In der Fankurve angekommen: Fußballfans bei einem Spiel der zweiten Bundesliga im sächsischen Aue protestieren gegen die Corona-Maßnahmen

Diese „Freiheit“  ist fatal für die neue pandemische Situation, in der wir uns befinden. „Sensibilisieren wir uns zu Tode?“, heißt die Sendung, die an diesem Sonntagabend im Zweiten Deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurde – und an der etwas sichtbar wurde, was man in der anhaltenden Pandemie insgesamt beobachten kann: wie nämlich ein Diskurs, der die angebliche Beschneidung von Freiheit, gesellschaftliche Zwänge und selbst auferlegte Zensur beschwört, vom Milieu der Impfskeptiker und Corona-Leugner allmählich in die bürgerliche Mitte transportiert wird. Dort wird er mit philosophischer Versiertheit und mit der philosophischen Bibliothek des ganzen Abendlandes im Rücken besonders kultiviert zelebriert.

„Sensibel“ und fad

Svenja Flaßpöhler, Chefredakteurin des Philosophie Magazins, hat in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Sensibel – Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“ einen Großstadt-Mann namens Jan erfunden, gehobene Mittelklasse, verheiratet, zwei Kinder im Grundschulalter. Einer, der, als er selbst klein war, kein einziges Mal geschlagen wurde. „Auch bei seinen Kindern“, heißt es im Buch, setze er auf „die Kraft von Zuwendung und Diskurs“, nehme sich Zeit für sie, schmuse und spreche ausführlich mit ihnen. Und wenn er seiner sechsjährigen Tochter „Pippi Langstrumpf“ vorlese, lasse er das „N-Wort“ weg und sage stattdessen „Südseekönig“, damit sein Kind die Bezeichnung, mit der Schwarze Menschen jahrhundertelang herabgewürdigt wurden und immer noch werden, gar nicht erst in seinen Wortschatz übernehme.

Der Mann ist also sensibel in „Sensibel“ – der Philosoph Precht findet ihn fad: „Dieser Jan“, sagt er, „kommt in Ihrer Beschreibung so erotisch rüber wie Löschpapier. Man hat das Gefühl, er hat seinen erotischen Kern verloren. Ist das nicht alkoholfreies Bier? Geht da nicht eine Menge verloren, wenn ich nur in Schutzräumen bestimmte Verhaltensweisen ausagieren kann?“

„Kehrseite der freiheitlichen Gesellschaft“

Der Soziologe Norbert Elias, weiß die Philosophin, habe beschrieben, wie im 11. Jahrhundert die Notdurft nicht mehr im selben Raum verrichtet worden sei, in dem man auch gegessen habe – wie man das dann ausgelagert habe. Genauso lagerten wir jetzt am Arbeitsplatz die Erotik aus, um uns von Missbrauchsmöglichkeiten zu befreien. Mit guten Motiven also. „Aber ich glaube, der Schuss geht wirklich nach hinten los“, so Flaßpöhler, „denn man hat keine Lebendigkeit mehr.“ Sensibilisierung gehe mit „Regulation“ einher. „Selbstzensur“ sei die „Kehrseite der freiheitlichen Gesellschaft“; Sprache werde „neu reguliert“, das soziale Umfeld werde „reguliert“. Wir drohten in eine „gesellschaftliche Sterilität hineinzukommen“. – Die beiden hören gar nicht auf, in immer neuen Wendungen die selbst gewählte Unfreiheit zu beschwören, in die wir uns angeblich hineinbewegen oder in der wir uns ihnen zufolge bereits befinden.

Richard David Precht und Svenja Flaßpöhler sind in den vergangenen Wochen wegen verschiedener Auftritte scharf kritisiert worden. In einem Podcast mit dem Moderator Markus Lanz hatte Precht den Druck kritisiert, der auf Ungeimpfte ausgeübt werde, und sich kritisch über die Covid-19-Impfung für Kinder geäußert. Flaßpöhler wiederum war in der Talkshow „Hart aber fair“ aufgetreten und hatte dort gesagt, dass sie es – trotz eigener Impfung – falsch finde, Menschen kollektiv an den Pranger zu stellen, die aus sehr verschiedenen Gründen von ihrem Recht Gebrauch machten, sich nicht impfen zu lassen. Beide waren daraufhin von verschiedenen Medien in den Kontext von Impfskeptikern gestellt worden, wogegen sie sich in Interviews wehrten. Und tatsächlich ist die Sache so einfach nicht. Doch kam die Unterstellung nicht von ungefähr.

Gerede vom DDR-Obrigkeitsstaat

Denn was man auch jetzt in ihrem gemeinsamen Auftritt findet, ist jene polemische Behauptungskette von Freiheitsberaubung und Selbstzensur, die man seit der Corona-Pandemie vor allem im rechten Spektrum findet: in der #allesdichtmachen-Aktion, mit der Schauspielerinnen und Schauspieler sich gegen Corona-Maßnahmen wehrten; immer wieder in der Bild-Zeitung, praktisch in jedem Leitartikel des Welt-Chefredakteurs Ulf Poschardt oder den Texten seiner Chefreporterin Anna Schneider, die sich hauptberuflich Gedanken darüber macht, warum es mit der Freiheit in Deutschland nicht gut bestellt ist – die damit übrigens beide sehr brav auf den Spuren ihres Verlegers wandeln, der sich in einer SMS ja auch bereits in einem DDR-Obrigkeitsstaat wähnte (das aber natürlich nur ironisch gemeint haben will). Oder in jenem Tobsuchtsanfall, den der Künstler Jonathan Meese gerade bei einer Diskussion mit dem Philosophen Slavoj Žižek im Hegel-Haus hatte. Während des Video-Meetings schrie er außer sich: „Wir leben in einem zwangskollektivierten Staat!“

Gemeint ist hier immer eine streng individuelle Freiheit, die angeblich eingeschränkt, beschnitten oder bedroht ist. Dass die individuelle Freiheit auch da enden kann, wo sie die Freiheit anderer gefährdet, scheint nicht zu interessieren. Da der Begriff des Individuums aber nur Sinn ergibt, wenn er sich auf eine Gemeinschaft bezieht, hat sich der Verfassungsrechtler Christoph Möllers in seinem Buch „Freiheitsgrade“ vor allem für den Begriff der kollektiven Freiheit starkgemacht: Die individualliberale Sicht ist, „dass wir erst einmal frei sind und uns die Gemeinschaft dann aus irgendwelchen nützlichen Gründen einschränkt. Der Begriff der kollektiven Freiheit impliziert hingegen, dass wir uns nicht nur einschränken, sondern auch ermächtigen, Dinge zu tun, die wir alleine nicht tun könnten“, so Möllers in einem Interview in dem von Flaßpöhler geleiteten Philosophie Magazin. In der Pandemie hätte man die Möglichkeit gehabt, die Bewältigung der Krise als ein Gemeinschaftsprojekt zu verstehen, bei dem wir auch unsere Freiheit ausüben, indem wir uns einschränken. Das heiße nicht, dass der individuelle Freiheitsverlust unwichtig sei. Man müsse die Intuition, sich körperlich frei bewegen zu wollen, nicht wegrationalisieren. Trotzdem könne man sagen, dass es ein kollektives Projekt und kein autoritäres Unterfangen sei. Schließlich werde über die Maßnahmen permanent diskutiert und nachgesteuert.

Eine andere Bedeutung von Freiheit

Möllers gehört zu denen, die in der gegenwärtigen Situation der ungehemmt ansteigenden Inzidenzen eine Impfpflicht unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig halten, auch wenn sie einen Eingriff auf das verfassungsmäßig garantierte Grundrecht in die körperliche Unversehrtheit darstellt. Zu diesen Voraussetzungen gehöre, dass der Staat darlegt, dass es keine andere Möglichkeit gebe, die Pandemie effektiv zu bekämpfen. Gegen genau diese Möglichkeit einer Impfpflicht wehrte sich Svenja Flaßpöhler in der ARD-Talkshow „Hart aber fair“ jetzt mit aller Vehemenz. Sie sei absolut gegen eine Impfpflicht und auch dagegen, dass man Menschen, die von ihrem Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch machten, wegsperre wie kleine Kinder oder kriminalisiere.

Dass in der Corona-Krise eine andere Bedeutung von Freiheit aufscheine, nämlich jene, die auf Beschränkung beruht, das weiß die Philosophin natürlich, die ganze Aufsätze über die Frage geschrieben hat, ob wir Freiheit neu denken müssen. In der Talkshow, in der sie ausdrücklich von „wegsperren“ spricht, was bedrohlich nach Inhaftierung klingt, die aber von niemandem sonst diskutiert oder erwogen wird, wie auch im Fernsehgespräch mit Precht, übergeht sie diesen Aspekt aber. Und macht also vor allem Stimmung. Denn das können Precht und Flaßpöhler gerade im Zusammenspiel besonders gut.

Vieles ergibt gar keinen Sinn

Wenn man sich vom Geklingel der vielen Bildungszitate von Kant bis Richard Sennett, von Alexis de Tocqueville über Freud bis Norbert Elias und Foucault nämlich nicht ablenken lässt, ergibt sehr vieles von dem, was die beiden reden, leider gar keinen Sinn: Wer zum Beispiel hat denn gesagt, dass – wenn in Unternehmen sexuelle und systemische Abhängigkeiten von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und ihren Vorgesetzten unterbunden werden sollen – es am Arbeitsplatz keine „Erotik“ mehr gibt? Warum ist ein Mann wie Jan aus Flaßpöhlers „Sensibel“-Buch für Precht kein echter Kerl? Weil er nicht handgreiflich wird? Oder weil er nicht möglichst vulgär und ohne jede Rücksicht auf andere früher übliche Beleidigungen wiederholt? Was genau verteidigt Richard David Precht hier?

Vermutlich will er gar nicht so sehr verteidigen. Eher entsteht der Eindruck, dass es ihm nur darum geht, mit großem populistischen Impetus, aber intellektuell ausgeschmückt und mit philosophischen Begriffen unterfüttert, eine gesamtgesellschaftliche Gefahr zu beschwören, da er überall Zwänge und Regulierungen sieht, selbst wenn es sie gar nicht gibt: Erotik-Verbote, Sprach-Verbote – mit dem medizinisch konnotierten Begriff der „gesellschaftlichen Sterilität“ auch Abstandsregeln, die manche jetzt sogar schon begrüßten, weil sie froh seien, anderen nicht mehr so nahe kommen zu müssen.

Auf jeder Querdenkerdemo Mehrheitsfähig

Und so suggeriert das Gespräch zwischen Precht und Flaßpöhler fortwährend, dass uns die Freiheit abhandenzukommen droht – die Freiheit zur „Ambivalenz“, „Reibung“, „Lebendigkeit“ –, während sie da im Halbdunkel sitzen und einander nicht widersprechen, sondern auf eine fast schon bizarre Weise einer Meinung sind. Und man muss sagen: einer Meinung, die – nur nicht so schön und schlau formuliert – auf jeder „Querdenker“-Demo mehrheitsfähig wäre.

Was sie paradigmatisch vorführen, ist, wie der Diskurs vom behaupteten Freiheitsentzug durch den Staat oder der Obrigkeit angeblich willfährig dienenden und Regeln übereifrig erfüllenden Bürgerinnen und Bürgern längst das bürgerliche Lager erreicht hat. Sie tun ein bisschen so, als hielten sie gerade ein Uni-Seminar ab, streuen dabei mit raffinierter Beiläufigkeit über berechtigte Kritik hinaus aber zugleich grundsätzliche Zweifel an staatlichen Institutionen und beschädigen den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Von einer Freiheit, die sich am Kollektiv orientiert und auf Solidarität abzielt, ist man hier weit entfernt – und treibt damit selbst voran, was man als Argument gegen Maßnahmen oder eine mögliche Impfpflicht immer wieder anführt: die Spaltung der Gesellschaft.

Nov. 2021 | Allgemein, Essay, Feuilleton, Junge Rundschau, Sapere aude, Zeitgeschehen, Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch | 1 Kommentar