Zu welchem Ende unterstützt der Westen die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland? Als Antwort kommt nur eine massive russische Niederlage infrage. Alles andere würde den russischen Imperialismus fördern und Autokraten auf der ganzen Welt ermutigen. Die USA haben sich bei der Formulierung ihrer Ziele in dem von Russland gegen die Ukraine geführten Krieg mit Absicht sehr vage ausgedrückt. Schwammige Phrasen wie «der Ukraine helfen, sich zu verteidigen» oder, noch schlimmer, «die Ukraine in die bestmögliche Position für Verhandlungen bringen» sind bedeutungs- oder gar geschmacklos.
Bürokratischer gedanklicher Nebel tarnt sich als Kunst der Politik, und das ist gefährlich. Strategie bedeutet die Anpassung der Mittel an den Zweck. Im Krieg ist es leicht, vom Handeln besessen statt vom Ziel geleitet zu sein und damit der häufigsten menschlichen Dummheit zu verfallen, so wie Nietzsche sie beschrieben hat: zu vergessen, was man eigentlich vorhatte zu tun.
Die Ukraine weiss genau, was sie unter einem Sieg versteht: Die Grenzen von vor 2014 sind wieder hergestellt; das Territorium ist von Invasoren gesäubert; Flüchtlinge kehren heim; die Gesellschaft und die Wirtschaft werden wieder aufgebaut; die Tür zur Mitgliedschaft in der EU wie in der Nato steht offen; und es wird in einem gewissen Mass sichergestellt, dass den russischen Vergewaltigern, Folterern und Mördern die gerechte Strafe widerfährt.
Sieg oder Niederlage
Desgleichen ist bekannt, wie die Russen den Sieg definieren: Er umfasst eine Ukraine, die zerbrochen und vom Westen abgeschnürt ist und deren Territorium zu einem beträchtlichen Teil annektiert wurde; hinzu kommt ein zerrüttetes Europa, das sich wieder in Abhängigkeit von billigem russischem Öl und Gas begibt und nach guten Geschäften mit Moskau Ausschau hält; gekrönt wird dies mit dem Wiederaufbau eines grossen Teils des alten russischen Imperiums.
Wir im Westen sollten den Sieg wollen, wie ihn die Ukraine definiert. Um ihn zu erreichen, müssen wir der Ukraine nicht nur helfen, Russland zu besiegen – wir müssen Russland auch klarmachen, dass es besiegt ist.
Ein Russland, das sich durchsetzen würde, wäre ein Russland, das sich noch stärker ermächtigt sehen würde, sich in Europa einzumischen und seinen Einfluss mit unbegrenzter Gewalt auszuweiten. Es wäre ein Russland, das gelernt hätte, ungestraft morden und Greueltaten verüben zu können; ein Russland, dessen Ambitionen mit dem Erfolg wachsen würden. Ein russischer Sieg würde die Welt zudem lehren, dass der Westen – einschliesslich der USA – trotz seinem Reichtum nicht entschlossen genug ist, den eigenen Überzeugungen und Verpflichtungen nachzukommen. In Peking würde man das Ganze als ermutigende Lektion betrachten.
Ein Russland, das sich durchsetzen würde, wäre ein Russland,
das sich noch stärker ermächtigt sehen würde, sich in Europa einzumischen.
Umgekehrt würde eine russische Niederlage Peking – das wegen der Inkompetenz und der kruden Rhetorik seines Partners ohnehin schon nervös ist – in die Defensive drängen, das westliche Bündnis festigen und dazu beitragen, dass wesentliche Normen für anständiges Verhalten in den für den Westen wichtigsten Teilen der Welt erhalten blieben. Vor allem aber würde eine Niederlage das russische imperiale Projekt endgültig blockieren, denn ohne die Ukraine kann Russland – wie der Historiker Dominic Lieven festgestellt hat – kein Imperium sein
Die russische Niederlage erfordert keinen Marsch auf Moskau (was in der Vergangenheit selten eine gute Idee war), und sie bedingt auch kein wehrloses und zerstörtes Russland (was ohne den dritten Weltkrieg unmöglich zu bewerkstelligen wäre). Vielmehr muss das Bewusstsein der Niederlage fest in den Köpfen der russischen Führung und der russischen Bevölkerung verankert werden. Russland muss wissen, dass der Einsatz von militärischen Mitteln in einem grossangelegten Krieg zwangsläufig scheitert, und es muss erkennen, dass die Ukraine für Russland dauerhaft und vollständig verloren ist.
Israel zum Beispiel
So etwas hat es schon einmal gegeben. Israel besetzte 1967 zwar keine arabischen Hauptstädte, aber der Krieg brachte die arabischen Staaten dazu, die Vorstellung aufzugeben, man könne den jüdischen Staat mit konventionellen militärischen Mitteln vernichten. Der Krieg von 1973 erzwang sodann die Schlussfolgerung, dass selbst ein begrenzter militärischer Konflikt zu riskant ist, um ihn noch einmal zu versuchen.
In Vietnam und Afghanistan wurden die USA besiegt, ohne dass sie eine einzige Schlacht verloren hätten. Vielmehr gelangten die Amerikaner zu der Einsicht, dass Weiterkämpfen nicht nur schmerzhaft, sondern auch sinnlos wäre, dass der Feind unerbittlich und unschlagbar ist und dass der Preis, den sie in Form von Blut, Aufwand und Aufmerksamkeit bezahlen, die Kosten nie und nimmer decken wird.
Carl von Clausewitz, der deutsche Theoretiker des Krieges, hat gesagt, dass der Krieg eine Erprobung der moralischen und physischen Kräfte mithilfe der Letzteren sei. Die Ukraine muss bei ihren bevorstehenden Gegenoffensiven nicht nur Erfolge auf dem Schlachtfeld erzielen, sie muss auch weit mehr als einen geordneten Rückzug der Russen nach Waffenstillstandsverhandlungen zustande bringen. Brutal ausgedrückt: Sie muss es schaffen, dass russische Soldaten massenhaft fliehen, desertieren, Offiziere erschiessen, gefangen genommen werden oder umkommen. Die russische Niederlage muss in ein unmissverständlich grosses, blutiges Durcheinander münden.
Russlands Aussichten auf einen Sieg in der Ukraine sind nach und nach implodiert. Zunächst glaubte Putin, dass die Ukraine in einer Woche kapitulieren würde; dann, dass sie sich nach ein oder zwei Monaten harter Kämpfe geschlagen geben würde; dann, dass Europa die Ukraine während eines kalten Winters ohne russisches Gas im Stich lassen würde; dann, dass sich die Ukraine durch Angriffe auf ihre Städte genötigt sehen würde, sich zu unterwerfen. Die letzte Option auf einen Sieg – dass der Westen sich nicht dazu durchringen kann, unbegrenzt Ressourcen in die Ukraine zu stecken – kann ebenfalls als widerlegt gelten; und darüber hinaus gibt es keine Siegperspektive.
Um ein Ende herbeizuführen, sollte der Westen mit äusserster Dringlichkeit alles bereitstellen, was die Ukraine benötigt, einschliesslich Langstreckenraketen, mit denen die Kertsch-Brücke zwischen der Krim und dem russischen Festland zerstört werden kann, sowie Streumunition, welche russische Kampffahrzeugverbände und Infanterie zu vernichten imstande ist. Russlands Armee mit nur einem Bruchteil des US-Verteidigungsbudgets und ohne das Blut eines einzigen amerikanischen Soldaten zu besiegen, wäre ein erstaunliches strategisches Schnäppchen.
Darüber hinaus müssen die Russen feststellen, dass die Ukraine – in ihren Augen einst ein Pseudostaat von «Vettern» oder «kleinen Brüdern» – als Entität für immer «verschwunden» sein wird. Das bedingt einen raschen Beitritt des Landes zur EU und zur Nato, aber auch ein starkes westliches Engagement für den wirtschaftlichen Wiederaufbau und, was für die kommenden Jahre am wichtigsten ist, die Bewaffnung der Ukraine bis an die Zähne.
Das amerikanische Geplänkel um die Frage, ob man der Ukraine im Überfluss vorhandene F-16-Kampfjets abgeben soll oder nicht, ist töricht und kurzsichtig. Diese Jets werden in zwei Monaten vielleicht auf dem Schlachtfeld keinen Unterschied machen, aber das Wissen, dass in den nächsten Jahren mehrere hundert von ihnen geliefert werden, hätte eine tiefe symbolische Bedeutung. Wir im Westen sollten im Weiteren darüber nachdenken, wie wir die ukrainischen Streitkräfte, die grösste, kampferprobteste und in mancher Hinsicht entschlossenste Armee Europas, wiederaufbauen wollen.
Der Westen sollte eine entschlossene Informationskampagne fahren, um die Tragweite der russischen Niederlage deutlich zu machen. Die Russen müssen daran erinnert werden, dass ihre schwächelnde Wirtschaft nur ein Zehntel so gross ist wie jene der EU; dass sie nicht in der Lage sind, einen modernen Panzer zu bauen und einzusetzen; dass ihr neuester Hochleistungskampfjet, die Su-57, zahlenmässig nur schon den F-35 der vier nordischen Staaten unterlegen sein wird; dass ihre Generäle überaltert und unfähig sind; dass dem Oberkommando das Leben der Männer gleichgültig ist; dass ihre Ausrüstung jener der Ukraine unterlegen und dass ihre Logistik durch Bestechung und Korruption verrottet ist.
Die Informationskriegsführung sollte durch fortgesetzte Sanktionen begleitet werden, deren Ziel nicht so sehr darin besteht, den Krieg zu gewinnen, sondern vielmehr darin, das russische Kampfpotenzial langfristig zu lähmen, indem die Wirtschaft unter Druck gesetzt wird und das Land gezwungen wird, auf minderwertige technische Komponenten und Ersatzteile zurückzugreifen.
Russland muss zudem politisch und psychologisch isoliert werden, wobei die historische Ambivalenz des Landes gegenüber dem Westen Berücksichtigung finden muss. Russlands Literatur, Kunst, Kultur und politische Praxis sind stark europäisch verwurzelt. Nach Jahren, oder wahrscheinlicher, nach Jahrzehnten könnte die Zeit kommen, da ein postimperiales Russland sich erneut dem Westen zuwendet.
Der Schlüssel ist Mut
Das alles ist machbar. Und es ist in kleinerem Massstab schon einmal geschehen. In den späten siebziger und frühen achtziger Jahren kam die Kreml-Führung zur Überzeugung, dass die Sowjetunion mit den Fortschritten der westlichen Militärtechnologie nicht länger mithalten konnte. Der Krieg in Afghanistan ging nicht zufällig verloren. Die politische Transition unter Gorbatschow war teilweise das Ergebnis dieser Erkenntnis.
Trotzdem sollten wir unsere Erwartungen drosseln. Denn leider dürfte ein besiegtes Russland nach wie vor böswillig, wütend und rachsüchtig sein. Es wird wahrscheinlich immer noch von der «Vertikalen der Macht», den harten Männern aus den Sicherheitsministerien, regiert werden; es wird von Verbrechen und Mord durchdrungen sein; und es wird sich in subversiver Agitation, in politischer Kriegsführung und in durchtriebenem Verhalten aller Art ergehen.
Aber wer hätte es nicht lieber mit tausend Trollfabriken und Tarnorganisationen zu tun als mit einem neuen «Mariupol»? Ein solches Russland wäre weit weniger gefährlich für den Westen, weit weniger nützlich für China und wohl weit weniger in der Lage, in den kommenden Jahren monströse neue Bedrohungen hervorzubringen.
Der Schlüssel zu dieser Strategie ist Mut. Wir müssen unsere Ängste vor den Drohungen und Eskalationen des Kremls, vor der russischen nuklearen Anmassung und vor einem Zusammenbruch Russlands überwinden. Wir müssen strategisch und klug vorgehen, aber ohne Mut ist nichts zu erreichen. Um es mit den Worten von Papst Johannes Paul II. zu sagen, dem Mann, der so viel dazu beigetragen hat, den Sowjetkommunismus ganz ohne Waffen in die Knie zu zwingen: «Zweifelt nie, werdet nie müde, und lasst euch nie entmutigen. Habt keine Angst.»