Er liebte das Schreiben und den Streit der Argumente: Nicht nur als Chefredakteur der ZEIT war Theo Sommer prägend. Jetzt ist er im Alter von 92 Jahren gestorben.
Er schrieb bis zuletzt. Unbedingt wollte er seine Memoiren fertigstellen. Ganz am Ende fügte er das Kapitel über den Chefredakteur ein, das ihm besonders am Herzen lag. Dann war das Buch vollendet, mit dem er seinen Lebensweg als Autor beschließen wollte. Er klappte den Laptop zu und nahm Abschied von seinen Freunden und seiner Familie. Als Chefredakteur hat Theo Sommer den deutschen Journalismus geprägt wie nur wenige vor ihm oder nach ihm.
Fast 20 Jahre lang, von 1973 bis 1992, stand er an der Spitze der ZEIT. Es schlossen sich 30 weitere Jahre in der Redaktion an, als Herausgeber, Editor-at-Large und Autor. Er schrieb wie ein Berserker, mehr als 1.200 Artikel in 64 Jahren allein für die ZEIT. Dazu Bücher, Vorträge, Reden, Kolumnen für amerikanische, japanische oder koreanische Blätter. „Was mich nach wie vor fasziniert: der Vorgang des Schreibens selbst, der unbegreifliche Mechanismus, wie sich aus Gedanken Worte bilden“, sagte er in einem Gespräch zu seinem 90. Geburtstag. Uns Jüngere trieb er an: „Immer ran an den Schreibtisch – die Muse betritt kein leeres Arbeitszimmer.“
Als junger politischer Redakteur kam Theo Sommer 1958 von der Rems-Zeitung in Schwäbisch Gmünd zur ZEIT. Der Tübinger Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg hatte ihn Marion Dönhoff empfohlen, die auf der Suche nach journalistischen Talenten war. „Die Gräfin“ und Theo Sommer formten gemeinsam über Jahrzehnte Profil und Bedeutung der ZEIT, machten sie zum Weltblatt – mit dem kompromisslosen Bestehen auf Liberalität und Internationalität, auf Qualität und Relevanz. Wenn Marion Dönhoff befand: „Das ist ganz überflüssig“ – dann hatte sich ein Thema erledigt.
Theo Sommers Leidenschaft galt der Außen- und Sicherheitspolitik. Auf wenig war er so stolz wie auf seine Teilnahme an Henry Kissingers Internationalem Seminar an der Harvard Universität. Atlantiker durch und durch, blieb er doch immer ein kritischer Beobachter der Vereinigten Staaten. Die Deutschen und die Europäer sollten ihren eigenen Weg finden, sich aus der Abhängigkeit von den USA lösen. Er war ständiger Gast, Moderator und Redner auf den großen internationalen Konferenzen – in Washington, Tokio, Moskau, Davos oder bei der Sicherheitskonferenz in München. Aber als Reporter reiste er auch dorthin, wo es gefährlich war, nach Vietnam etwa oder, noch im hohen Alter, nach Afghanistan. „Man soll nicht über Dinge schreiben, die man nicht aus der eigenen Anschauung beurteilen kann“, sagte er.
Drei große Irrtümer, meinte Theo Sommer selbst, habe er in seinem journalistischen Leben begangen. Er unterstützte zu Beginn den Vietnamkrieg. Er fand es richtig, dass der polnische Staats- und Parteichef Wojciech Jaruzelski 1980 das Kriegsrecht ausrief, weil er hoffte, damit könne eine sowjetische Intervention abgewendet werden. Und er glaubte nicht an eine schnelle Wiedervereinigung Deutschlands. Die Zeit dafür, dachte er, sei noch nicht gekommen und die Furcht der Nachbarn vor einem übermächtigen Deutschland noch zu groß. Wenn er mit seinem Urteil daneben lag, dann tröstete er sich mit der Wahrheit: Nur wer nicht schreibt, macht keine Fehler.
Stolz und selbstbewusst ergriff Theo Sommers ZEIT das Wort in den großen politischen und gesellschaftlichen Debatten der Republik: Deutschland- und Ostpolitik, Historikerstreit, Verbrechen der Wehrmacht, Einwanderung, EU-Erweiterung, Balkankriege, Atomkraft, Gentechnik, Klimawandel. Sommer ließ nach Herzenslust streiten, so wie es sich für einen Liberalen gehört. Manches, was er im eigenen Blatt las, ärgerte ihn gewaltig. Und freute ihn doch. Sollte das bessere Argument siegen!
Wer unter ihm zum Blatt kam, hatte das Gefühl, den journalistischen Olymp erklommen zu haben. Seine Wissbegier und seine Großzügigkeit erlaubten es uns Redakteurinnen und Redakteuren, unsere sehr unterschiedlichen Neigungen und Temperamente in großer Freiheit und Eigenverantwortung zu entfalten. Meinungsstreit wollte er nicht nur im Blatt, er wollte ihn auch in den Redaktionskonferenzen. Also ging es oft hoch her, und gern haute der Chefredakteur dann auf den Tisch, dass es krachte. Widerspruch kam trotzdem. Hatten alle lange genug durcheinandergeredet, fasste er zusammen und vergab Arbeitsaufträge. Versöhnt löste sich die Versammlung auf. In Theo Sommers Konferenzen wurde viel gelacht. Es stand sogar noch Whisky auf dem Tisch.
Theo Sommer war kein Chef für schwache Nerven und empfindsame Naturen. Gern kam er am Dienstagabend, mitten in der Produktion, ins Büro des Redakteurs, griff sich ein Manuskript („Lass mal sehen!“), zog einen Filzstift aus der Brusttasche und begann zu redigieren. Das Manuskript ertrank dann rasch in grüner Tinte, aus einem braven Für und Wider war ein schneidiges So-und-nicht-anders geworden. Doch die meisten Texte wurden dadurch besser. Theo Sommer war ein großartiger Autor, ein glänzender Stilist, mochte er sich manchmal auch zu den seltsamsten Metaphern und brutalsten Pointen hinreißen lassen.
Er hatte ein paar Maximen, an die er sich selbst hielt und die er seiner Redaktion ans Herz legte. Er trug sie am liebsten auf Englisch vor. Sie lauteten:
Hit the main story hard.
Think clearly, write plainly, keep an open mind.
First simplify, then exaggerate.
Zur Beachtung der dritten These – „erst vereinfachen, dann übertreiben“ – ermunterte er vor allem die Leitartikler. Und hielt sie an: Bitte keine Ironie, die versteht der Leser nicht. Dafür gern mal ein Fremdwort einstreuen, der Leser will etwas lernen. Vor allem aber, erste Maxime: Schreiben, was wichtig ist. Sich nicht in Nebensächlichkeiten verlieren.
Auch im hohen Alter wollte er keine „Fliege im Bernstein“ sein, dekorativ, aber untätig. Also schrieb er weiter, jede Woche seine Onlinekolumne, reiste und hielt sich, solange die Knie es erlaubten, durch morgendliches Joggen fit. Zum Beispiel um den japanischen Kaiserpalast.
Als wir einmal in Tokio bei einer Konferenz um den Dinner-Tisch saßen und ein älterer Japaner, ehemals Botschafter in Moskau, sein Glas erhob mit der Bemerkung, er wolle jetzt einen Toast ausbringen, denn er sei wohl der Älteste am Tisch, lachte ihn Theo Sommer von der Seite an und fragte: „May I ask you, Sir, in which year you were born?“ Und der Ex-Botschafter sagte: „1935!“ Worauf Theo Sommer erwiderte: „Well, I can easily beat that!“ und einen Toast auf die deutsch-japanische Freundschaft ausbrachte.
Das Laufen hat ihn jung gehalten. Die Arbeit. Und die schiere Freude am Leben. Theo Sommer genoss es in seiner ganzen Süße. Ein Menschenfreund, mit lautem Lachen, zupackend, anspornend. Ins Gelingen verliebt, das eigene und das Gelingen der anderen. Deshalb schlug ihm so viel Dankbarkeit entgegen, Wärme, Zuneigung und Verehrung. Liebe. Ein großer journalistischer Lehrmeister und ein guter Freund.
Natürlich verschonten auch ihn die Gebrechen des Alters nicht. Vor einigen Wochen stürzte er in seinem Haus. Seither plagten ihn furchtbare Schmerzen. Er hat sich von diesem Sturz nicht mehr erholt. Am 22. August ist Theo Sommer im Alter von 92 Jahren gestorben.