Die russischen Soldaten sollen in den eroberten Gebieten plündern, morden und gezielt Politiker, Journalisten und Aktivisten verschleppen, um die Bevölkerung einzuschüchtern

Entführungen, Vergewaltigungen und die Deportation von Zivilisten: Den russischen Besatzern werden von der Ukraine schwere Verstösse gegen das Völkerrecht vorgeworfen. Doch auch auf ukrainischer Seite gibt es Hinweise auf Kriegsverbrechen- Die Russen kamen am frühen Morgen, umstellten das Haus und drangen dann in die Wohnung von Oleksandr Kniga ein. Mit vorgehaltener Waffe wurde der Direktor des Theaters von Cherson zum Auto gebracht und mit verbundenen Augen zum Verhör in ein Behördengebäude gefahren. Russische Geheimdienstoffiziere hätten ihn zu den Protesten gegen die Besatzung befragt, die es seit Wochen in der okkupierten südukrainischen Stadt gegeben habe, berichtete Kniga später lokalen Medien. Sie glaubten offenbar, dass er zu den Organisatoren gehört.

Der Theaterdirektor, der auch Vorsitzender einer lokalen Partei und Mitglied des örtlichen Regionalrats ist, hatte Glück und wurde noch am Tag seiner Verschleppung vergangene Woche freigelassen. Andere hat es härter getroffen: Von Dutzenden ukrainischen Bürgermeistern, Journalistinnen, Priestern und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft in den besetzten Gebieten fehlt jede Spur. Es wird angenommen, dass sie in der Gewalt des russischen Geheimdiensts sind.

Die Regierung in Kiew wirft den Russen vor, ein Terrorregime in den eroberten Gebieten zu errichten. Nach der Entführung des Bürgermeisters von Melitopol Mitte März warf der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski Moskau einen Verstoss gegen die Genfer Konventionen vor, die es verbieten, im Krieg zivile Geiseln zu nehmen. Der Bürgermeister Iwan Federow hatte sich geweigert, nach der Einnahme von Melitopol mit den Besatzern zu kooperieren.

Die USA hatten schon im Februar davor gewarnt, dass Moskau eine «kill list» mit gesuchten Personen vorbereitet habe. Die ukrainische Aktivistengruppe Euromaidan SOS veröffentlichte am Samstag die Namen von 36 Personen, die von den Russen verschleppt worden seien. Vermutlich gibt es noch deutlich mehr Fälle. Die Gruppe erinnert daran, dass auch in den «Volksrepubliken» im Donbass seit 2014 Gegner der prorussischen Separatisten bedroht, entführt und ermordet worden seien, um den Widerstand der Bevölkerung zu brechen.

Entführungen sollen die Bevölkerung einschüchtern

Anders als auf der Krim im Februar 2014 sind ukrainische Lokalpolitiker dieses Mal kaum zur Zusammenarbeit bereit, wie der ukrainische Analyst Mattia Nelles bemerkt. Damals hatten auf der ukrainischen Halbinsel viele Bürgermeister rasch eingewilligt, mit den russischen Besatzern zu kooperieren. Auch in anderen Gebieten im Osten der Ukraine sympathisierten damals viele gewählte Politiker und Vertreter der Behörden mit Russland oder verhielten sich abwartend.

Nach der Besetzung der Krim hofften die Russen offenbar, auch im Rest der Ukraine auf wenig Widerstand zu treffen. Stattdessen stiessen sie auf breite Ablehnung.

Nach der Besetzung der Krim hofften die Russen offenbar, auch im Rest der Ukraine auf wenig Widerstand zu treffen. Stattdessen stiessen sie auf breite Ablehnung.

Heute dagegen stossen die russischen Truppen praktisch überall auf Ablehnung. In besetzten Städten wie Cherson und Melitopol gab es über Tage Proteste von Bürgern gegen die Besetzung. Erst der Einsatz von Tränengas, Schlagstöcken oder scharfer Munition beendete die Demonstrationen. Mit der Entführung von Bürgermeistern und anderen Persönlichkeiten hoffen die Russen offenbar, die Bevölkerung einzuschüchtern und den Widerstand zu brechen.

Die Russen versuchen in besetzten Städten, ukrainische Lokalpolitiker als neue Bürgermeister einzusetzen, doch stossen diese meist auf Ablehnung. Vielerorts scheint Gesetzlosigkeit zu herrschen. So gibt es Berichte über die Plünderung von Geschäften durch russische Soldaten. Auch gibt es Vorwürfe, diese würden ukrainische Frauen vergewaltigen. Eine ukrainische Abgeordnete berichtete von einem Fall nahe Kiew, bei dem die Soldaten erst einen Mann erschossen und dann seine Frau vor den Augen ihres Kindes vergewaltigt hätten.

Tausende Zivilisten nach Russland deportiert

Für Aufsehen sorgen auch Berichte, die russische Armee habe Zehntausende von Zivilisten aus umkämpften Städten wie Mariupol nach Russland deportiert. Die ukrainische Regierung warf Moskau vergangene Woche vor, 6000 Personen aus der belagerten Hafenstadt in «Filtrationslager» verschleppt zu haben, um sie als Geiseln zu benutzen. Zugleich würden die Russen humanitäre Konvois blockieren oder beschiessen, um zu verhindern, dass die Zivilisten aus der Stadt in ukrainisch kontrollierte Gebiete flöhen.

Nach Darstellung Kiews werden die Zivilisten zunächst in die südrussische Stadt Taganrog gebracht, bevor sie auf entferntere Orte verteilt werden, wo sie zur Zwangsarbeit gezwungen werden. Verschleppte Zivilisten sagten, sie hätten nicht nach Russland gehen wollen, doch sei ihnen keine Wahl gelassen worden. So berichtete eine ukrainische Autorin, wie sie mit ihrer Familie aus einem Luftschutzkeller in Mariupol geholt und nach Taganrog deportiert wurde.

Noch immer sollen 170 000 Zivilisten in Mariupol feststecken, da die Russen immer wieder Konvois aus der umkämpften Hafenstadt stoppen oder attackieren.

Noch immer sollen 170 000 Zivilisten in Mariupol feststecken, da die Russen immer wieder Konvois aus der umkämpften Hafenstadt stoppen oder attackieren.

Die Verschleppung von Zivilisten in fremdes Gebiet ist ein Verstoss gegen das Völkerrecht. Ob alle Deportationen unter Zwang erfolgten, ist aber unklar. Es ist auch denkbar, dass sich Zivilisten in von Russland besetzten Vierteln Mariupols dafür entschieden, die zerbombte Stadt, die seit Wochen ohne Strom, Trinkwasser und frische Nahrung ist, in Richtung Russland zu verlassen. Wer um sein Leben fürchten muss, kann nicht wählerisch sein.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) wies derweil Berichte zurück, wonach es sich an den Deportationen nach Russland beteiligt. Der IKRK-Generaldirektor Robert Mardini sprach von einer gezielten Kampagne zur Diskreditierung seiner Organisation in der Ukraine und in Russland. Mardini betonte, das IKRK werde sich niemals an einer Operation beteiligen, die Zivilisten zu etwas zwinge. Das IKRK wies auch Behauptungen zurück, es wolle in der südrussischen Stadt Rostow am Don ein Flüchtlingszentrum aufbauen.

Gezielte Schüsse in die Beine

Während die Berichte über Entführungen, Vergewaltigungen und Morde in den besetzten Gebieten bei den Ukrainern für Schrecken sorgten, gab es auch auf ukrainischer Seite Hinweise auf Kriegsverbrechen. So tauchte am Sonntag ein Video in den sozialen Netzwerken auf, das die brutale Misshandlung gefangener Russen durch ukrainische Soldaten zu zeigen scheint. Zwar wurden sogleich Vorwürfe laut, die Russen hätten das Video selbst fabriziert, um die Ukrainer anzuschwärzen. Doch gab es keinen Beleg dafür, dass die Szene gestellt ist.

Diese Screenshots aus dem Video zeigen, wie ukrainische Soldaten gefesselte und verletzte russische Gefangene am Boden befragen und mit Schlägen und Tritten traktieren.

Auch die NZZ hat das Video verifiziert und ist zu dem Schluss gekommen, dass es wahrscheinlich am Freitag oder Samstag auf dem Gelände einer Molkerei in der Nähe von Charkiw im Osten der Ukraine aufgenommen wurde. Es zeigt, wie mehrere am Boden liegende und verletzte russische Soldaten befragt und geschlagen werden. Sodann ist zu sehen, wie drei gefesselte Russen aus einem Kleinbus steigen und die Ukrainer ihnen nacheinander in die Beine schiessen.

Die Stiefel eines russischen Soldaten stehen vor einem Fahrzeug, das den Ukrainern in die Hände gefallen ist. Nicht alle gefangenen Russen werden gut behandelt.

Die Stiefel eines russischen Soldaten stehen vor einem Fahrzeug, das den Ukrainern in die Hände gefallen ist. Nicht alle gefangenen Russen werden gut behandelt.

Ein Berater von Präsident Selenski kündigte an, Ermittlungen einzuleiten. Er erinnerte die eigenen Soldaten daran, dass jede Misshandlung von Gefangenen ein Kriegsverbrechen sei. Schon früher hatte es Kritik am Umgang der Ukraine mit Gefangenen gegeben. Diese wurden öffentlich vorgeführt und misshandelt. Auch publiziert die Regierung im Internet Fotos gefangener oder getöteter Soldaten. Sie will damit die russische Öffentlichkeit aufrütteln und Moskaus Propaganda unterlaufen. Ein Verstoss gegen das Völkerrecht ist es dennoch.

Apr. 2022 | Allgemein, Essay, In vino veritas, Sapere aude, Zeitgeschehen | Kommentieren