Diesen Winter müssen wir uns ein weiteres Mal mit den Massnahmen zur Pandemiebekämpfung beschäftigen. Viele von uns belastet dies. Was geschieht dabei in unserem Körper? Die Vorgänge in unserem Körper helfen uns, Stress zu erkennen – und dagegen anzugehen.

Wieder müssen wir uns mit Unwägbarkeiten rund um das Virus beschäftigen. Das schlägt vielen langsam auf die Psyche. Dass wir in Zeiten der Pandemie auf unsere psychische Gesundheit achten sollen, das wissen wir. Wir kennen Selbstmanagement-Strategien wie Auszeiten in der Natur, genügend Sport und Schlaf, bereichernde soziale Kontakte. Doch was, wenn das nicht genügt?

Jacqueline Frossard, Psychotherapeutin und Vorstandsmitglied der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP), sagt, in der psychotherapeutischen Praxis seien die Folgen der Pandemie klar spürbar. Vermehrt suchten Patienten unter anderem mit klassischen Stresssymptomen wie Schlaf- und Appetitstörungen, Ängstlichkeit, Unausgeglichenheit und Nervosität Rat und Hilfe beim Therapeuten.

Nervosität und Unausgeglichenheit sind klassische Symptome von chronischem Stress, also einer Anspannung, die über einen längeren Zeitraum anhält. Oft erkennen die Betroffenen ihre eigene Anspannung nicht. Erst wenn ihr Umfeld sie als gereizt wahrnimmt und schlechter Schlaf dazukommt, merken sie, dass etwas aus dem Ruder läuft. Zu den obengenannten Symptomen von chronischem Stress können auch noch körperliche Anzeichen wie häufige Erkältungen und andere Infektionen sowie Kopfschmerzen gezählt werden.

Stress-System stellt Homöostase her

Um zu verstehen, was hier geschieht, hilft ein Blick ins körpereigene Stress-System. Was mit unserem Körper bei Stress geschieht, wissen wir aus akuten Stresssituationen. Die Herzschlagfrequenz steigt, wir atmen schneller. Das hat Vorteile: Wir sind wacher und aufmerksamer, und unsere Reaktionszeit verkürzt sich. Dies geschieht dank dem Adrenalin, das unser Körper ausschüttet. Gleichzeitig werden Glucocorticoide wie Cortisol ausgeschüttet, die eine ganze Kaskade von metabolischen Veränderungen herbeiführen. Beispielsweise wird das Immunsystem in einen Alarmzustand versetzt, und sogar unsere Schmerzwahrnehmung wird reduziert. Ist die Gefahr vorbei, so stellt das Stress-System die Homöostase, also den Gleichgewichtszustand, wieder her.

Viele Stresssituationen erreichen diese subjektive Gefahrenstufe bei weitem nicht – oft wird uns die leichte Anspannung nicht wirklich bewusst. Doch die stressbedingten physiologischen Veränderungen stellen sich in unserem Körper trotzdem ein. Die Cortisol-Konzentration im Speichel oder die Variabilität des Herzschlages können dies zeigen.

Tag-und-Nacht-Rhythmus wird gestört

Hält dieser wenig wahrnehmbare Stress jedoch über längere Zeit an, kann er unser Stress-System überfordern. Unter Umständen verliert es sogar die Fähigkeit, den Gleichgewichtszustand wiederherzustellen. Besonders verheerend sind die Auswirkungen des Dauerstresses auf den Tag-und-Nacht-Rhythmus: Dieser gerät unter dem Einfluss des Cortisols durcheinander. Viele Zellen im Körper sind aber auf die Veränderungen im Takt von Tag und Nacht angewiesen. Forscher gehen davon aus, dass der Verlust des zirkadianen Rhythmus chronische Erkrankungen auslösen kann. Wie dies genau geschieht, das beginnt die Wissenschaft erst zu verstehen. Bekannt ist aber, dass das Stress-System bei chronischen Erkrankungen häufig gestört ist.

Vorläufige Schätzungen gehen davon aus, dass sogar 75 bis 90 Prozent der chronischen, nichtübertragbaren Erkrankungen durch chronischen Stress mitbeeinflusst sind. Doch wir sind diesen Erkrankungen nicht hilflos ausgeliefert. Laut Prof. Agorastos, der seit Jahren auf dem Gebiet von akutem und chronischem Stress forscht, sind Effekte von chronischem Stress mit einer Kombination von Verhaltensänderungen, Medikamenten und Psychotherapie auch teilweise rückgängig zu machen.

Grund genug also, auf Symptome von chronischem Stress bei uns selber zu achten und bewusst damit umzugehen. Bei anhaltenden körperlichen Symptomen ist in der Schweiz der Hausarzt die erste Ansprechperson. Er kann abklären, ob eine körperliche Erkrankung vorliegt. Im zweiten Schritt kann ein Psychotherapeut dabei helfen, die Ursache des chronischen Stresses zu identifizieren und Wege zu finden, diesen zu reduzieren.

Im schlimmsten Fall, wenn der Stressor nicht beseitigt werden kann, dann erarbeitet der Therapeut mit dem Patienten Strategien, um dem Körper eine Auszeit vom Stress zu gönnen. Einige davon können Betroffene auch ganz ohne Hilfe eines Therapeuten anwenden: Klare Tagesstrukturen und Sport senken nachweislich die Cortisol-Konzentration im Körper und unterstützen den zirkadianen Rhythmus. Beides gehört erwiesenermassen zu den effektivsten Mitteln, um chronischem Stress beizukommen.

 

Nov. 2021 | Gesundheit, In Arbeit | Kommentieren