Wenn es darum geht, wen diese vierte Corona-Welle am meisten trifft, ist zunächst ein Blick auf die Zahlen naheliegend: In Bayern ist die Inzidenzder Ungeimpften fast zehnmal so hoch als die der (vollständig) Geimpften, in Sachsen nahezu zwanzigmal, in Baden-Württemberg rund fünfundzwanzigmal.
Die Unterschiede sind so deutlich, dass zuletzt immer häufiger der Satz die Runde machte, wir erlebten mittlerweile eine „Pandemie der Ungeimpften“. Einerseits stimmt das, was unter anderem Jens Spahn sagt, weil Ungeimpfte eben ein weitaus höheres Infektionsrisiko haben – und auch viel öfter ins Krankenhaus oder sogar auf die Intensivstation müssen – und dort die Betten Jener belegen, die eine OP brauchten, und nun erst mal – zugunsten jener Assozialen, die verantwotungslos „Corona gibts ja gar nicht –  fröhlich Umtänd feiern …
Die Krise trifft mittlerweile nicht mehr nur Ungeimpfte
Andererseits trifft die Corona-Krise längst nicht mehr nur die rund 30 Prozent Ungeimpften. Medizinisch betrachtet liegt das daran, dass Geimpfte zwar ein deutlich geringeres Risiko haben, sich aber eben auch anstecken und das Virus weitergeben können. So zu tun, als hätten sie mit Corona gar nichts mehr zu tun, dürfte viele in falscher Sicherheit wiegen. Das ist riskant.
Richtig ärgerlich wird es, wenn man das Gerede von der „Pandemie der Ungeimpften“ gesellschaftlich analysiert: Dann handelt es sich eindeutig um einen Mythos, und zwar um den derzeit unerträglichsten Mythos.
 

Allein mehr als 15 Millionen Erwachsene, für die es seit Monaten zugelassene Produkte gibt, haben sich bislang einer Impfung verweigert. Ihre Entscheidung gegen einen höheren, eigenen Schutz ist aber auch ein Votum gegen die Solidarität. Denn aus Sicht der Impfgegner sollen sich ja die anderen jenen vermeintlichen Risiken einer Immunisierung aussetzen, die man für sich selbst nicht in Kauf nehmen will. Mit anderen Worten: Die anderen sollen die pandemische Drecksarbeit machen.

Sie müssen die Krise jetzt entschlossen bekämpfen: Die Möchtegern-Koalitionäre von SPD, Grünen und FDP. (Quelle: Mike Schmidt/imago images)
Sie müssen die Krise jetzt entschlossen bekämpfen: Die Möchtegern-Koalitionäre von SPD, Grünen und FDP
Das ließe sich notfalls noch hinnehmen, wenn es ausreichend Vernünftige gäbe, um die Herdenimmunität zu erreichen. So wie es in vielen Staaten der Fall ist. Experten des Robert Koch-Instituts hatten im Sommer ein Ziel von mindestens 85 Prozent vollständig Geimpften bei den 12- bis 59-Jährigen und von 90 Prozent bei den Senioren ab 60 Jahren ausgegeben, um eine vierte Welle zu verhindern.
Das hat nur der deutsche Impfmeister Bremen geschafft, das kleinste Bundesland. Doch selbst wenn man eine weniger ambitionierte Marke ansetzen würde, etwa „85 Prozent Erwachsene mit Erstimpfung“, könnten nur noch Hamburg, Nordrhein-Westfalen, das Saarland und Schleswig-Holstein Vollzug melden. Also gerade einmal 5 von 16 Bundesländern.
Weil es leider ist, wie es ist, müssen nun jedoch nicht nur die mehr als 15 Millionen ungeimpften Erwachsenen die Konsequenzen tragen. Nein, betroffen sind auch sehr, sehr viele Geimpfte:
  • Patienten, die etwa Krebs haben und dringend operiert werden müssten, deren Eingriff aber verschoben wird.
  • Menschen, die einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erleiden, allerdings einen längeren Weg ins Krankenhaus in Kauf nehmen müssen.
  • Kinder, in deren Schulen wieder Wechselunterricht stattfindet oder in denen sogar der Präsenzunterricht ausgesetzt wird.
  • Eltern, die wieder im Homeoffice arbeiten und sich im Zweifel gleichzeitig ums Homeschooling kümmern müssen.
  • Unternehmer, die Geschäfte, Restaurants oder Kultureinrichtungen betreiben, und weniger Umsatz machen.
  • Und so weiter.
Bei dieser Aufzählung sind all jene besonders stark betroffenen Menschen, seien es Behinderte, Alleinerziehende, einsame Ältere, noch nicht einmal berücksichtigt. Und all die Ärzte und Pfleger, die seit mehr als anderthalb Jahren bis zum Anschlag arbeiten, natürlich auch nicht.
Was die derzeitige Situation geradezu unerträglich macht, ist die Tatsache, dass sie vermeidbar gewesen wäre – zumindest in diesem Ausmaß.
Eine überfällige Einschränkung: 2G-Hinweis vor einem Lokal. (Quelle: imago images)
Eine überfällige Einschränkung: 2G-Hinweis vor einem Lokal.
Deshalb hat die Mehrheit der Geimpften nun das gute Recht zu sagen: Einen solchen Schlamassel wie im November 2021 darf es nicht noch einmal geben. Wir machen die in der aktuellen Situation notwendigen, deutlich schärferen Corona-Maßnahmen für alle ein letztes Mal mit, aber dann nie wieder. Zumindest nicht, solange uns neue Viren oder Mutationen nicht vor neue Herausforderungen stellen.
Was daraus folgt? Weil Impfungen der vorerst einzige Weg sind, diese Pandemie, wenn schon nicht zu beenden, dann zumindest in den Griff zu bekommen, braucht es jetzt einen Gesellschaftsvertrag. Sein Leitmotiv muss lauten:

„Überall Vorfahrt für Vernunft!“

Wie die Maßnahmen aussehen müssten? Flächendeckend 2G, von Restaurants über Fitnessstudios bis hin zu Theatern, am besten auch in Geschäften und im Zweifel mit zusätzlichem Test (2G plus). 3G am Arbeitsplatz und in Zügen, besser mit PCR- als mit Schnelltest. Und am besten auch im Nahverkehr. Absage größerer Veranstaltungen. Einen Teil-Lockdown für Ungeimpfte. Und, weil es daran ebenfalls hapert: schärfere Kontrollen.
Sie stehen wieder an: Schlange vor einer Impfstation im Münchner Rathaus. (Quelle: Alexander Pohl/imago images)
Sie stehen wieder an: Schlange vor einer Impfstation im Münchner Rathaus
Parallel dazu müssen wir endlich alles – und dieses Mal wirklich alles – mobilisieren, um so rasch wie möglich die Herdenimmunität zu erreichen. Dazu sollte auch eine Impfpflicht unter anderem für Beschäftigte in Krankenhäusern und Pflegeheimen gehören. Auch für Lehrer und Schüler darf sie kein Tabu mehr sein. Und wir brauchen dringend einen Plan, wie wir schnellstmöglich Auffrischungsimpfungen organisieren – und diese, sofern es sich als notwendig erweist, dauerhaft etablieren.
Jeder habe die individuelle Freiheit, sich all dem weiterhin zu verweigern. Aber er hat nun endgültig jedes Recht verwirkt, die Freiheit der anderen noch ein weiteres Mal einzuschränken. Wer nicht mitspielen will, kann in Zukunft gern am Rand stehen, zugucken und ja: auch meckern. Aber die Mehrheit wird nicht mehr hinhören und die Regeln für alle bestimmen.
Wie viel Österreich wird in Deutschland möglich?
Darüber, wie konsequent die Corona-Maßnahmen tatsächlich ausfallen, entscheidet in dieser Woche der Bundestag. Die wahrscheinlichen Ampelkoalitionäre wollen die bisherige Rechtsgrundlage für Beschränkungen durch ein neues Infektionsschutzgesetz ersetzen. Dieses soll einen kleineren Katalog möglicher Corona-Maßnahmenenthalten. Im vorläufig eingesetzten Hauptausschuss des Parlaments findet heute ab 13 Uhr die Expertenanhörung dazu statt. Die nächsten Tage werden auch zeigen, wie gut Olaf Scholz Krise kann.
Österreich ist bei den Inzidenzen, aber auch den Maßnahmen, längst ein paar Schritte weiter: An diesem Montag beginnt bei unseren Nachbarn ein Lockdown für Ungeimpfte. Sie dürfen nur noch aus zwingenden Gründen ihr Zuhause verlassen.
Nov. 2021 | In Arbeit | Kommentieren