Rituelles Sprechen, das sich freilich vom logisch begründbaren Sprechen wesentlich unterscheidet. „Mythos Heidelberg“ denn also: „Der genius loci Heidelbergs ist feucht“, dies Zitat aus dem Widmungsgedicht Victor von Scheffels „Gaudeamus“ über den Geist des Ortes Heidelberg bezieht sich fraglos nicht etwa auf häufigeren Regen als anderswo. Sich nun also dem „Geist des Ortes“, dem Mythos Heidelberg dennoch auf dem Wasserwege nähern?

Wahrlich, der Neckar ist das zu tun ein schlechter Weg nicht. Mit seiner „gaudeamischen“ Feuchtigkeit meinte Scheffel aber sicher auch nicht den Fluß, eher schon den Gersten- oder Rebensaft.
Er lebte lange genug in Heidelberg, wir dürfen ihm glauben.

Eine „Stadt fröhlicher Gesellen, an Weisheit schwer und Wein“, das war Scheffels „Alt Heidelberg, du feine“. Ihn zog es immer wieder zurück an diesen von Hölderlin „Mutter“ genannten Ort, Heimstatt der Romantiker.

Heidelberg heute – würden die „Heidelberger Hochromantiker Achim von Arnim und Clemens Brentano, Joseph von Eichendorff, Johann Joseph Görres, Jacob und Wilhelm Grimm – würde diese Schar ihre „Bergstadt lieblicher Wunder“ wiedererkennen? Wo ständig die „Oppositionellen der jungen Romantik gegen die alte Prosa“ aufbegehrten –  (Eichendorff, heute?)
Wäre für sie Heidelberg – wie für Hölderlin – diese Stadt immer noch „der Vaterlandsstädte ländlichschönste“?

Würden Stadt und Umgebung auch heute noch zünden können, Oden und glühende Hymnen zu dichten auf „die Berge rechts mit Wein bekränzt, die Ebene links wie Gold erglänzt“ (Clemens von Brentano), oder auf das Schloß, dies der Zeit steinern stilles Hohngelächter“ (Nikolaus Lenau)?

Heidelberg hat noch immer seine mythischen Orte, das DAI – mal eben zum Beispiel – hat sich zu einem solchen entwickelt. Auch das Schloß gehört natürlich dazu – worauf  freilich Schloßberganwohner an manchen Tagen sicher gerne verzichten würden.
Wir haben den Fluß, der mittlerweile sowohl wieder „Blauäuglein drein blitzen“ läßt, als auch Rotaugen; und zudem, wie Angler versichern, sich sogar Forellen (!) wieder tummeln.

Vor einigen Jahren haben wir den 200. Geburtstag unserer „Alten Brücke“ gefeiert. Im Stift Neuburg schließlich läßt sich nicht nur heute immer noch Stille finden, auch Efeu wird von dorten in alle Welt hinaus geschickt. Der „Klingenteich“ – in einem der Häuser dort entstand der „Zupfgeigenhansel“, dies Kleinod aus der Jugendbewegung – ist immer noch – zumal kürzlich wieder hergerichtet) einen Fußweg wert. Autofahrern entgeht der wunderschöne kleine Wasserfall mit einer sehr schönen – mittlerweile wieder hergerichteten – Anlage und ein Stück verwunschenes Heidelberg am Bach entlang). Den „Wolfsbrunnen“ wollen wir nicht vergessen.

Aus dem Palais Boisseree gibt’s immer noch den Gratisblick (vom Karlsplatz davor freilich auch), welcher der Paul Linckeschen Operette „Frau Luna“ entlehnt sein könnte: „Schlösser, die im Monde liegen, sind wohl herrlich lieber Schatz, doch um sich im Glück zu wiegen, baut das Herz den schönsten Platz“.

Überhaupt, die Sache mit den in Heidelberg verlorenen Herzen: Wem´s auch immer nicht passen mag, der „romantische Mythos“ hatte auch dem „zweiten Biedermeier“ Wegezoll abzugeben.
Verballhornungen. Weg von „perque no?“ hin zu „Perkeo“ der – zum Trinken aufgefordert – alleweil fragte „warum nicht“?“ Hin zum „Großen Faß“. Weg von Hymne und Ode, hin zum Sauflied. Als dann gar 1901 das tränenrührige „Alt Heidelberg“ Wilhelm Meyer-Försters in 28 Sprachen als Buch erschien und der gleichnamige Film rund um die Welt „erfolgte“, blieb nicht nur kein Auge trocken – es flogen auch alle Herzen in der Hoffnung nach Heidelberg, dort verloren zu werden.

Spätestens von nun an führte kein touristischer Weg mehr an der Stätte „der alten Burschenherrlichkeit“ vorbei, (das „Tourismusleitbild“ versucht das in den Griff zu bekommen, dass der (und das ist richtig) Tagestourismus künftig möglichst „außen vor“ bleiben soll, wird dennoch hin und widrig beklagt).

Trotz alledem und alledem … – Heidelberg hat´s noch. Anders eben. Es ist eine lebendige Stadt. Sie hat sich verändert. Dass freilich daran, wie sie das getan hat, wie das getan wurde, sich die Geister scheiden, gehört zum „Mythos Heidelberg“. Insofern auch, als streitbare Einzelne, Gruppen und Gruppierungen jeder Coleur sich mit Veränderungen befassen und keinen Versuch unterlassen, sich solcherweise streitbar einzumischen, dass oft genug „die Fetzen fliegen“.

Streiten, das konnten sie schon immer gut, die Heidelberger. Als im Februar 1623 der päpstliche CommisärLeo Alacci die auf den Emporen der Heiliggeistkirche beheimatete „Bibliotheca Palatina“ die „das ganze Wissen der Welt horten sollte“, nach Rom zu bringen suchte, gab es weder Handwerker, Stricke noch Bretter oder sonstiges Packmaterial, den Raub durchzuführen. Mutig, die Heidelberger. Damals. Heute: „Mekka des Geschwätzes“ nannte der Prinzip Hoffnungsträger Bloch (im Ernst) die vielgeliebte Stadt. Kein „Eleusischer Bund“ mehr in Heidelberg? Mythos wo bist Du? her mit Euch, Ihr Kreuz- und Querdenker! Ihr Brüder und Schwestern im Geiste, denen ein fauler „Friede“ nicht (wie weiland zu Heiliggeist) „höher ist, denn alle Vernunft“, wo seid Ihr? Gibt es Euch noch? Verrückte Organisten, wilde Dichter, besessene Dirigenten, holder Wahn?

Meist nicht vor der Dämmerung des Abends steigen Gestalten (und: Gestaltinnen – das mußte jetzt auch mal sein) von der Agora – dem Katheder, aus Hinterhöfen, herunter vom Berg oder – aus dem Bett und treten Nachfolgen an: die Stefan Georges, Friedrich Gundolfs, Karl Wolfkehls, Richard Dehmels, des Malers Wilhelm Trübners, Max Webers … Mythos Heidelberg?
In jeder Gasse, im Wald um Heidelberg herum, in (beinahe) jeder Kneipe läßt er sich ohne jeden verschnörkelten Kokolores und rhetorische Slapsticks fassen.

Freilich bedarfs auch eines „Glücklichen Augenblicks“ – Kairos und Zufall. So bleibt der Mythos Heidelberg gar vielen verborgen. Das muss sein dürfen.
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Joseph Victor von Scheffel:
Gaudeamus. Lieder aus dem Engeren und Weiteren

Viele der Gedichte sind bereits 1846/ 1847 entstanden und wurden ab 1848 erstmals in den „Fliegenden Blättern“ und anderen Zeitschriften gedruckt. Erstdruck der Sammlung 1868. Der vorliegende Text folgt der erweiterten Ausgabe letzter Hand: Stuttgart (Adolf Bonz & Comp.) 1886.

Inhaltsverzeichnis
Gaudeamus. Lieder aus dem Engeren und Weiteren
Widmung
Naturwissenschaftlich
Kulturgeschichtlich
Die Lieder vom Rodenstein
Heidelbergisch
Neueres
Aus dem Weiteren
Biographie
Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.
Herausgegeben von Karl-Maria Guth.
Berlin 2017.

Textgrundlage ist die Ausgabe:
Joseph Viktor von Scheffel: Kritische Ausgabe in 4 Bänden, Herausgegeben von Friedrich Panzer, Leipzig/ Wien: Bibliographisches Institut, 1917.

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe als Marginalie zeilengenau mitgeführt.
Umschlaggestaltung von Thomas Schultz-Overhage.
Gesetzt aus der Minion Pro, 11 pt.

Okt. 2022 | Heidelberg, Allgemein, Essay, Feuilleton, In vino veritas | Kommentieren