Ein magnetischer Käfig hält die mehr als 100 Millionen Grad Celsius
heißen Plasmen in Kernfusionsanlagen auf Abstand zur Gefäßwand,
damit diese nicht schmilzt. Jetzt haben Forscher des Max-Planck-
Instituts für Plasmaphysik (IPP) ein Verfahren gefunden, den Abstand
deutlich zu verringern. Das könnte den Bau kleinerer und günstigerer
Fusionsreaktoren zur Energieerzeugung ermöglichen. Die Arbeit wurde
im Journal „Physical Review Letters“ veröffentlicht.
Der am weitesten fortgeschrittene Weg zur Energiegewinnung in einem
Fusionskraftwerk führt über den internationalen Experimentalreaktor ITER, der
gerade in Südfrankreich gebaut wird. Die Anlage verfolgt das Tokamak-Prinzip
– das heißt, ein mehr als 100 Millionen Grad heißes Fusionsplasma wird in ein
magnetisches Feld eingeschlossen, das die Form eines Donuts hat. Dieses
Konzept verhindert, dass das heiße Plasma mit der umschließenden Wand in
Kontakt kommt und diese beschädigt. Als Blaupause für ITER und spätere
Fusionskraftwerke dient dabei das Experiment ASDEX Upgrade am IPP in
Garching bei München. Hier wurden wichtige Elemente für ITER entwickelt.
Und hier lassen sich bereits heute Plasma-Betriebszustände und
Komponenten für spätere Kraftwerke erproben.
Bild 1: Plasmagefäß von ASDEX Upgrade. In der kreisrunden Rinne am Boden befindet sich
der Divertor (Credit: MPI für Plasmaphysik/Volker Rohde).
Frank Fleschner
Pressesprecher
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Das heiße Plasma rückt näher an den Divertor heran
Ein zentrales Element von ASDEX Upgrade und aller modernen
Magnetfusionsanlagen ist der sogenannte Divertor. Es handelt sich dabei um
einen Teil der Gefäßwand, der besonders hitzebeständig ist und der
besonders aufwändig konstruiert ist. „Am Divertor führen wir Wärme aus dem
Plasma. In späteren Kraftwerken soll dort auch das Fusionsprodukt Helium-4
ausgeleitet werden“, erklärt Prof. Ulrich Stroth, Leiter des Bereichs
Plasmarand und Wand am IPP. „In dieser Wandregion ist die Belastung
besonders hoch.“ Die Divertor-Prallplatten von ASDEX Upgrade und auch von
ITER sind deshalb aus Wolfram – dem chemischen Element mit der höchsten
Schmelztemperatur überhaupt (3422 °C).
Ohne Gegenmaßnahmen würden 20 Prozent der Fusionsleistung im Plasma
auf die Divertoroberflächen treffen – mit etwa 200 Megawatt pro Quadratmeter
wären das in etwa Bedingungen wie auf der Sonnenoberfläche. Der Divertor
in ITER und auch künftigen Fusionskraftwerken wird aber nur maximal 10
Megawatt pro Quadratmeter verkraften können. Deshalb werden dem Plasma
geringe Mengen an Verunreinigungen (häufig Stickstoff) zugesetzt. Diese
entziehen ihm den Großteil seiner Wärmenergie, indem sie diese in
ultraviolettes Licht umwandeln. Trotzdem muss der Plasmarand (die
sogenannte Separatrix) auf Abstand zum Divertor gehalten werden, um diesen
zu schützen. Bislang waren das in ASDEX Upgrade mindestens 25 Zentimeter
(gemessen von der unteren Plasmaspitze – dem X-Punkt – bis zu den äußeren
Kanten des Divertors).
X-Punkt-Strahler eröffnet der Fusionsforschung neue Möglichkeiten
Jetzt ist es Forschenden am IPP gelungen, die Distanz auf unter 5 Zentimeter
zu verringern, ohne die Wand zu schädigen. „Wir setzen dafür gezielt den
sogenannten X-Punkt-Strahler ein – ein Phänomen, das wir vor etwa einem
Jahrzehnt bei Experimenten an ASDEX Upgrade entdeckt haben“, sagt IPPForscher
Dr. Matthias Bernert. „Der X-Punkt-Strahler tritt in dafür speziell
geformten Magnetfeldkäfigen auf, wenn die Menge der Stickstoff-
Verunreinigung einen bestimmten Wert überschreitet.“ Es bildet sich dann ein
kleines, dichtes, besonders stark im UV-Bereich strahlendes Volumen. „Die
zugesetzten Verunreinigung bringt uns zwar etwas schlechtere
Plasmaeigenschaften, aber wenn wir den X-Punkt-Strahler durch Variation
des Stickstoffeintrags gezielt platzieren, können wir die Experimente bei
höheren Leistungen betreiben, ohne die Anlage zu schädigen“, erklärt Bernert.
In Kameraaufnahmen aus dem Vakuumgefäß ist der X-Punkt-Strahler (kurz:
XPR – für X-Point Radiator) als blau leuchtender Ring im Plasma zu erkennen,
weil neben der UV-Strahlung auch sichtbares Licht emittiert wird. IPPForschende
haben den XPR zuletzt intensiv untersucht. Dennoch spielte bei
der jetzigen Entdeckung auch der Zufall eine Rolle: „Versehentlich sind wir mit
dem Plasmarand deutlich näher an den Divertor herangegangen, als geplant“,
erzählt IPP-Physiker Dr. Tilmann Lunt. „Wir waren sehr überrascht, dass
ASDEX Upgrade damit problemlos klargekommen ist.“ Weil sich der Effekt in
weiteren Experimenten bestätigen ließ, wissen die Forschenden jetzt: Bei
Einsatz des X-Punkt-Strahlers wird deutlich mehr Wärmeenergie in UVStrahlung
umgewandelt, als bisher angenommen. Das Plasma strahlt dann bis
zu 90 Prozent der Energie in alle Richtungen ab.
Fusionskraftwerken könnten kompakter und günstiger gebaut werden
Daraus ergeben sich Folgerungen, die sehr günstig für den Bau künftiger
Fusionskraftwerke sein können:
• Divertoren können kleiner und technologisch deutlich einfacher gebaut
werden als bisher (Compact Radiative Divertor).
• Weil das Plasma näher an den Divertor rückt, lässt sich das Vakuumgefäß
besser ausnutzen. Erste Rechnungen zeigen, dass sich bei optimaler
Formung des Gefäßes fast eine Verdopplung des Plasmavolumens
erreichen ließe – bei gleichbleibenden Maßen. Damit würde auch die
erzielbare Fusionsleistung steigen. Aber das müssen die Forschenden
erst in weiteren Experimenten verifizieren.
Außerdem wirkt der gezielte Einsatz des X-Punkt-Strahlers auch gegen so
genannte Edge Localized Modes (ELMs) – das sind heftige Energieeruptionen
am Plasmarand, die in regelmäßigen Zeitabständen wiederkehren und etwa
ein Zehntel der Plasmaenergie Richtung Wand schleudern. ITER und künftige
Fusionsreaktoren würden dabei beschädigt werden.
„Wir haben es mit einer bedeutenden Entdeckung in der Fusionsforschung zu
tun“, urteilt deshalb auch IPP-Bereichsleiter Ulrich Stroth. „Der X-Punkt-
Strahler eröffnet uns völlig neue Möglichkeiten bei der Entwicklung eines
Kraftwerks. Wir werden ihn jetzt theoretisch aber vor allem auch in weiteren
Experimenten an ASDEX Upgrade genauer untersuchen.“ Der Garchinger
Tokamak wird dafür bald bestens gerüstet sein: Bis zum Sommer 2024 wird er
umgebaut und mit einem neuen oberen Divertor ausgestattet. Dessen
spezielle Spulen werden es ermöglichen, das Magnetfeld nahe am Divertor
beliebig zu verformen – und damit auch die Bedingungen für den X-Punkt-
Strahler zu optimieren.
Das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) in Garching bei München und Greifswald
erforscht die physikalischen Grundlagen für ein Fusionskraftwerk, das Energie aus der
Verschmelzung von leichten Atomkernen gewinnen soll. Die Arbeiten des IPP sind eingebettet in
das Europäische Fusionsprogramm. Mit rund 1100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist das IPP
eines der größten Zentren für Fusionsforschung in Europa.
Max-Planck-Institut
für Plasmaphysik (IPP)
Boltzmannstraße 2
85748 Garching bei
München