint ist: Sie wandelt jedes einzelne Wort in einen Zahlenvektor um und führt dann Additionen, Multiplikationen und Subtraktionen durch. Auf diese Weise sucht sie nach Bedeutung und versucht zu verstehen, ob es sich um eine positive oder negative Aussage handelt.
Wie hat Heidegger Ihnen hier weitergeholfen?
Ginn: Heidegger spricht auf ganz andere Weise von Bedeutung. Er spricht davon, wie es ist, etwas zu verstehen. Wörter und Dinge haben für Heidegger eine potenzielle Vielfalt von Bedeutungen: Erst wenn sie mit einem bestimmten Zweck, einer Absicht, einem Tun verbunden werden, nehmen sie einen spezifischen Sinn an. Das ist sein Konzept des „Zuhanden-Seins“, und es steht, wie ich meine, im Widerspruch zur Grundlage der NLP-Algorithmen: nämlich dass jedes einzelne Wort eine spezielle numerische Repräsentation haben kann. Wörter wie „Hammer“ oder „Türklinke“ werden also immer durch genau dieselben Zahlen vertreten, unabhängig vom Zusammenhang, unabhängig vom sinnlichen Gebrauch etwa einer Türklinke. Doch Heidegger wendet sich gegen solch mechanistisches, unsinnliches Verstehen und so habe ich versucht, andere Algorithmen zu entwickeln, bei denen die Zahlenvektoren zur Repräsentation von Wörtern nicht statisch sind, sondern sich wandeln. Tatsächlich hat es seit 2017 eine Art Neubegründung des NLP gegeben. Wir verwenden nun sogenannte transformers, die ermöglichen, dass Vektoren sich in der Wechselwirkung mit ihrer Umgebung verändern. Dieser Ansatz funktioniert weitaus besser als die vorigen Algorithmen.
Gumbrecht: Es ist wirklich überraschend, wie viele Studierende aus der Computerwissenschaft aus freien Stücken zum wöchentlichen Philosophiekurs kommen. Sie tun das, um gedanklich flexibler zu werden und ihr Bewusstsein zu weiten. Bei Heidegger findet sich zum Beispiel dieser Satz: „Die Sprache ist das Haus des Seins.“ Worauf er damit hinauswill, ist, dass sich das Sein in der Sprache verstecken kann wie in einem Haus. Dass die Sprache nicht immer ein einfacher, direkter Weg zum Sein ist. Was eben auch bedeutet, dass es ungeheuer produktiv sein kann, sich einer Stimmung hinzugeben, einer Eingebung, einer Epiphanie, anstatt fleißig irgendwelche Theorien zu büffeln. Es geht darum, nicht allein dem konzeptuellen Denken zu vertrauen, sondern auch der Intensität des Moments.
Ginn: Künstliche Intelligenz will ein Bewusstsein schaffen, das Dinge begreifen kann. Und darin liegt für mich auch der Kern all der Fragen, mit denen sich Heidegger befasst: Was heißt es wirklich für den Menschen oder für irgendein Wesen, sich in dieser Welt zu bewegen und etwas zu wollen oder zu wünschen, zu tun oder zu erleben? Heidegger besteht darauf, seine Art des Philosophierens mit der „durchschnittlichen Alltäglichkeit“ zu verbinden, wie er am Anfang von Sein und Zeit schreibt. Und dasselbe tun wir in der Informatik, speziell mit der KI.
Es geht also, wenn ich Sie richtig verstehe, darum, KI – um es mal so zu sagen – körperlicher zu denken?
Ginn: Ja, und in genau dieser Hinsicht erklärte Heidegger Descartes’ Ansatz „Ich denke, also bin ich“ für komplett falsch. Stattdessen versuchte er eine andere Phänomenologie zu begründen, beruhend auf dem „Dasein“, welches die körperliche Dimension der Existenz umfasst. Die Welt der KI ging, denke ich, den genau umgekehrten Weg: Sie nahm Descartes beim Wort und sagte: Okay, das reine Bewusstsein ist die Basis für KI, darauf bauen wir auf. Gerade deshalb ist Heidegger so wichtig. Seine Kritik richtet sich auf den Kern der heutigen KI. Jede Bedeutungseinheit, sei es ein Wort oder ein Bild, hat in diesem euklidischen Raum der digitalen Sphäre ihren festen Platz. Damit wurden sehr erfolgreiche KI-Algorithmen geschaffen – bloß waren sie nie wirklich das, was wir künstliche Allgemein-Intelligenz nennen, im Sinn einer KI, die dem menschlichen Verstand sehr ähnlich ist. Heidegger macht uns auf dieses Problem aufmerksam.
Kommen wir zu dem Umfeld, in dem Ihre Ideen entstanden sind. Wie muss ich mir das Leben im Silicon Valley vorstellen? Stimmt das Klischee, dass dort besonders viele kluge Leute leben, die sehr viel arbeiten?
Ginn: Das Besondere am Silicon Valley ist, dass die Menschen dort auf Weltprobleme fokussiert sind, die sich durch den Einsatz von Technologie lösen lassen. Um diese Lösungen zu finden, brauchen Sie Geldgeber. Wenn Sie im Silicon Valley in eine Bar oder ein Restaurant gehen, hören Sie immerzu Gespräche über neue Ideen, darüber, wie jemand sein Projekt finanzieren will. Entscheidend für die Finanzierung ist dabei nicht, ob Sie ein Spezialist in diesem oder jenem Bereich sind. Was zählt, ist die Idee.
Gumbrecht: Ja, es gibt einen speziellen Silicon-Valley-Enthusiasmus für verrückte Ideen. Mit einer verrückten Idee bringen Sie dort eher 25 Millionen auf als mit einer plausiblen Idee.
Ginn: Einer Bank legen Sie einen Geschäftsplan vor, in dem Sie erklären, warum Ihre Idee kein Risiko bedeutet. Damit überzeugen Sie die Bank. Wenn Sie mit so einem wasserdichten Plan bei den Kapitalgebern fürs Silicon Valley ankommen, werfen die Sie gleich wieder raus. Die wollen einen hochriskanten Plan, der aber, wenn er aufgeht, die Welt verändern kann. Und wenn Sie das Risiko eingehen und scheitern, dann heißt es nicht: „Sie haben versagt“, sondern: „Was haben Sie daraus gelernt? Was ist Ihre nächste Idee?“
Gumbrecht: Das Silicon Valley ist eine Blase. Es ist der einzige Ort auf der Welt, wo ein solider Geschäftsplan eher gegen ein Projekt sprechen würde. Natürlich gibt es auch dort für alles reelle Grenzen – aber es kann, wenigstens für eine Weile, sehr inspirierend sein, auf Realisierbarkeit nicht achten zu müssen. Aber es könnte auch sein, dass wir gerade das Ende des Silicon Valley erleben.
Inwiefern?
Gumbrecht: Zwei Entwicklungen, Googles Suchmaschine und Apples Technik, haben das Silicon Valley geformt. Gut möglich, dass wir nun an einem Punkt sind, an dem es zwar immer wieder ein neues iPhone geben wird, noch kleiner, noch größer, mit noch besserer Kamera – aber vermutlich hat sich seit Jahren kein einschneidender Durchbruch mehr ereignet. Das könnte das Ende des Silicon Valley bedeuten. Vielleicht hatte es seinen Höhepunkt schon 2010 erreicht.
Ginn: Was das Silicon Valley auszeichnet, ist die Idee des Umbruchs. Es beruht auf kleinen Startups, die größere Industrien erschüttern. Apple warf Microsoft und IBM über den Haufen, die Mobiltelefone setzten den Computern zu, Google machte frühere Suchmaschinen überflüssig … Das Silicon Valley ist kein Forschungszentrum, das nach und nach seine Kenntnisse erweitert. Es geht darum, Dinge besser zu machen und Bestehendes zu ersetzen. Interessanterweise hat sich das Silicon Valley immer wieder selbst infrage gestellt, durch diverse Technologien. Nun hat es beinahe die Idee des Silicon Valley an sich obsolet gemacht, denn Sie müssen ja heute nicht mehr dort sein, um Gespräche über Technologie zu führen. Dank der elektronischen Technologie ist es unwichtig, ob wir uns im selben physischen Raum aufhalten. Ich halte es nicht für ausgemacht, dass das Silicon Valley auf Dauer da bleibt, wo es sich jetzt befindet. Seine Kultur wird vielleicht bleiben, aber sie braucht das geografische Zentrum nicht mehr.
Gumbrecht: Das ist ein interessantes Paradox,
das wir gerne hervorheben: Gerade die an einem Ort geballte Technologie des Silicon Valley hat die Notwendigkeit überwunden, zusammen in einem Raum zu sein.
Ginn: Fest steht, dass das Silicon Valley seine Phasen hat. Es begann mit der Silizium-Hardware, die ihm den Namen gab, dann ging es über zu den Internet-Start-ups, wie Google oder Amazon. Es folgten die mobilen Start-ups. Bei der nächsten Charge, ab etwa 2015, ging es vor allem darum, die Technologie zum Umkrempeln regulärer Geschäftsvorgänge zu nutzen, deren Effizienz zu steigern. Zum Beispiel wurden Start-ups groß, die Techniken entwickelten, mit denen sich Schiffe schneller um die Welt bewegen können. Auch mein Start-up zählt zu dieser Generation. Wir erfinden nichts großartig Neues im Bereich Hardware, aber wir machen Dinge effizienter.
Wie genau?
Ginn: Das Problem, mit dem ich mich befasse, ist die Gesundheitsversorgung. 2016 legte die American Medical Association eine Studie vor, der zufolge eine Ärztin für jede Stunde, die sie mit ihren Patienten verbringt, zwei weitere Stunden am Computer sitzt, um die Diagnose zu erstellen. Aber, so fragten wir uns, muss das so sein? Kann nicht die KI die Diagnose übernehmen? Dieses Problem versuchten wir zu lösen, und zwar zunächst in der Veterinärmedizin, was zum Einstieg leichter ist. Das Problem ist aber dasselbe: Wie können wir die Arbeit von Tierärzten effizienter machen, ihnen helfen, ihre Zeit sinnvoll einzuteilen?
Zählt es zum Erfolg eines Start-ups, dass es irgendwann verkauft wird?
Ginn: Kein Start-up will einfach so vor sich hinwachsen. So kam auch für uns der richtige Moment zum Verkaufen. Man macht sich daran, ein spezielles Problem zu lösen, und man will damit Erfolg haben. Im Silicon Valley gründet man ein Geschäft nie um des Geschäfts willen. Bei Familienunternehmen geht es oft darum, dass das Geschäft gedeiht und die Kinder es übernehmen, das Geschäft selbst ist also der Zweck. Beim Start-up aber gründen Sie das Geschäft, um ein Problem zu lösen.
Früher waren die Kreativen im Silicon Valley unbeirrte Verfechter des freien Marktes. Es herrschte die Haltung vor, die besten Ideen und Produkte würden sich schon von alleine durchsetzen. Heute wirken viele von ihnen da skeptischer und rufen nach einem regulierenden Staat. Ist das Silicon Valley heterogener, als wir glauben?
Ginn: Diese Skepsis ist real. Zwar sind wir nach wie vor alle überzeugt, dass die Technologie eine wichtige positive Rolle im Umgang mit Problemen wie dem Klimawandel spielen kann. Skeptisch sind wir aber wegen der Großkonzerne, die zu Monopolisten geworden sind. Als ich nach Stanford kam, hielten wir es für das Größte, für Google, Facebook oder eine der großen Tech-Firmen zu arbeiten. Als ich meinen Abschluss machte, sah das schon ganz anders aus, da fühlte sich so ein Job fast wie ein Rückschritt an; als würdest du deine Seele verkaufen, anstatt etwas Interessantes zu tun. Lieber wollen die Leute ihre eigenen Firmen gründen, Firmen, die anders arbeiten, und dafür verwenden sie die Technologie. Wir vertrauen den großen Konzernen nicht mehr, aber wir haben nach wie vor großes Vertrauen in die Technologie.
Gumbrecht: In der EU neigen reiche Leute dazu, politisch rechts zu stehen. Man erwartet von ihnen, dass sie für niedrige Steuern und gegen staatliche Regulierung sind. Das Silicon Valley aber unterstützt mit großer Mehrheit die Demokratische Partei, sogar deren linken Flügel, der heute ideologisch nicht weit entfernt ist von der europäischen Sozialdemokratie. Der einzige Ex-Silicon-Valley-Milliardär, der sich offen zu den Republikanern bekennt, ist Peter Thiel. Als absolute Ausnahme. Im Silicon Valley ist ein gewisser Sozialdemokratismus ausgebrochen, die europäische Politik gilt als neues Vorbild.
Wir sprachen anfangs über Intensität und Präsenz. Was aber, wenn das Silicon Valley sich wirklich als Ort erübrigt, weil die Menschen auch digital in Kontakt treten können?
Ginn: Tatsächlich hat ein Konzept wie Silicon Valley inzwischen nichts mehr mit Geografie zu tun. Es ist zum digitalen Ort geworden. Wo du dich gerade befindest, spielt kaum noch eine Rolle. Ich kann in Austin, Texas, sein und trotzdem mit Leuten in San Francisco oder Berlin reden.
Gumbrecht: Aber an einem Philosophie-Seminar in Stanford könntest du nicht teilnehmen. Widerspricht das, was du gerade sagst, nicht deinem Verlangen nach Intensität und dem, was Heidegger unter „Dasein“ versteht?
Ginn: Ja, die Intensität des Moments wird auf diese Weise verringert. Zugleich aber wird die Teilhabe demokratisiert. Ich kann in Stanford sein und mich per Zoom mit der klügsten Philosophin in Indien unterhalten. Alles mag etwas weniger intensiv sein, aber dafür sind die Möglichkeiten des Austauschs enorm erweitert. Heute können Leute in Estland die beste Technologie bauen, während sie früher erst mal ein Visum brauchten, um in San Francisco die Aufmerksamkeit eines Risikokapitalgebers zu gewinnen. Ein armer Mensch in Indien braucht einen Laptop, dann kann er dasselbe tun wie ich, ohne je einen Fuß in die USA setzen zu müssen. Und wenn Sie heute dem Geld folgen, sehen Sie, dass viel internationaler investiert wird – verstärkt zum Beispiel in Start-ups aus Indien, Indonesien oder Osteuropa. Ich denke, das Silicon Valley zieht tatsächlich gerade in die digitale Sphäre um, die es selbst geschaffen hat. •
Sam Ginn ist Start-up-Unternehmer im Silicon Valley und Pionier in der Entwicklung künstlicher Intelligenz. Er ist Gründer und Geschäftsführer von Vetspire, einer KI-basierten Software für Veterinärmedizin, und belegte während seines Studiums an der Stanford University Seminare Hans Ulrich Gumbrechts.
Hans Ulrich Gumbrecht ist emeritierter Professor für Komparatistik an der Stanford University. Er ist ständiger Gastprofessor an der Université de Montréal, am Collège de France sowie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Zuletzt erschien von ihm: „,Prosa der Welt‘. Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung“ (Suhrkamp, 2020).