Ist der neue Mensch ein Eiferer? Dem neuen und einen Gott entspricht ein neuer Mensch, der sein ganzes Leben der schriftlich offenbarten Wahrheit weihen soll.
Nichts hat die westliche und, so weit der Islam reicht, auch die östliche Welt so von Grund auf verändert wie der Wandel vom Poly- zum Monotheismus in der Antike.
Obgleich sich dieser Wandel über Jahrhunderte, – nehmen wir Echnaton und Mohammed hinzu – über Jahrtausende hinzog, erinnert ihn die Tradition als einen Sprung, als Offenbarung und Stiftung, als revolutionären Bruch, wie er radikaler gar nicht gedacht werden kann.
Jaspers sprach von der «Achsenzeit», in der «der Mensch entstand, mit dem wir bis heute leben». Ihm kam es mehr auf die Gleichzeitigkeit als auf die inhaltliche Bestimmtheit solcher Brüche an, die er in den Jahrhunderten um 500 v. Chr. in Ost und West wahrnahm. Entscheidender aber als die Chronologie ist die Sache, um die es geht: die Einführung einer neuen Religion und in ihrem Gefolge die Entstehung eines neuen Menschen.
Die neue Religion – was Wunder – formt auch einen neuen Menschen
Natürlich tut sie das – weil sie nicht mehr nur wie die alten Religionen eine Sache des Kults und des Weltbilds sein, sondern darüber hinaus die gesamte Lebensführung grundlegend regeln will. Hier geht es nicht mehr nur um Kult, sondern um Lebensheiligung. Der Name Moses steht ja nicht nur für die Verkündung des einen Gottes, der keine anderen Götter neben sich duldet, der die Bilder verbietet, der den Missbrauch seines Namens ahndet und die Heiligung des Sabbats fordert, sondern vor allem auch für den Gesetzgeber, den Begründer der halakha, das heisst einer bis ins Kleinste geregelten, methodischen Lebensführung, die der individuellen Biografie wie ein Drehbuch zugrunde liegt und vom Einzelnen in seinem Leben gewissermassen ausagiert werden will. Dort, wo die Religion aus ihren ursprünglichen kultischen Rahmen heraustritt und zur Sache einer das gesamte sowohl gesellschaftliche als auch individuelle Leben gestaltend und vor allem auch umgestaltend erfassenden Normativität wird, dort schlägt auch die Stunde des Einen Gottes.
Schrift und Lebensführung
Der Aspekt der Schrift scheint das konkreteste, greifbarste Kennzeichen des Neuen zu sein. Meine – mit Verlaub – These ist, dass der Schritt in die neue, lebensfundierende Form von Religion ohne die Schrift nie hätte getan werden können. Die Schriftlichkeit, deren sich die Religion bedient, um gestaltend und umgestaltend auf die gesamte Lebensführung der Menschen einzuwirken, ist allerdings von besonderer Art. Sie wirkt wie eine Vorschrift, die befolgt sein will: Wer sie nicht studiert und ihr nicht folgt, der versündigt sich. Das ist etwas völlig Neues in der Geschichte nicht nur der Religion, sondern auch der Schriftkultur; und diese beiden Innovationen hängen, sich gegenseitig bedingend, zusammen. Die Edikte und Rechtsbücher der altägyptischen und babylonischen Kulturen regeln immer nur Einzeldinge. Überdies lag deren Geltungskraft nicht in der Schrift als solcher, sondern beim König. Das geschriebene Gesetz muss sich im König verkörpern, um performative Geltung zu erhalten, «in Kraft zu treten». Dieses Verhältnis von Schrift und Leben wird in der Tora umgekehrt. Das Gesetz gilt, weil es geschrieben steht. Die Schrift informiert nicht, wie Recht gesprochen werden soll, sondern sie spricht Recht, und dieser performative Anspruch macht beim Recht nicht Halt, sondern beansprucht in jedem Satz autoritative und normative Verbindlichkeit für alle Aspekte des Lebens.
Diese gesteigerte Form von Schriftlichkeit nennen wir Kanon
Das Prinzip Kanon wird im 5. Buch Mose in zwei Formeln ausgedrückt.
Erstens: Die Schrift ist geschlossen, nichts darf hinzugefügt, nichts darf weggenommen, nichts darf verändert werden.
Zweitens: Die Schrift muss Tag und Nacht studiert, mit anderen diskutiert, den Kindern eingeschärft und total verinnerlicht, in der Sprache der Bibel: «ins Herz geschrieben» werden. Der Einzelne muss sie gewissermassen re-inkarnieren, um sie in seiner Lebensführung ausagieren zu können. Ein Leben nach der Schrift ist gefordert, oder, mit Thomas Mann zu reden: ein «zitathaftes Leben». Für jede Lebenssituation, jede Lebensentscheidung gilt es, das richtige Schriftwort zu finden. Leben ist Schrifterfüllung. Allen monotheistischen Religionen sind die performative Schriftlichkeit und der Anspruch auf Grundlegung der individuellen Lebensführung ebenso gemeinsam wie ein Kanon heiliger Schriften, in denen die Grundsätze dieser Lebensregeln als Ansprüche, die Gott an uns stellt, niedergelegt sind.
Die neue Religion bringt aber nicht nur einen neuen Menschen, sondern auch eine neue Form von Gemeinschaft hervor. Mit der Offenbarung des Einen Gottes entsteht ein neues Volk: das auserwählte Volk, die christliche Kirche, die Umma der Gläubigen. Jude, Christ, Muslim und andere Begriffe einer religiös definierten Identität und Zugehörigkeit sind ebenso neuartig wie der Glaube an einen einzigen Gott. Man ist nicht Athener, weil man an Athene glaubt, sondern weil man aus Athen stammt oder das dortige Bürgerrecht erworben hat. Beide Aspekte, die Grundlegung der individuellen Lebensführung (was man ist) und die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft
(wer man ist), hängen untrennbar zusammen.
Die gruppenbildende Dynamik der neuen Religion ist enorm
Sie setzt sich innerhalb der Religionen fort, Judentum, Christentum und Islam umgreifen in sich noch einmal viele Tausende von Richtungen, Sekten, Orden, Bruderschaften, Bewegungen, Denominationen aller Art, die nach „reineren oder radikaleren Formen streben“, die Ansprüche der Religion im Leben zur Geltung zu bringen. Das hängt damit zusammen, dass sich die lebensformenden Ansprüche der Religion nie in grossem Massstab ohne Kompromisse institutionalisieren und veralltäglichen lassen. Daher kommt es immer zu Verwässerungen und erneuten Radikalisierungen. Diese ganze Dynamik ist den sogenannten heidnischen Religionen fremd.
Konversion
In diesen Zusammenhang gehören auch zwei Phänomene, die in den Religionen älteren Typs undenkbar wären: Konversion und Martyrium. Unter Konversion verstehe ich eine radikale Umgestaltung der Lebensführung und eine radikale Form von Reue. Natürlich gibt es überall und seit eh und je Schuld und die entsprechenden Reaktionen der Scham, Reue und Buße. Überall macht der Mensch Fehler und hat hernach Anlass, sie zu bereuen. Davon sei hier nicht die Rede, sondern von einer existenziellen Umkehr, aufgrund eines Innegewordenseins der Sündhaftigkeit, Vergänglichkeit, Gottesferne des bisherigen Lebens. In Texten wie dem 51. Psalm äussert sich ein neues Lebensgefühl, das mit dem neuen, monotheistischen Gottesbegriff zusammenhängt. In der Exponiertheit dieser neuen Gottesbeziehung bildet das Ich, das sich in den Psalmen äussert, die wichtigste Arena der Weltzuwendung Gottes, seines innerweltlichen strafenden und heilenden und letztlich erlösenden Wirkens.
Was sich theologisch beschreiben liesse als ein Heraustreten Gottes aus der Götterwelt in die Einsamkeit und Einzigkeit der Transzendenz, das kommt in anthropologischer Perspektive in den Blick als eine neue, gesteigerte Form von Subjektivität. Diese neue Subjektivität findet ihren reinsten und stärksten Ausdruck im Gefühl der Reue. Dieses Gefühl scheinen die herkömmlichen Religionen nicht zu kennen. Konversion und Reue erfordern beide eine negative Selbsterkenntnis; nur wer sein bisheriges Leben als falsch oder sein bisheriges Tun als sündhaft erkennt, ist zur Umkehr fähig. Reue und Konversion sind Dramen, die auf der inneren Bühne spielen und den inneren Menschen betreffen; und die Vermutung drängt sich auf, dass sich diese innere Bühne, die nun zum Schauplatz solcher existenzieller Wandlungen wird, zugleich und in Verbindung mit der monotheistischen Wende zum Beispiel in Israel entwickelt. Schuld erscheint hier nachgerade als ein Generator von Individualität und Subjektivität. In der Schuld erfährt sich das Ich als Protagonist eines Dramas von Gott und Mensch.
Schliesslich sei auf auf das Martyrium eingegangen, in dem die eindeutigste Signatur des neuen Menschen zu erblicken ist, der sich im Horizont der monotheistischen Wende ausgebildet hat. Martyrium heisst «sterben für das Gesetz», es ist die äusserste Form eines Lebens im oder nach dem Gesetz, eines Auslebens der zum «Drehbuch» der Lebensführung verinnerlichten Schrift. Der hebräische Ausdruck hierfür lautet qiddush ha-shem: «Heiligung des Namens (Gottes)», was der ersten Bitte im christlichen Vaterunser entspricht. Der christliche Ausdruck martyrion kommt von martyser, «Zeuge». Der Märtyrer bezeugt die überragende Wirklichkeit Gottes, gegenüber der der Tod als ein vorübergehendes Ereignis dieser vergänglichen Welt nicht ins Gewicht fällt. Jüdisch gesprochen bezeugt der Märtyrer die kommende Welt, ha-olam ha-bah, als deren Bürger er diese Welt willig verlässt.
Das Martyrium entwickelt sich als eine Extremform gesetzestreuer Lebensführung zugleich mit der Ausbildung eines Jenseitsglaubens im Judentum, also spät, im 2. Jahrhundert v. Chr. Bekanntlich bildete der Glaube an ein Jenseits und ein Leben nach dem Tode einen der Streitpunkte zwischen den Sadduzäern, die diesen Glauben ablehnten, und den Pharisäern. Die Pharisäer haben sich im rabbinischen Judentum durchgesetzt. Zugleich verweist der Ausdruck olam-ha-bah, «die kommende Welt», auf die sich gleichzeitig im Judentum entwickelnde Apokalyptik. Die Tage dieser Welt, in der Unrecht und Unterdrückung überhand nehmen, sind gezählt, die Zeichen der Zeit stehen auf Untergang und Neubeginn, gerade in den schlimmsten Leiden erscheint schon die Morgenröte einer neuen Welt – in solchen Sätzen lässt sich vielleicht das apokalyptische Lebensgefühl, das in der damaligen Zeit übrigens nicht nur die Juden, sondern weiteste Kreise von Iran bis Ägypten und Rom bewegte, andeutungsweise kennzeichnen.
Höchster Einsatz
Apokalyptik und Unterdrückung gehören zusammen, es handelt sich bei jener um eine Form religiösen Widerstands, und zum Martyrium kann es natürlich nur in Situationen extremer gewaltsamer Verfolgung kommen. Hier berühren wir nun den Punkt, der heute besonders heiss diskutiert wird: die Frage nach einer möglichen Beziehung zwischen Monotheismus und Gewalt. Gehören auch Gewalt und Intoleranz zu den Innovationen, die erst mit der neuen Religion in die Welt gekommen sind? Es mag paradox erscheinen, dieses heisse Eisen ausgerechnet im Zusammenhang des Martyriums, dieses höchsten Ausdrucks von Gewaltverzicht und Passivität, dieses reinen Erleidens von Gewalt, anzupacken. Und doch gehören Martyrium und Gewalt, das Sterben für und das Töten für Gott, zusammen. Sie erscheinen beide gleichzeitig im Rahmen derselben geschichtlichen Situation auf der Bühne der Geschichte und gelten beide als Ausdruck des höchsten Einsatzes für Gott, zu dem der Mensch fähig ist.
Diese Situation ergab sich in den sechziger Jahren des 2. Jahrhunderts v. Chr., als der Seleukide Antiochus IV. Epiphanes «ein Gebot ausgehen liess, dass nur noch ein einziges Volk sein sollte», das heißt, es sollte in seinem Reich eine Kultur, also ein Recht und eine Religion, herrschen. Es geht ihm nicht um gewaltsame Unterdrückung, sondern um die Herstellung kultureller Einheit, und zwar im hellenistischen Sinne, also um eine durchgreifende Hellenisierung der östlichen Völkerschaften, denen Antiochus dadurch vermutlich eine Wohltat zu erweisen glaubt. Gewalttätig wird diese Massnahme erst durch den Widerstand, den der jüdische Bandenführer Yehuda Makkabi diesen Bemühungen entgegensetzt. Dieser Widerstand ist der erste religiös motivierte Krieg der Weltgeschichte. Er führt uns die neue Religion in ihren politischen Konsequenzen vor Augen. Diese Leute kämpften für das Gesetz, für Gott. In diesem Zusammenhang ist zum ersten Mal von Märtyrern die Rede, die lieber den schrecklichsten Tod erleiden, als sich vor Götzenbildern zu verneigen oder Opferfleisch zu essen.
Eiferer
Der makkabäische Widerstand kämpft nicht nur, er „eifert“ für das Gesetz. Dieser Begriff, hebräisch qana, ist ein Schlüsselwort für die Beziehung von Monotheismus und Gewalt. Von Gott heisst es, dass er ein «eifernder Gott» sei, der die Sünden der Väter heimsuche bis ins dritte und vierte Glied. Ein eifernder Gott schlägt zu. Eifern heisst mit Gewalt vorgehen, notfalls töten, vernichten, auslöschen. So wie Gott sollen auch die Menschen für das Gesetz eifern. Daher heisst es im Deuteronomium mit Bezug auf die Kanaanäer: Schliesse keinen Vertrag mit ihnen und verschone sie nicht. Das Vorbild solchen Glaubenseifers ist Pinchas, der seinen Landsmann Zimri mit seiner midianitischen Geliebten im Liebesakt durchbohrt. Diese Szene hat sich Yehuda Makkabi vor Augen gestellt. Er hat sich nämlich nicht nur mit Gewalt gegen Antiochus IV. gewehrt, sondern das Leben ganzer jüdischer Städte ausgelöscht, die sich dem Hellenismus assimiliert hatten – Massnahmen, die an die Taliban erinnern und in den Makkabäerbüchern nicht etwa mit Abscheu, sondern mit Stolz berichtet werden. An den hellenisierten Städten «vollstreckt er den Bann», mit «der Schärfe des Schwertes».
Diese Terminologie stammt aus den Kriegsgesetzen des Deuteronomiums. Den Bann an einer Stadt vollstrecken heisst, alles darin umbringen, «was Odem hat». Dieses archaische und fiktive Kriegsrecht benutzt Yehuda Makkabi als Drehbuch für seinen Guerillakrieg: damit die Schrift erfüllt werde – «du sollst sie nicht verschonen». Darin äussert sich bereits eine fundamentalistische Haltung. Die griechischen Äquivalente zu qana im Sinne eines religiös motivierten Totaleinsatzes des eigenen Lebens sind zeloun und zelos, eifern und Eifersucht (davon leiten sich die «Zeloten» ab), und das arabische Äquivalent ist – was Wunder – dhihad.
Wir dürfen unsere Augen nicht vor der Einsicht verschliessen, dass das Töten und das Sterben für Gott Ausdruck derselben Intoleranz ist, das heisst der Überzeugung einer unüberwindlichen Unvereinbarkeit von Wahrheit und Wirklichkeit, wie sie erst im Horizont der «mosaischen Unterscheidung» zwischen dem wahren Gott und den falschen Göttern, und letztlich zwischen Gott und Welt, denkbar wird. Sowohl das Töten als auch das Sterben für Gott gibt es nur im Rahmen der neuen Religion, die eine Sache nicht des Kults, sondern der Lebensführung ist, die eine Unterscheidung trifft und eine Entscheidung fordert. Wir dürfen nur nicht den Fehler machen, notwendige schon für hinreichende Bedingungen zu halten und anzunehmen, Gewalt und Intoleranz seien im Sinne notwendiger Konsequenzen im Monotheismus angelegt. Warum sollte die Unterscheidung zwischen wahr und falsch gewalttätig sein? Sie ist es nicht von Haus aus, aber Gewalt und Intoleranz stecken im Sinne möglicher Folgen gleichsam in ihr; es handelt sich um Implikationen, die wir bedenken und vermeiden, nicht um Konsequenzen, auf die wir uns als auf etwas Unausweichliches gefasst machen müssen.
Das ist der Preis des Monotheismus. Die Unterscheidung von Gott und Welt hat uns befreit von der Tyrannei des Gegebenen und uns Perspektiven einer anderen Wirklichkeit erschlossen, ohne die wir nicht mehr leben können. Es gibt also keinen Weg zurück in die archaische Kompaktheit des Heidentums, in der Religion noch Kult war, Verwaltung des innerweltlichen Heiligen. Es gibt nur einen Weg voraus, in Richtung auf ein neues, die dunklen Seiten nicht apologetisch verleugnendes, sondern kritisch reflektierendes Verständnis von Monotheismus.