Aber – schauen wir mal auf die NATO-Osterweiterung – Was Wunder dass ein alter Streit neu entflammt:
BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher machte seine Position dazu im Januar 1990 bei einer Rede in Tutzing klar: „Sache der NATO ist es zu erklären, was immer im Warschauer Pakt geschieht – eine Ausdehnung des NATO-Territoriums nach Osten, das heißt näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, wird es n i c h t geben. Diese Sicherheitsgarantien sind für die Sowjetunion und ganz bestimmt für ihr künftiges Verhalten von elementarer Bedeutung. Der Westen muss auch der Ansicht Rechnung tragen, dass der Wandel in Ost-Europa und der deutsche Vereinigungsprozess nicht zu einer Beeinträchtigung der sowjetischen Sicherheitsinteressen führen darf.“
„Weg von der Konfrontation hin zur Kooperation“
Nur wenige Tage später äußerte sich Genscher an der Seite von US-Außenminister Baker nochmal ähnlich. Die beiden waren nicht die Einzigen, die 1990 Signale der Entspannung gen Moskau gesendet haben. Man wolle „weg von der Konfrontation hin zur Kooperation mit allen Staaten in Europa und insbesondere mit der Sowjetunion“, sagte NATO-Generalsekretär Manfred Wörner auf der NATO-Frühjahrstagung im Juni 1990.
Wortbruch (nicht nur) aus russischer Sicht
Aussagen wie diese spielen in der aktuellen Krise wieder eine zentrale Bedeutung. Denn auf sie berufen sich russische Politiker – allen voran Wladimir Putin – wenn sie von westlichen Sicherheitsgarantien reden. Ihrer Auffassung nach ist die Osterweiterung der NATO deshalb
vor allem eines: Ein Wortbruch.
Im transatlantischen Bündnis ist – was Wunder – die Lesart eine andere. Zwei der Kernargumente hier lauten: Politiker wie Genscher hätten zwar für sich, vielleicht auch für ihr Land sprechen können, nie aber für die NATO. Außerdem sei weder im damals ausgehandelten zwei-plus-vier-Vertrag noch in anderen Dokumenten die Rede von derartigen Garantien. Es gebe also keine schriftliche Grundlage. Zu diesem Schluss kommt unter anderem auch der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in einer Analyse.
Zwei-plus-vier-Vertrag entscheidend
Der zwei-plus-vier-Vertrag ist im Rahmen der NATO-Osterweiterungsdebatte so zentral, weil er alle außenpolitischen Aspekte der deutschen Wiedervereinigung regelt. Unter anderem sieht er vor, dass Bundeswehreinheiten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR stationiert werden dürfen. NATO-Truppen stehen damit faktisch weiter östlich als zuvor. Mit russischer Zustimmung. Weitere Aussagen zu einer möglichen Ausdehnung des Bündnisses finden sich im Vertragstext aber nicht.
Annäherung in den Neunzigern
Im weiteren Verlauf der Neunziger Jahre tauchte die Frage nach einer östlichen Ausdehnung der NATO immer wieder auf. Während der damalige US-Präsident Bill Clinton anfangs noch zögerte, sprach er sich ab 1994 für die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten aus. Innenpolitscher Druck könnte ein Grund dafür gewesen sein, mutmaßen Beobachter heute.
1994 startete die NATO das Programm „Partnerschaft für Frieden“. Mit interessierten Staaten arbeitete das Bündnis fortan militärisch zusammen. Die russische Regierung verfolgte die Entwicklungen mit Argwohn. Auf einer Chinareise 1996 kritisierte Präsident Jelzin eine Osterweiterung der NATO. Er sah in ihr ein „Vorherschafts-Streben einzelner Mächte“.
1997 kam es dann zu konkreten Absprachen: Die NATO und Russland unterzeichneten die Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit. Der vielleicht wichtigste Satz des Dokuments lautet: „Die NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner.“ Aus russischer Perspektive aber saß das Gespenst der NATO-Osterweiterung mit am Verhandlungstisch. Präsident Boris Jelzin bezeichnete diese als „Fehler“. Die Regierung sei aber zu dem Entschluss gekommen den Vertrag zu unterschreiben, um die negativen Folgen für Russland zu minimieren, so Jelzin damals.
NATO-Osterweiterung
Auf Basis der Verhandlungen wurden Polen, Ungarn und Tschechien zum Beitritt eingeladen. 1991 hatten die Staaten erstmals Interesse bekundet, 1999 wurden sie schließlich NATO-Mitglieder: Die ersten im Osten.
In östlichen NATO-Staaten dürfen der Grundakte zufolge keine Atomwaffen stationiert werden. Kampftruppen dürfen nicht auf Dauer stationiert sein.
Zwischen 2004 und 2009 folgten Bulgarien, Estland, Litauen, Rumänien, Slowenien, die Slowakei sowie Albanien und Kroatien. Insbesondere die baltischen Staaten drängten auf eine Mitgliedschaft. Das Bündnis wuchs immer weiter. 2017 kamen Montenegro und zuletzt 2020 Nord-Mazedonien dazu. Die NATO argumentiert, die Länder könnten selbst entscheiden, wem sie sie anschließen. Sie hätten angeklopft – nicht die NATO.
Putin verärgert
Von der russischen Regierung werden die Entwicklungen seit der Jahrtausendwende zunehmend kritisch gesehen. Ein Schlüsselmoment war der Auftritt Wladimir Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007. Putin machte dem Westen seine Position bereits damals unmissverständlich klar. Für ihn ist die NATO zu weit gegangen: „Wir sind berechtigt offen zu fragen: Gegen wen ist diese Erweiterung gerichtet? Und was ist aus den Zusicherungen geworden die uns unsere westlichen Partner nach der Auflösung des Warschauer Paktes gegeben haben. Wo sind sie jetzt?“