Jetzt haben Archäologen herausgefunden, warum die Stadt plötzlich zum Dorf schrumpfte. In einem neu entdeckten Stadtviertel fanden sich Läden und Lokale, Münzen und sogar Reste von Mahlzeiten. Ihre perfekte Erhaltung gibt einen Hinweis darauf, was im 7. Jahrhundert nach Christus geschah.
Neben der Statue der Göttin mit den vielen Brüsten verblasst natürlich alles, was Ephesos sonst noch zu bieten hat. Trotzdem ist das, was österreichische Archäologen jetzt in den Ruinen der antiken Stadt in der Türkei entdeckt haben, beachtenswert: ein Stadtviertel mit kleinen Läden, in dem sich sogar die Essensreste im Geschirr erhalten haben. Die perfekten Bedingungen erlauben einen «Einblick in einen Tag des Jahres 614/615 nach Christus», wie die leitende Archäologin Sabine Ladstätter es ausdrückt. Und dieser Fund könnte endlich auch erklären, warum die Stadt nach diesem Tag so grundlegend anders aussah als zuvor.
Der Artemis-Tempel von Ephesos war eines der sieben Weltwunder
Ephesos war eine griechisch dominierte Stadt an der Westküste der heutigen Türkei. Die Küstenlinie hat sich verschoben, heute liegen die Ruinen einige Kilometer vom Meer entfernt. Die Stadt war in der Antike berühmt für ihren Tempel der Göttin Artemis. Dieses seit mindestens dem 8. Jahrhundert vor Christus bestehende Artemision wurde mehrfach zerstört und danach jedes Mal grösser und prunkvoller wiederaufgebaut.
Die letzte Version wurde im 4. Jahrhundert begonnen und nie fertiggestellt, ständig wurde daran weitergebaut. Auch so galt das Gebäude als eines der sieben Weltwunder. Es mass 137 Meter in der Länge, 69 Meter in der Breite und 18 Meter in der Höhe, war also grösser als ein Fussballfeld und so hoch wie ein sechsstöckiges Gebäude – und ist heute komplett verschwunden.
Ebenfalls verschwunden ist das Kultbild, das der Tempel beherbergte. Wie es ursprünglich aussah, darüber lässt sich nur spekulieren. Auf Münzbildern ab dem 2. Jh. v. Chr. und auch in Kopien aus römischer Zeit jedenfalls ist es als Frauenfigur zu sehen, der Oberkörper bedeckt mit etwas, was aussieht wie mit Wasser gefüllte Ballons. Sie werden als Brüste identifiziert; eine unter Archäologen populäre Theorie ist, dass die Statue mit den Hodensäcken von der Göttin geopferten Stieren behängt war.
Die Menschen in Ephesos assen Meeresfrüchte und Pfirsiche
Das nun von österreichischen Archäologen entdeckte Stadtviertel liegt zwar in der Nähe des politischen Zentrums der römischen Stadt, der Oberen Agora, entstand aber erst in der Spätantike. Seit der Teilung des Römischen Reiches im Jahr 395 n. Chr. in eine Ost- und eine Westhälfte gehörte Ephesos zum oströmischen Reich, das nach der Kaiserresidenz Byzanz, dem heutigen Istanbul, auch «byzantinisches Reich» genannt wird.
Auf der ausgegrabenen Fläche von etwa 170 Quadratmetern fanden die Archäologen eine Reihe kleiner Geschäfte, Lokale und Werkstätten, die Mauern zum Teil bis zu 3,4 Metern hoch erhalten, und darin, versiegelt unter einer einen Meter dicken Brandschicht, den gesamten Hausrat: Weinkrüge und Becher, Schüsseln mit Resten von Meeresfrüchten wie Herzmuschel oder Austern, ein Lagerraum mit Amphoren, gefüllt mit eingesalzenen Makrelen, ferner Kerne von Pfirsichen, Mandeln und Oliven, verkohlte Erbsen und Hülsenfrüchte.
Bei dem einen Laden handelte es sich offenbar um eine Strassenküche, in der es das Essen nur zum Mitnehmen auf die Hand gab, denn es ist zwar Kochgeschirr aus Bronze und Keramik erhalten, aber keine Speise- und Trinkgefässe. Ein anderer Laden verkaufte Lampen und christliche Pilgerandenken, eine Werkstatt für Holzgegenstände hatte ebenfalls Souvenirs im Angebot.
Ephesos war ein beliebtes Ziel christlicher Pilger
Die Ausrichtung auf die religiöse Kundschaft kam nicht von ungefähr: In Ephesos wurden in frühbyzantinischer Zeit mehrere Heilige verehrt, die «Sieben Schläfer», Märtyrer des frühen Christentums, sowie der Apostel Johannes, über dessen angeblichem Grab eine Kirche stand. Das neu entdeckte Viertel liegt an der prominentesten Strasse der Stadt, die vom Hafen zu den grossen christlichen Heiligtümern führt und auch für Prozessionen genutzt wurde. Beliebt als Souvenir oder Mitbringsel waren offensichtlich die sogenannten Pilgerfläschchen, kleine, nur zwei bis drei Zentimeter hohe Keramikgefässe, in denen sich Staub oder Erde aus der Umgebung der Heiligtümer sammeln und mitnehmen liess und die an einer Schnur um den Hals getragen werden konnten. 600 dieser Fläschchen haben die Ausgräber zutage gefördert.
In mehreren Läden fanden sich ausserdem noch die Geschäftskassen, insgesamt über 1000 Münzen, die meisten aus Kupfer, vier jedoch aus Gold. Entscheidender als das Material ist jedoch, dass sich anhand dieser Münzen der Zeitpunkt sehr genau feststellen lässt, wann das blühende wirtschaftliche Leben ein plötzliches Ende nahm: Sie stammen aus der Herrschaft des byzantinischen Kaisers Herakleios und lassen sich auf das Jahr 614/615 nach Christus datieren. Die genaue Analyse der gefundenen Früchte kann das dann sogar noch auf die Jahreszeit eingrenzen.
Das Ende war nicht friedlich. Funde von Pfeilspitzen und Lanzen sowie die dicke Schicht mit Brandschutt zeugen von einem feindlichen Angriff. Immerhin: menschliche Überreste haben die Archäologen nicht gefunden. Grabungsleiterin Ladstätter vermutet, dass die Menschen noch fliehen konnten oder aber der Überfall in der Nacht geschah und die Lokale und Geschäfte leer waren.
Interessant ist, dass nach dem Angriff offenbar niemand mehr da war, der sich für die Häuser unter dem Schutt interessierte. Normalerweise wird – auch heute noch – ein zerstörtes Haus früher oder später nach Brauchbarem durchsucht, sei es von ehemaligen Bewohnern, sei es von Fremden. Im Fall des niedergebrannten Viertels in Ephesos wäre wohl zumindest das Geld in den Kassen ein Anreiz gewesen, den Schutt zu durchwühlen. «Wir wissen sicher, dass aus den Häusern nichts entnommen wurde, es also keine Plünderung gab und auch später die Brandschicht nicht durchwühlt wurde», sagt Ladstätter. «Das Areal wurde auch danach nicht mehr benutzt. Das kann rechtliche Gründe haben, aber auch topografische, denn das Areal liegt ausserhalb der byzantinischen Stadtmauer, und es spricht vieles dafür, dass dieses nach den Zerstörungen 614/615 nicht mehr bewohnt wurde.»
Nach dem Angriff schrumpft Ephesos zum Dorf
Der nun dokumentierte Angriff könnte auch endlich den Grund für das offenbaren, was Archäologen schon in anderen Vierteln in Ephesos beobachtet hatten, aber nicht erklären konnten: Im 7. Jahrhundert wurde die Stadt sprunghaft kleiner, war im Grunde nur noch ein Dorf, der Lebensstandard sank auf ein ländliches Niveau, das Geld verschwand und wurde durch Tauschhandel ersetzt, die Menschen lebten nur noch innerhalb der Stadtmauer. Aus anderen Quellen weiss man, dass es zu dieser Zeit immer wieder Ärger mit den Persern, zu dieser Zeit Sasaniden genannt, gab. Ladstätter vermutet sie deshalb hinter dem Angriff und sieht in ihm die Ursache für die Zerstörung und die darauffolgende Schrumpfung der Stadt.
Ephesos ist heute eine der wichtigsten touristischen Attraktionen der Türkei und zieht jedes Jahr zwei Millionen Besucher an. Ihnen soll in den kommenden Jahren auch das neu ausgegrabene Areal zugänglich gemacht werden. Den meisten wird allerdings angesichts der vielen anderen antiken Bauwerke wie dem Theater das kleine frühbyzantinische Ladenviertel ganz entgehen. Und im archäologischen Museum von Ephesos werden sie nicht staunend vor den dann dort ausgestellten Pilgerfläschchen stehen, sondern vor der römischen Statue der Artemis mit den vielen Brüsten.