Seit langem ist bekannt, dass der russischen Invasionsarmee in der Ukraine Soldaten fehlen.
Präsident Wladimir Putin hat mit einem Dekret die Aufstockung der russischen Armee um 137 000 Soldaten verfügt. Das wäre ein Wachstum um etwa zehn Prozent. Auf dem Papier hätte das Land dann 1,15 Millionen aktive Militärpersonen unter der Fahne.
Der Staat versucht an verschiedenen Orten im Land, wehrfähige Männer im Alter zwischen 18 und 60 für neue Freiwilligenbataillone zu rekrutieren. Die Bereitschaft dafür soll unter den Angesprochenen klein sein. Es gibt auch glaubhafte Berichte, dass die Wagner-Freischärlergruppe in Gefängnissen und Arbeitslagern junge Männer für den Krieg sucht und findet.
Nach offiziellen Angaben hatte die Armee bisher eine Obergrenze von 1 Million aktiven Militärpersonen sowie 900 000 Zivilangestellten. Hinzu kommen zwei Millionen Reservisten. Westliche Militärexperten glauben allerdings, dass diese Zahlen aufgebläht sind.
Ein langer Krieg steht bevor
Die Vergrösserung der Armee soll durch intensivere Mobilisierung von Freiwilligen erfolgen, aber konsequenter soll auch die Durchsetzung der Wehrpflicht erfolgen. Die Zahl der 18–27-jährigen Russen, die nicht ausgehoben werden, weil sie über ein medizinisches Gutachten verfügen oder dank der rechtzeitigen Einschreibung an einer Hochschule keinen Dienst leisten müssen, soll gesenkt werden.
Die erneute Mobilisierung zeigt, dass Putin mit einem längeren Krieg rechnet, der wohl auch über den kommenden Winter hinaus dauert. Sie zeigt ebenso, dass der Kreml alle möglichen Massnahmen trifft, um eine allgemeine Mobilmachung zu vermeiden, die aus der «Strafexpedition» im nahen Ausland auch für das russische Publikum einen ausgewachsenen Krieg machen würde.
Putin befindet sich auf einer Gratwanderung. Mit den vorhandenen Kräften ist ein Sieg über die Ukraine nicht zu haben, aber eine Generalmobilisierung könnte ihn die Heimatfront kosten.
Die Unterstützung für den Krieg, von der die Umfragen berichten, hängt nämlich nicht nur von der medialen Propagandamaschine des Regimes ab, sondern auch davon, dass es vor allem ethnische Minderheiten und periphere Gebiete sind, die ihre Söhne dem Krieg opfern. Nach Schätzungen der CIA sind bisher etwa 15 000 russische Soldaten umgekommen.
Junge Offiziere sterben am häufigsten
Eine aufwendige Recherche des russischen Dienstes der BBC (unter anderem auf Friedhöfen im ganzen Land) hat die Zusammensetzung der Gefallenen der Armee untersucht und untermauert diesen Befund. Es sind Regionen wie Dagestan, Burjatien und Krasnodar, aus denen proportional viel mehr Getötete stammen als aus der Grossregion Moskau, wo fast ein Zehntel der Bevölkerung lebt.
Knapp ein Fünftel der Gefallenen sind laut der BBC-Studie Offiziere, unter ihnen besonders viele Subalternoffiziere. Das Risiko, getötet zu werden, ist für einen Zugführer dreimal grösser als für seine Untergebenen.
Besonders hoch ist die Sterberate bei Infanteristen und Fallschirmjägern. Dass viele Infanteristen getötet werden, überrascht vielleicht weniger als der hohe Blutzoll unter den Elitesoldaten. Die Autoren erklären ihn damit, dass die ungenügenden Leistungen der motorisierten Infanterie immer wieder dazu führten, dass sie von Fallschirmjägern herausgehauen oder verstärkt werden müssten. Vor allem zu Beginn des Krieges blieben die hinter den ukrainischen Linien gelandeten Truppen oft ohne Unterstützung und wurden vom Gegner aufgerieben.
In jüngster Zeit sind es aber vor allem «Freiwillige», die im Krieg fallen. Das verwundert nicht. Denn sie werden fast durchs Band ohne nennenswerte Ausbildung nach drei bis sieben Tagen als Kanonenfutter an die Front geworfen. Über die Hälfte soll älter als 40 sein. Viele dieser Männer stammen aus den separatistischen «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk, manche auch aus den russisch besetzten Gebieten. Oft werden sie zum Kriegsdienst gepresst.
Das Kreml-Dekret ändert an diesem Mobilisierungs-Malaise vorerst sicher nichts. Militärexperten sind skeptisch, ob es Putin gelingt, aus seinen Streitkräften tatsächlich eine Ein-Millionen-Armee zu machen.