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1932 erschien (Jetzt bei Fischer) eines der größten utopischen Bücher des 20. Jahrhunderts: ein heimtückisch verführerischer Aufriss unserer Zukunft
Laßt uns mal denken, dass jetzt ausnahmsweise kurz mal keinem etwas genuin Behämmertes einfällt, und schon ist es wieder so weit: Der Schulbezirk von McMinn County im US-Bundesstaat Tennessee hat Art Spiegelmans weltberühmten Comic „Maus“ über das Schicksal eines jüdischen Ehepaars während der NS-Zeit aus dem Lehrplan der achten Klasse gestrichen.
Mike Cochran, Mitglied des Schulausschusses, hält „Maus“ für ein Mittel der „Indoktrination“ und begründete die Streichung mit den Worten:
„Wir brauchen dieses Zeug nicht, um Kindern Geschichte beizubringen.“ Ausschuss-Mitglied Tony Allman sagte: „Es werden erhängte Menschen gezeigt, und Menschen, die Kinder umbringen. Warum wird „dieses Zeug“ gefördert? Es ist nicht weise und nicht gesund.“
Laut Protokoll störte sich der Ausschuss an „grober und anstößiger Sprache“ im Comic, etwa dem Wort „bitch“. Zudem sei ein Suizid zu „verstörend dargestellt für 13-Jährige Kinder“.
Das war und ist kein Ausnahmefall: Im Namen „der Kinder“ und der „Freiheit“ der Eltern werden in den USA von Konservativen immer mehr Bücher aus Bibliotheken oder von Leselisten verbannt. Zehn repräsentative Beispiele:
Maus (1980)
Die Graphic Novel, in der Art Spiegelman die Erlebnisse seiner Eltern während der Schoah und den Selbstmord seiner Mutter verhandelt, gilt in den USA als Standardwerk, um junge Menschen über den Holocaust aufzuklären. In Form einer Fabel zeichnet Spiegelman die Nationalsozialisten als anthropomorphe Katzen, die Juden als Mäuse. Spiegelman wurde als erster und bislang einziger Comiczeichner mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Im Januar 2022 beschloss die Schulbehörde von McMinn County, Tennessee, „Maus“ aus dem Lehrplan der achten Klassen zu streichen. Als Begründung werden „die unnötige Verwendung von Profanitäten und Nacktheit“ sowie die Darstellung des Selbstmords von Spiegelmans Mutter aufgeführt. Ein Mitglied des School Boards bezeichnete den Inhalt als „vulgär und unangebracht“ und nannte als Beispiele die Worte „bitch“ und „god damn“. Die Entscheidung hat einen unbeabsichtigten Nebeneffekt: „Maus“ klettert mehr als 40 Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes wieder an die Spitze der Bestsellerlisten.
Harper Lees Roman über den Anwalt Atticus Finch, der in den Südstaaten der Dreißigerjahre die Verteidigung des wegen Vergewaltigung angeklagten Schwarzen Tom Robinson übernimmt, zählt längst zu den modernen Klassikern der amerikanischen Literatur. Wegen Finchs Darstellung als „White Saviour“ und der Verwendung des N-Wortes entfernte die Schulbehörde von Burbank, Kalifornien, den Roman im September 2020 gemeinsam mit einigen anderen Büchern vorläufig von der Liste der Pflichtlektüren. Als das Komitee keine einstimmige Entscheidung treffen konnte, beschloss man, „Wer die Nachtigall stört“ in den Büchereien zu belassen. Schüler haben prinzipiell Zugriff darauf, müssen es jedoch nicht mehr verpflichtend im Unterricht behandeln. Zusätzlich fasste das Komitee einen Beschluss, der den Gebrauch des N-Wortes, ungeachtet des Kontextes, verbietet. Zudem sollen die Leselisten regelmäßig aktualisiert werden, um Werke von Schwarzen und indigenen Autoren aufzunehmen. In zwei weiteren Bundesstaaten entfernten Schulbehörden „Wer die Nachtigall stört“ aus Klassenzimmern und Bibliotheken.
Heather Has Two Mommies (1989)
Das Kinderbuch von Lesléa Newman erzählt die Geschichte von Heather, die bei dem lesbischen Paar Jane und Kate aufwächst. Das Bilderbuch erklärt kindgerecht verschiedene Familienmodelle. Der Pennridge Schulbezirk in Pennsylvania entfernte „Heather Has Two Mommies“ im Dezember 2021 aus seinen Grundschulbüchereien, nachdem er im August bereits alle Diversity- und Inklusionsinitiativen eingestellt hatte. In einer E-Mail wurden die Grundschulen aufgefordert, „Bücher mit Inhalten zur Geschlechtsidentität zu entfernen“, um sie auf „sensible Themen wie vulgäre Sprache, Gewalt, Geschlechtsidentität oder sexuelle Inhalte“ zu überprüfen. Eine neue Richtlinie legt zudem den Umgang der Schulen mit LGBTQ-Themen fest, beispielsweise den Wechsel von Namen und Pronomen. Für die Grundschulen steht dort: „Wir diskutieren oder benutzen keine Begriffe, die mit LGBTQ zu tun haben.“
Gender Queer: A Memoir (2019)
Die autobiographische Graphic Novel erzählt die Geschichte der Autorin Maia Kobabe auf ihrem Weg zur Nichtbinarität. An einem Punkt stellt die Erzählerin fest: „Ich will kein Mädchen sein, aber auch kein Junge. Ich will einfach Ich sein.“ PEN America nennt in den vergangenen zehn Monaten 29 Fälle, unter anderem in Texas und Florida, in denen das Buch aus öffentlichen oder Schulbibliotheken entfernt wurde. Damit ist „Gender Queer“ das am häufigsten beanstandete Buch im Jahr 2021. In zwei Fällen versuchten Eltern erfolglos, die Schulen wegen der Verbreitung von „pornographischem Material und Pädophilie“ strafrechtlich verfolgen zu lassen. Nachdem die rechtskonservative Aktivistinnengruppe „Moms for Liberty“ das Buch in Orange County, Florida, zunächst erfolgreich wegen „obszöner und sexueller Inhalte“ hatte entfernen lassen, beschloss die Schulbehörde im Februar 2022 einstimmig, „Gender Queer“ und zwei weitere Bücher, die sich mit Homosexualität und Rassismus befassen, wieder in die Bibliotheken aufzunehmen.
The Hate U Give (2017)
Der Roman erzählt die Geschichte der afroamerikanischen Schülerin Starr, deren bester Freund Khalil von einem weißen Polizisten erschossen wird. Die Autorin Angie Thomas, die für das Buch den Coretta Scott King Award erhielt, verarbeitet darin ihre Kindheit, in der sie Zeugin einer Schießerei wurde. Seit Juli 2021 wurde das Buch in mindestens neun Fällen aus Schulbibliotheken entfernt, in drei Fällen dauerhaft. Im DuBois Schulbezirk in Pennsylvania kann „The Hate U Give“ nur noch ausgeliehen werden, wenn eine Erlaubnis der Eltern vorliegt. Die American Library Association führt „The Hate U Give“ im Jahr 2021 in einer Liste als eines der zehn am häufigsten angegriffenen Bücher, unter anderem wegen „polizeifeindlicher Rhetorik“, der Erwähnung von Drogenkonsum und Flüchen.
All Boys Aren’t Blue: A Memoir-Manifesto (2020)
George M. Johnson schildert sein eigenes Erwachsenwerden. Dabei beschreibt er detailliert auch Erfahrungen mit Rassismus und die Suche nach seiner Identität und Sexualität. Das Buch richtet sich an junge Erwachsene, die Erzählung reicht von der Kindheit bis in die Collegezeit. Seit Juli 2021 wurde „All Boys Aren’t Blue“ in mindestens 21 Fällen aus (Schul-)Bibliotheken entweder vollständig oder für eine Überprüfung entfernt. In Flagler County, Florida, forderte ein Mitglied der Schulbehörde im November 2021 strafrechtliche Konsequenzen für die „Verbreitung von Pornographie an Kindern“ und nannte das Buch ein „Verbrechen“, in dem „Masturbation, Oralsex und Sodomie“ dargestellt würden. Das Sheriff’s Office überwies die Entscheidung zurück an die Schulbehörde, die das Buch als „altersangemessen“ einstufte, aber dennoch aus den Biliotheken entfernen ließ.
Sea Horse: The Shyest Fish in the Sea (2006)
Das illustrierte Kinderbuch von Chris Butterworth handelt – wie der Titel erkennen lässt – von Seepferdchen. Es enthält Illustrationen verschiedener Arten, erklärt, wie Seepferdchen sich fortbewegen, sich verstecken und sich fortpflanzen. Letzteres führte im Juni 2021 in Williamson County, Tennessee, zu einer Beschwerde durch die rechtskonservative Aktivistinnengruppe „Moms for Liberty“. Bei einer Versammlung der Schulbehörde hielt eine Aktivistin ein Plakat mit Illustrationen aus dem Buch in die Luft, während eine weitere Aktivistin beklagte, dass die Erstklässler in Williamson County nicht alt genug seien, um etwas über „Seepferdchen-Sexpositionen“ zu lernen. In den sozialen Medien attackierte die Gruppierung das Buch wegen seiner Erwähnung von Gender-Fluidität. Es sei der Versuch einer „genderverrückten, transbesessenen“ Minderheit, Kinder zu indoktrinieren und die Schwangerschaft von Männern zu normalisieren. Aufgrund der Beschwerde darf das Buch in Williamson County zwar noch vorgelesen, die Seiten 12 und 13, auf denen die Paarung von Seepferdchen zu sehen ist, dürfen aber nicht mehr gezeigt werden.
Out of Darkness (2015)
Der historische Roman von Ashley Hope Pérez erzählt die Geschichte der beiden Teenager Naomi und Wash. Pérez verwebt die Liebesgeschichte mit den realen Ereignissen einer Gasexplosion an der Schule von New London im Jahre 1937, für die ein fiktionaler Charakter namens Wash verantwortlich gemacht wird. Kritiken loben den Roman vor allem für seine sensible Darstellung von Segregation, häuslicher Gewalt und Rassismus. Seit Juli 2021 wurde „Out of Darkness“ in mindestens 16 Fällen aus Schulen und Bibliotheken entfernt, davon neun Mal dauerhaft. Die Beschwerden richteten sich zumeist gegen „pornographische“ Inhalte. Eine Mutter in Lake Travis, Texas, las während eines Meetings der Schulbehörde einzelne Passagen des Buches vor und beschuldigte die Schulen, Kindern Anleitungen für Analsex zur Verfügung zu stellen, ehe ihr Mikrofon abgestellt wurde. Der Leiter der Schulbehörde von Washington County, Utah, gab als Grund für das Verbot an, das Buch habe ihn beim Lesen „deprimiert“.
Dear Martin (2017)
Der Roman der Autorin Nic Stone entstand als Reaktion auf rassistische Polizeigewalt und die Ermordung Michael Browns durch einen weißen Polizisten. Er erzählt die Geschichte des jungen Afroamerikaners Justyce McAllister, der selbst Opfer von rassistischer Diskriminierung durch einen Polizisten wird. Justyce beginnt daraufhin, Briefe an Dr. Martin Luther King zu schreiben, in denen er seine Erlebnisse verarbeitet. PEN America nennt vier Fälle, in denen „Dear Martin“ aus Bibliotheken entfernt wurde. In Saint Cloud, Minnesota, sollte „Dear Martin“ eigentlich im vergangenen Januar den Literaturklassiker „Wer die Nachtigall stört“ auf dem Lehrplan ersetzen. Eltern kritisierten jedoch das Vorhaben unter anderem wegen der „einseitigen Darstellung von Polizeigewalt“ und der „Normalisierung von sexualisiertem Verhalten“. Statt „Dear Martin“ aus dem Curriculum zu streichen, können Schüler nun alternativ einen weiteren Klassiker lesen: „Fahrenheit 451“ von Ray Bradbury.
The Bluest Eye (1970)
Der Debütroman der Nobelpreisgewinnerin Toni Morrison erzählt mit autobiographischen Anteilen die Geschichte des schwarzen Mädchens Pecola, das in den Vierzigerjahren in Ohio bei Pflegeeltern aufwächst, nachdem ihr Vater betrunken das Haus der Familie in Brand gesetzt hat. Der Roman enthält Darstellungen häuslicher und explizit sexueller Gewalt, etwa wenn Pecolas Vater sie betrunken vergewaltigt. Die titelgebenden blauen Augen entstammen Pecolas Wunsch, dem Schönheitsideal ihrer mehrheitlich weißen Mitmenschen zu entsprechen. Bereits seit seinem ersten Erscheinen 1970 ist „The Bluest Eye“ (auf Deutsch „Sehr blaue Augen“) Gegenstand von Protesten und Verbotsdebatten. PEN America listet allein für die vergangenen zehn Monate zwölf Fälle auf, in denen das Buch ganz oder zeitweise aus Büchereien entfernt wurde. Der Wentzville School District in Missouri hat den Roman erst im Januar dieses Jahres aus seinen Büchereien entfernen lassen. Nachdem zwei Schüler gemeinsam mit der Bürgerrechtsorganisation ACLU Klage gegen den Schuldistrikt eingereicht hatten, wurde die Entscheidung revidiert. Sechs weitere Titel, die gemeinsam mit „The Bluest Eye“ entfernt wurden, sind jedoch bis heute nicht wieder verfügbar.