Mit „Dark Glasses“ hat Dario Argento vielleicht nicht unbedingt den besten Film seiner letzten 25 Jahre gedreht – ziemlich sicher aber den interessantesten. Um zu relativieren: was wenig zählt, angesichts dessen, dass die enthusiastische Verehrung, die dem italienischen Regisseur sowohl im klassischen Nerd-Fantum als auch in Teilen zumindest der cinephilen Filmbranche zuteil wird, ist – hier jedenfalls –  melodramatisch grundiert.

Was hat der Mann in den Siebzigern und teils noch in den Achtzigern nicht für – rückblickend entdeckte – völlig irrsinnige Filme gedreht, nur um in der Gegenwart eine Enttäuschung nach der anderen hinzulegen. Ob diese Gegenwart seit Mitte der Achtziger oder Mitte der Neunziger anhält, ist eine Glaubensfrage. Der Meister, lautet der (fast) einhellige Konsens, hat es einfach schon lange nicht mehr drauf. Angesichts der Ödnis seines bislang letzten Film, „Dracula 3D“ von 2012, kein allzu hartes Urteil.

„Dark Glasses“ wirkt rein äußerlich wie ein Versöhnungsangebot: Versprochen wird ein lupenreiner Giallo – „Giallo“, das muss man vielleicht noch erwähnen, ist das italienische Wort für „gelb“ und ein Synonym für Krimi-Stoffe aller Art, benannt nach den gelben Einbänden, in denen einschlägige Literatur im italienischen Buchhandel lange Zeit markiert war. Geht es allerdings um Filme, bezeichnet das Wort zumindest im Ausland (in Italien selbst sagt man dazu eher „Giallo All’Italiana“) ein spezifisch italienisches Phänomen: (sexual-)psychologisch aufgeladene Serienkiller-Thriller, die die Spektakel-Logik der Duschmordszene in Alfred Hitchcocks „Psycho“ aufgreifen und unter den Bedingungen der Fließbandproduktion des italienischen Genrekinos jener Jahre einen sehr eigenen Ästhetizismus entwickelten – schöner morden! Oder wenigstens: stylish morden! Nicht zuletzt aus dem Sud der immens populären deutschen Edgar-Wallace-Filme entstand in den 60ern und 70ern ein eigensinniger Trivialfilmzusammenhang, den Dario Argento mit Filmen wie „Vier Fliegen auf grauem Samt“ (1971), „Profondo Rosso“ (1975) und „Suspiria“ (1977) – ob der Hexenfilm dem Giallo oder dem Horrorfilm zuzuordnen ist, darüber streiten die Gelehrten – zur eigenen Kunstform in Gestalt eines manisch aus allen Rohren feuernden „total cinema“ erhob. Wer einmal einen Argento-Film aus dieser ekstatischen Phase von 35mm im Kino erlebt hat, vergisst diese Erfahrung nicht.


Nun also „Dark Glasses“. Nach einer Phase, in der es so aussah, als würde Argento sich in seinem Alterwerk im romantischen Ursprung des Horrorkinos einrichten würde – der schon erwähnte „Dracula 3D“, eine mit Iggy Pop geplante Umsetzung von E.T.A. Hoffmanns „Der Sandmann“ materialisierte sich trotz erfolgreicher Crowdfunding-Kampagne nicht -, widmet sich Argento wieder der eiskalten Urbanität der Gegenwart. Das erste Bild des Films – Rom. Nicht das touristische Rom der Postkarten, sondern das der Vororte, der Plattenbauten, der kalten Nüchternheit. Aber auch ein entrücktes Rom: Auf den Balkonen, auf den Straßen rücken die Menschen zusammen, blicken erstaunt in den Himmel – was wiederum die Prostituierte Diana (Ilenia Pastorelli) so sehr erstaunt, dass sie aus ihrem Wagen steigt und und selbst in den Himmel blickt: eine Sonnenfinsternis im Vollzug, die wie der Querschnitt eines Augapfels wirkt.

Was wiederum Dianas ungeschützte Augäpfel beschädigt – so wie die Welt um sie ins Dunkle stürzt, verdunkelt sich auch ihre Welt. Eine Art schicksalshafte Vorahnung, denn nur wenig später wird die erst halbblinde Diana vollends erblinden – nachdem ein Prostituiertenmörder sie in einer Verfolgungsjagd einmal quer durch die Stadt und in einen Unfall treibt. Das Drehbuch des Films stammt angeblich von 2002 – inwiefern der Ursprung des Stoffs im Tod von Prinzessin Di lag, der damals noch frisch im Gedächtnis war, ist nicht überliefert. Wundern würde es nicht.

In diesem traumwandlerisch-entrückten, kalt digital gefilmten Beginn ist Argentos Film ganz bei sich. Auch der Fokus auf sinnliche Wahrnehmung ist typisch Argento – zahlreiche seiner Filme spielen mit dem Motiv eines beeinträchtigten („Die neunschwänzige Katze“, 1970), eines erweiterten („Profondo Rosso“, 1975, aber auch „Phenomena“, 1985) oder attacktierten Sinnesapparats („Opera“, 1987) oder offenbaren in ihrem Clou, wie trügerisch die eigene Wahrnehmung sein kann (erneut „Profondo Rosso“). „The Stendhal Syndrom“ (1996) handelt dann von der manischen Raserei, die Menschen entwickeln, die den Reizen von Kunstwerken ohne schützende Filter ausgesetzt sind. Und zumindest erwähnt sei der blinde Klavierspieler in „Suspiria“, der Argento selbst so ähnlich sieht, dass ich die Figur bei der Erstsichtung des Films zunächst für ein Cameo des Regisseurs hielt. Ein Alter Ego? Klar ist jedenfalls: Die Sache mit den Sinnen treibt Argento um.

Was diesem Prolog folgt, könnte man als Skelettierung des Giallos bezeichnen: Ein Prostituiertenmörder treibt sein Unwesen, hetzt Diana in die Blindheit und hat fortan gesteigertes Interesse daran, sie auch aus dem Leben zu treiben. Ermittlerfiguren, die im Giallo-Kino ohnehin dazu neigen, sinnlos im Film herum zu stehen, sind hier reine Staffage und so spärlich eingesetzt, wie es in einem Kriminalstoff gerade so möglich ist, auf dass keine verwunderten Fragen aufkommen. Der Fokus liegt auf Diana – zunächst, wie sie sich umständlich an ihre neuen Lebensumstände adaptiert (Asia Argento, Darios Tochter, gibt den Life Coach), dann, wie sie zu dem aus China stammenden Jungen Chin (Andrea Zhang) eine freundschaftliche Beziehung aufbaut. Chin verlor seine Familie bei dem Unfall, bei dem Diana ihr Augenlicht verlor – eine Schicksalsgemeinschaft. Der Prostituiertenmörder hingegen ist das personifizierte Böse – psychologische Erklärungen habe Argento nie interessiert. Die Welt verdunkelt sich, das Böse existiert und ist man diesem einmal ausgesetzt, ist die Lage bis aufs Messer existenziell – das in etwa mag das Statement sein, das Argento verfolgt.


So besteht der Film gerade in seiner zweiten Hälfte weitgehend aus einer nächtlichen Hetzjagd – wie sich die Welt um Diana im Zuge ihrer Erblindung auf sie selbst zusammenschnürt, bleibt auch der Film im wesentlichen bei ihr. Vielleicht sind Argentos Filme, denen man oft Misogynie vorgeworfen hat, auch deshalb auffallend häufig bei Frauen populär, populärer jedenfalls als die meisten Filme, die dem cinephilen Horrorkanon entspringen: weil sie die Gefährlichkeit einer Welt, die für Frauen nicht eingerichtet ist, auf eine Weise in den sinnlich erfahrbaren Kinoraum holen, die dem Kino gewöhnlich fremd ist – und vielleicht auch, weil sich der männliche Teil des Publikums so mit dieser Perspektive identifizieren kann. Anders als im US-Slasherfilm, der zum Italo-Giallo ein loses Verhältnis unterhält, sind die Killer bei Argento keine fetischisierbaren coolen Identifikationsfiguren, die unsympathische Vollidioten aus der Welt subtrahieren. Sie stehen für die reale Bedrohung verletzlicher Körper.

Im September wird Dario Argento 82. Ist „Dark Glasses“ eine Art Bilanz, vielleicht eine Art Resümee? Der Eindruck drängt sich auf. Zwar lässt sich in Argentos Filmen immer wieder Selbstbezügliches finden (nach seinen Farbfilmexzessen von „Profondo Rosso“ bis „Inferno“ drehte er mit „Tenebre“ 1982 einen Film, in dem die Farbe Weiß das Geschehen dominiert – und das in einem Film, der wortwörtlich „Finsternis“ heißt). Aber in so hoher Frequenz hat man die Anspielungen auf den eigenen Werkfundus noch nicht erlebt: Was beim Motiv der beeinträchtigten Sinneswahrnehmung beginnt, setzt sich fort in der Freilegung des Plots aufs Wesentliche – man könnte sagen: die Argento-Essenz. Weiterhin klingt diese Ebene schon im Titel an – wenn es im Kino einen Auteur der Spiegel- und Glasflächen gibt, dann ist das sicher Argento – und hört bei den zahlreichen im Film eingestreuten Bild- und Selbstzitaten für die Kenner noch längst nicht auf.

Alles gut also? Naja, nicht ganz. „Dark Glasses“ hat sichtlich die Ambition, am Ende des eigenen Werks eine Art Schlusspunkt zu setzen, eine Art Argento pur. In der einen oder anderen (buchstäblichen) Spitze gelingt dies auch. Was dabei aber unfreiwillig ebenfalls gelingt, ist eine Art Kommentar zur Krise des Genrekinos der Gegenwart: „Dark Glasses“ krankt sichtlich an budgetbedingten Einschränkungen und auch an der einen oder anderen Begrenztheit der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Ilenia Pastorelli wird man künftig als interessante Schauspielerin eher nicht auf dem Zettel haben. Der Billo-Bumsbuden-Techno, in den Arnaud Rebotinis Musik regelmäßig abgleitet, wirkt nicht selten wie eine grotesk fehlgeleitete, vielleicht sogar willkürlich getroffene oder schlicht einem zu strikten Zeitmanagement geschuldete Entscheidung. Szenen, in denen es um das Verhältnis zwischen Chin und Diana geht, wirken bestenfalls niedlich. Wie überhaupt vieles zusammengeschustert und aneinandergeklatscht wirkt – oder als Entscheidung nicht nachvollziehbar: Warum muss es ein chinesischer Junge sein? Wieso zitiert die nächtliche Verfolgungsjagd mit einem Mal Charles Laughtons „Night of the Hunter“? Auch der Showndown wirkt antiklimatisch, rumms, aus isses. War was? Die allerletzte Szene markiert dann eine Emotionalität, die den Film kaum bündelt und wie ein ungelenk angeheftetes Rührstück in Ein-Minuten-Länge wirkt. Hä?

Argento kann zwar hervorragende Szenen, aber nicht gut erzählen – den Satz hört man auch unter eingefleischten Argento-Fans ziemlich oft. „Dark Glasses“ bebildert diese Einschätzung anschaulich: Aufblitzende Momente des Irrsinns – im Rahmen dessen, was das schmale Budget hergibt – stehen neben käsig sinnentlerten, stümperhaft an die Wand geworfenen Momenten. Eine Ruine der Ambitionen. Aber wenn es Argento mit „Dark Glasses“ tatsächlich darum gegangen ist, sein eigenes, immerhin 52 Jahre umfassendes Regiewerk zu perspektivieren – dann passt auch das.

Dark Glasses – Italien 2022 – OT: Occhiali neri – Regie: Dario Argento – Darsteller: Ilenia Pastorelli, Asia Argento, Andrea Gherpelli, Mario Pirrello, Maria Rosaria Russo, Gennaro Iaccarino, Andrea Zhang – Laufzeit: 86 Minuten.

Juni 2022 | Allgemein, Essay, Feuilleton, Film | Kommentieren