Als die Bundesregierung ihr Amt antrat, tat sie es im Zeichen zweier zentraler Begriffe: Vertrauen und Fortschritt. Die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP hatten noch nicht begonnen, da verkündete der spätere Kanzler, er wolle eine Regierung bilden, die auf Vertrauen beruhe. Die ungleichen Partner erklärten später, da habe sich zum Wohl des Landes eine „Fortschrittskoalition“ gebildet. Heute ist die Zwischenbilanz eher verheerend:
Die drei Partner streiten wie die Kesselflicker, ein Fortschritt zum Guten fand fast nicht statt, das Misstrauen hat weite Teile der Bevölkerung erfasst. Nicht nur die „Ampel“, auch die Demokratie geht geschwächt in diesen Herbst.
Die Situation ist schwierig und besteht aus multiplen Krisen. Der Bundeswirtschaftsminister wies in seiner jüngsten Bundestagsrede darauf hin. Zunehmend ungehalten polterte Robert Habeck: „Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen, was dieses Land erlebt“, Corona, Inflation und die „Drohung einer Rezession“ zur selben Zeit. In einer solchen Lage, so der Grünen-Politiker, präsentierten sich die konkurrierenden Parteien als destruktive „Muss-weg-Opposition“ – und er äffte die Kollegen nach: „Die Gasumlage muss weg! Sind wir denn hier im Fussballstadion, oder ist das eine Demo? – Oder was? Oder wie?“
Schlechte Noten für die Bundesministerien
Der dünnhäutige Habeck trägt freilich durch erratische Entscheidungen dazu bei, dass immer mehr Bürger sich mit Grausen abwenden von einer Politik, die sie als Spektakel empfinden. In der Berliner Arena, so scheint es manchmal, führt eine Laienschar ein Stück auf, wie es die Brüder Grimm nicht phantastischer hätten ersinnen können: Das Märchen von einer Regierung, die auszog, das Fürchten zu lernen. Und zum Fürchten sind die jüngsten Urteile der Bevölkerung über den Zustand von Staat und Politik. Die Entfremdung wächst und wird endemisch. Ewig kann das nicht gut gehen.
Die Frage, welche Partei am besten mit den Problemen in Deutschland fertig werde, wurde gerade von 61 Prozent der repräsentativ Befragten mit „keine Partei“ beantwortet. Der Aufwärtstrend und damit die innere Abkehr von den etablierten Parteien ist stabil. Nur ein Drittel setzt auf CDU, CSU, SPD, FDP und die Grünen.
Wenig Vertrauen in die Parteien
Antwort auf die Frage: Welcher Partei trauen Sie zu, mit den Problemen in Deutschland am besten fertigzuwerden?
Für die Umfrage wurden 2509 Personen befragt. Die Resultate sind mit einer Fehlermarge von ± 2,5 Prozentpunkten behaftet. Befragungszeitraum: 13. bis 19. September 2022.
Das Ergebnis einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa für RTL und NTV deckt sich mit dem Eurobarometer der Europäischen Kommission, wonach lediglich 30 Prozent der Deutschen den politischen Parteien vertrauen. Zu Beginn dieses Jahres waren es noch 36, im Sommer 2020 immerhin 40 Prozent.
Auch der Deutsche Beamtenbund sorgt nicht für Entwarnung. Er ermittelte 29 Prozent Staatsbürger, die den Staat für handlungsfähig und kompetent halten. Vor zwei Jahren betrug der entsprechende Wert 56 Prozent. Besonders schlechte Zensuren für ihre Leistung erhalten derzeit die Bundesministerien. Im Schnitt geben die Befragten ihnen eine „ausreichende“ Schulnote von 3,7.
Deutschland ist zur Drittelgesellschaft geworden
Es gibt das eine Drittel, das weder vom Staat noch von den ihn tragenden Parteien enttäuscht ist. Dieses Drittel hält dem parlamentarischen Repräsentativsystem und dessen Institutionen die Stange. Bei einem Bevölkerungsdrittel handelt es sich also um Staatsbürger im emphatischen, nicht nur formalen Sinn.
Die restlichen zwei Drittel sind unzufrieden, desillusioniert, kehren sich innerlich ab. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass es verführerisch leicht ist, in Umfragen Unmut zu artikulieren, ist das ein erschütternder Befund – und er schont keine Partei. Auch der Opposition am Rand, der AfD und den Linken, werden sehr geringe Kompetenzwerte zugeschrieben. In dieser Hinsicht sind sie Teil des Systems.
Das relative Hoch des Zutrauens vor zwei Jahren fällt zusammen mit der Klimax der Corona-Massnahmen. Ganz offensichtlich waren diese von einer punktuell grossen Zustimmung getragen. Der Staat zeigte sich aktiv, kaum eine Woche verging ohne Ministerpräsidentenkonferenz, die Parteien mahnten und warnten, drohten und ermunterten. Es war – wie sich heute zeigt – eine Scheinblüte des Vertrauens.
Im Rückblick haben auch Befürworter eine andere Optik gewonnen. Kein nachhaltiges Zusammengehörigkeitsgefühl ist entstanden.
So lautet die Lehre einer Bertelsmann-Studie im Auftrag jener baden-württembergischen Landesregierung, die während der Pandemie mit besonders rigorosen Eingriffen und drastischen Appellen aufgewartet hatte. Grosses Vertrauen in die Stuttgarter Regierung haben heute nur noch 25 Prozent – nach 40,5 Prozent vor drei Jahren. Dem Landtag bringen nur 23 Prozent grosses oder sehr grosses Vertrauen entgegen. Fast 50 Prozent im Ländle sehen den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet, immerhin jeder Fünfte ist mit der „Demokratie, wie sie in Deutschland besteht“ unzufrieden. Das ist ein Anstieg um über 11 Prozentpunkte in drei Jahren.
Weder Habeck noch Scholz sind den Krisen gewachsen
Zwischen Konstanz und Heidelberg – und weit darüber hinaus – haben demnach die zahlreichen Projekte zur „Stärkung der Zivilgesellschaft“ ihr Ziel verfehlt. So lautet das erste Fazit der alles in allem erschütternden Zahlen: Je mehr der Staat sich als gesellschaftlicher Akteur und des Volkes erster Pädagoge missversteht, desto eher sind die Bürger bereit, sich von ihm abzuwenden. Wo die Spielräume des Individuellen schwinden, reisst das republikanische Band. Es steht zu befürchten, dass weder die Stuttgarter Landes- noch die Berliner Bundesregierung daraus die richtigen Schlüsse ziehen und ihr weltanschauliches Mikromanagement überdenken werden.
Vertrauen wächst durch Verlässlichkeit und geht in der Sprunghaftigkeit zugrunde. Das wäre die zweite Lektion aus der bundesdeutschen Drittelgesellschaft: Parteien, welche die berühmte Augenhöhe proklamieren und dann barsch von oben nach unten durchregieren, verlieren schneller an Ansehen, als Robert Habeck „Erneuerbare-Energien-Gesetz“ aussprechen kann. Das Durcheinander bei der Gasumlage, bei den Entlastungspaketen, beim Weiterbetrieb der Kernkraftwerke kann kein noch so herrischer Auftritt überdecken.
Politisches Vertrauen braucht – drittens – Kompetenz. Weder ein irrlichternder Bundeswirtschaftsminister noch ein Kanzler, der zu entscheidenden Fragen wortreich schweigt, vermitteln derzeit den Eindruck, den multiplen Krisen gewachsen zu sein.
Habeck hält offenbar temporäre Produktionsstilllegungen und Betriebsschliessungen für eine aparte Möglichkeit zum gesamtgesellschaftlichen Chillen, zum Runterkommen von den Anforderungen des Kapitalismus. Er, sagte er, auf tüchtiges Energiesparen und mildes Wetter, dann habe Deutschland eine Chance, durch den Winter zu kommen. Eine solche Aussage ist nicht weit entfernt vom Gesundbeten, an dessen heilende Kräfte gewisse protestantische Kreise glauben.
Rückzug in die Wahlenthaltung
Die entscheidende Frage aber lautet: Wohin wendet sich die enttäuschte Mehrheit, die derzeit keine Hoffnungen in den Staat und seine Parteien setzt? Im Osten profitiert die AfD vom Frust, ist in Umfragen stärkste Kraft in Thüringen und erreicht rund 30 Prozent in Sachsen. Sehr viele Bürger jedoch ziehen sich in die Wahlenthaltung zurück.
Bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl betrug die Beteiligung rund 55 Prozent. Damit erreicht die Düsseldorfer Regierung von CDU und Grünen knapp 30 Prozent Zustimmung unter allen wahlberechtigten Bürgern. Im Bund konnten sich SPD, Grüne und FDP auf rund 37 Prozent der Wahlberechtigten stützen. Mittlerweile ermittelt die Demoskopie eine deutlich geringere Rate.
Leider sind die regierenden Parteien nicht bereit, die wachsende Wahlzurückhaltung als fundamentales Problem anzuerkennen. Olaf Scholz sagte in seiner ersten Regierungserklärung, die „Mehrheit der Bürger unseres Landes“ habe sich „für Aufbruch und Fortschritt entschieden“ – ein Satz, hart an der Grenze zu Fake News, votierten doch nur die bereits erwähnten 37 Prozent für die Ampelparteien. Wer Wahlenthaltung als Zustimmung für die eigene Position vereinnahmt, entmündigt die Bürger.
Selbstkritik ist wichtiger als Rechthaberei
Vor wenigen Tagen strickte der SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich weiter an der Legende von der Majorität und sagte im Bundestag: „Die Mehrheit der Menschen wollte diese Regierung. Sie wollte Kompetenz, Erfahrung und Seriosität im Bundeskanzleramt.“ Dabei war es nur ein gutes Drittel der wahlberechtigten Deutschen, die sich aktiv für SPD, Grüne und FDP entschieden. Und ganz gewiss verstanden nicht alle diese Wähler ihr Votum explizit als Kanzlerstimme für Scholz.
Vertrauen braucht – viertens – die Bereitschaft zur Selbstkritik statt Rechthaberei, braucht echte Nachdenklichkeit statt inszeniertes Pathos. Die Parteien, die laut Grundgesetz an der politischen Willensbildung mitwirken, sollten diese nicht monopolisieren. Das über alle Ufer getretene gesellschaftliche Engagement des Staates, die mangelnde Verlässlichkeit der Entscheidungen und die Kompetenzlücken im Kabinett verbinden sich mit dem Desinteresse an den Desillusionierten zu einer gefährlichen Mischung.
Eine Demokratie ist nicht auf bezahlte Bannerträger angewiesen, wohl aber auf Demokraten. Es bleibt die Bringschuld der Parteien, auch die vielen Menschen ernst zu nehmen, die nicht sie oder die gar nicht gewählt haben.
Wer sich von denen abwendet, die sich abgewendet haben, riskiert die Zementierung der Spaltung.