„Die große Frage nun, an der es hängt, ob jemand ein guter oder schlechter Erzieher sein werde, ist einzig diese: wie sich jener Takt bei ihm ausbilde … “ (Johann Friedrich Herbart, 1802) – Als Herbart diese Worte sprach bzw. schrieb, war er 26 Jahre alt, hatte seine Bremer Hauslehrertätigkeit in der Familie Steiger von 1797 bis zum Beginn des Jahres 1800 hinter sich, ebenso seine Promotion und Habilitation in Göttingen und bereitete sich auf seine erste Vorlesung über Pädagogik vor, in der sie verzeichnet sind. Was aber meinte dieser junge Theoretiker und erfahrene Praktiker mit jenem schillernden Wort: Takt?

Takt kommt aus dem Lateinischen: tangere (tango, tegi, tactus), was so viel heißt wie: berühren. Takt ist also ein behutsames, ein rücksichtnehmendes, eben taktvolles Verhalten. Wer Takt besitzt, noch dazu pädagogischen Takt, nähert sich dem Kind liebevoll. Entfernt damit zu tun hat der musikalische Takt, der ein Musikstück gliedert, oder der technische Takt, der die Arbeitsweise eines Motors rhythmisiert. Herbart ging es um die entscheidende Frage: Wie kann einerseits die Theorie die Praxis aufklären bzw. verbessern, und wie kann die Praxis die Theorie anleiten bzw. auf die wirklichen Probleme des HandeIns hinweisen? Anders gefragt: Wie wird mein pädagogisches Handeln theoretisch fundiert, und wie beziehe ich die wissenschaftliche ,,Zusammenordnung von Lehrsätzen“ auf die ihr zugeordnete Praxis? Dies gelingt nur dadurch, dass sich „zwischen die Theorie und die Praxis ganz unwillkürlich ein Mittelglied“ schiebt, „ein gewisser Takt nämlich, eine schnelle Beurteilung und Entscheidung, die nicht, wie der Schlendrian, ewig gleichförmig verfährt“, andererseits aber auch nicht die Anwendung einer „vollkommen durchgeführten Theorie“ gewährleisten kann. Den zwischen Theorie und Praxis sich auftuenden „freien Raum“ der Entscheidung füllt jener pädagogische Takt; in ihm koinzidiert die praktisch orientierte Theorie und die theoretisch durchdrungene Praxis; und dazu ist eben nur ein taktvoller Pädagoge in der Lage, der behutsam Theorie und Praxis zu beachten versteht, ihre jeweilige Dignität und Eigen-Art respektiert und doch beide Seinsweisen antinomisch aufeinander zu beziehen sich bemüht. So gesehen ist der schlechte Lehrer in jedem Fall ein taktloser Lehrer – unabhängig davon, welche der im folgenden (in Anspielung an K. Lorenz) als „Todsünden“ bezeichneten Versagungen er aufweisen mag.

Ein Wort noch vorweg zur Methode:

Neben der Fachliteratur rekurrieren die folgenden Ausführungen auf drei weitere Quellen: Eigene und regelmäßig im Rahmen von Praktika protokollierte Unterrichtsbeobachtungen; Praktikumsberichte meiner Studenten; und schließlich Erfahrungen, die ich während – meistens mehrtägigerkollegiums- und schulinterner Fortbildungen (KiFs und Schilfs) in mittlerweile mehr als 50 Schulen machen konnte. Auch wenn auf diese Weise Kontakte zu etwa 3000 bis 4000 Kollegen möglich wurden, wird hier nicht behauptet, dass sich damit alle 700.000 deutschen Lehrer und Lehrerinnen auf ihre problematischen Verhaltensweisen hin kennzeichnen ließen. Es kann darüber hinaus auch sein, daß es realiter mehr als acht „Todsünden im Lehrerberuf‘ gibt oder andere Beobachter (Schulräte, Schüler, Eltern z. B.) zu einer anderen Typologie kommen – die hier vorgeschlagene will letztlich das Salzmannsche Symbolum aus dem Jahre 1806 ernst nehmen, das da lautet: „Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muß der Erzieher den Grund in sich selbst suchen.“ Suchen wir also!

1. Der Ignorant

Wolfgang Memmert ist, wenn ich die Literatur hinreichend überschaue, der einzige, der eine didaktische Kunstfehlertheorie geschrieben hat – übrigens Anlaß für die Zeitschriften Grundschule sowie Praxis Schule 5-10 diesem Problem unter dem Titel „Kleine Didaktische Fehlerkunde“ eine noch fort- laufende Serie entsprechender Fallberichte zu widmen. „In einer Deutschstunde, 5. Schülerjahrgang, nimmt der Lehrer das lange ,i‘ durch (ih, ie, ieh) … Um sicher zu gehen, dass die Wörter auch bekannt sind, liest er sie kurz vor: ,Kriechtiere – wißt ihr, was das ist?‘ Schüler: ,Ja, so etwas wie Schnecken und Würmer!‘ Lehrer: ,Gut, weiter! ‚“
Die Antwort der Schüler war eben nicht gut, sondern schlicht falsch: Zu den Kriechtieren (Reptilien) gehören Schlangen, Eidechsen oder Schildkröten, nicht aber die Schnecken, die zu den Weichtieren gerechnet werden; und Würmer bilden gar einen eigenen Tierstamm. Mit diesem ersten Beispiel soll ein erstes Topos des schlechten Lehrers herausgestellt werden: fehlendes Fachwissen, lückenhafte Kenntnisse, didaktisch-methodische Unzulänglichkeiten oder auch edukative Fehler können im Einzelfall dermaßen gehäuft bzw. gravierend auftreten, dass man von einem solchen Lehrer wird sagen können, er ist ein Ignorant, ein Nichtwisser in diesem oder jenem Bereich. Damit soll nicht kritisiert werden, dass wir alle nur ein begrenztes Wissen haben, wohl aber jener Sachverhalt, dass es Lehrende gibt, die ein ungenügendes Wissen und Können zeigen, sich nur lückenhaft ausgebildet haben oder sich nicht fortzubilden bemühen. Wir alle kennen solche Lehrer, aber: Hat nicht jeder von uns mit dieser ersten „Todsünde“ auch zu tun? Vor einigen Tagen habe ich in einer Vorlesung – so nebenbei – Ulrich von Hutten als „Humanisten und Dichter sowie großen Reformator“ vorgestellt und dabei offensichtlich den einstigen Reichsritter ein paar Sekunden lang mit Jan Hus verwechselt. Und noch während meine Studenten fleißig mitschrieben, ahnte ich mein nicht hinreichendes Wissen über jenen tschechischen Reformator, der von 1370-1415 lebte, und diesem verwegenen Ritter (1488-1523), über den Conrad Ferdinand Meyer ein berühmtes Versepos verfaßte. Natürlich hoffe ich, daß ich deshalb von meinen Studenten nicht gleich als „Ignorant“ bezeichnet werde. Und ich will damit auch keinesfalls verlangen, der Lehrer hätte alles zu wissen. Aber: Vor dem Tribunal der mir möglichen Vernunft werde ich zum Ignoranten verkommen, wenn ich nicht schleunigst eine Bibliothek aufsuche und das nicht hinreichende Wissen erweitere und – meinen Studenten dies sage. Niemand ist frei von Defiziten des Wissens und Könnens, aber er verkommt zum Ignoranten, wenn ihm dies gleichgültig wird.

2. Der Scharlatan

12. Jahrgang (LK) eines altehrwürdigen Gymnasiums, in dem ich als Vorbereitung auf eine KiF zwei Tage hospitiere. Einer der „problematischen Lehrer“, so höre ich, soll Dr. Vaupel sein. Der Leistungskurs weiß, dass ich ihn gleich besuchen werde, umringt mich in der Pause, redet auf mich ein, um mir zu versichern, Dr. Vaupel sei „ein Schaumschläger“. Ich wiegle ab und antworte, den Kaiser imitierend: ,,Na, schau’n mer mal!“ Lars aber läßt nicht locker: „Bitte, können Sie auf das Kärtchen hier einen Namen schreiben, irgendeinen Phantasienamen?“ Ich zögere, denke an ein Ratespiel und notiere: Mirja Czybulski. „Wie spricht man das aus?“ ruft Lars in das Klingeln hinein. Ich eile zum Lehrerzimmer …

Die ersten 15 Minuten hat Dr. Vaupel damit zugebracht, die „Universität von innen her“ zu erklären, seine „damalige Dozententätigkeit“ zu beschreiben, zu betonen, „wie genau er den Professor dort hinten kennt“ mir ist peinlich zu Mute. Plötzlich meldet sich Lars, energisch: „Sagen Sie, Herr Dr. Vaupel, kennen Sie eine Mirja Czybulski oder so ähnlich? Ich hab‘ mir den Namen aufgeschrieben. Im letzten ,Literarischen Quartett‘ wurde sie von allen verrissen, nur Reich-Ranicki hat sie gelobt … Kennen Sie diese Mirja Czybulski?“ Und während mir immer häufiger der Atem stockt, schwadroniert der Lehrer los: „Selbstverständlich kenne ich die Mirja. Und Marcel hat sie zu Recht gelobt, aber aus den falschen Gründen. Ihr wißt, ich kenne den Marcel, deshalb darf ich das sagen: Ihre metaphorische Kraft ist es, die sie auszeichnet, nicht ihre Ironie, die ist eher medioker …“

Ich erspare mir weiteres Zitieren und mache statt dessen auf folgendes aufmerksam: Dieser Lehrer ist kein Ignorant, er weiß eine Menge, aber – er möchte sich gleichsam deifizieren, zum Wissensgott machen. Deshalb blendet er, jongliert mit Bällen, die er nicht hat, gibt an und seine Bescheidenheit auf.

Er ist nicht „Darsteller“ einer guten Sache, sondern „Verkäufer“ imaginärer Waren, kein überzeugter und deshalb überzeugender „Schauspieler“ oder wenigstens redlicher „Klempner“, sondern „Komödiant eines Schmierentheaters“, ein Scharlatan eben. Und auch hier frage ich: Haben wir, die wir nicht blenden wollen, nichts, rein gar nichts damit zu tun? Sind wir wirklich gefeit gegen jene „Eitelkeit“ und „Heuchelei“, die Jakob Muth in seinem letzten Buch einer scharfen Analyse unterzogen hat? Jeder, der sich z. B. auch nur einmal mehr zitiert, als dies wirklich nötig ist, muß sich dies wohl fragen (lassen).

3. Der Egomane

Signalisieren die beiden ersten „Lehrertypen“ eher Defizite im professionellen Bereich, so die drei folgenden Verstöße gegen Gebote der Kollegialität (vgl. die Abbildung). Dabei erstaunt auch hier, wie umfangreich die Literatur über „den guten Lehrer“ ist und wie sehr wir auf Vermutungen angewiesen sind, wenn es um „schlechte Lehrer“ geht, gleichwohl wir alle solche kennen und über sie klagen, aber – hinter der hohlen Hand. So auch bei Frau M., über die ich im Praktikumsbericht einer Studentin u. a. lese: „Auf der Lehrerkonferenz fiel mir besonders Frau M. auf: Sie redete jeden gegen die Wand, zerpflückte jeden Vorschlag und sah alles nur mit der Brille: Wie komme ich in den Mittelpunkt (rechts)? Und: Was bringt mir das (links)? An das Kollegium dachte sie in keiner Sekunde. Sie fühlt sich gestört, wenn die Künstler den Flur gestalten wollen; ihr ist eine Stufenkonferenz am Freitag nicht zu- zumuten; und eure Aufsichtsregelung fand nie ihre Zustimmung … “

Die Typologie des Lehrers

Frau M. zeigt gegenüber den übrigen Kollegen eine Egozentrik, Ichbezogenheit, Selbstsucht, die jede Kooperation verunmöglicht. Sie kennt nur Herrschaft und Unterwerfung und reagiert – wie alle Egomanen – narzißtisch gekränkt, wenn ihre Bedürfnisse nach Selbstbespiegelung nicht genügend beachtet werden. Natürlich gibt es die Egomanie in vielen Spielarten: als Selbstbeweihräucherung, Selbstüberschätzung, unkollegiale Egoität etc. Warum aber ist sie eine Todsünde (nicht im Leben eines Singles, wohl aber) im „Pädagogischen Bezug“? Herman Nohl, der diesen wie kein anderer erforscht hat, schreibt in der „Bildung des Erziehers“: „Eine … Grundantinomie unseres pädagogischen Lebens ist, daß wir uns selbst leben, jede Seele für sich, und zugleich den objektiven Werten und Gemeinschaften verbunden sind“. Frau M. zerstört eben diese „Grundantinomie“, kultiviert die eine und vergewaltigt die andere Seite jenes Wider-Spruches, die eine Einheit bilden. Damit aber liquidiert sie den Bezug – eine das pädagogische Leben tödlich treffende Sünde. Und wir und ich? Ist selbstgerechtes Zurücklehnen erlaubt? Habe ich neulich die von Ruth C. Cohn immer wieder geforderte Balance zwischen Ich, Du bzw. Wir und der Sache wirklich herzustellen versucht, als ich wutschnaubend eine Sitzung verließ, in der meine Vorstellungen kein Gehör fanden, wohl aber die anderer? Steckt nicht in jedem von uns ein potentieller Egomane?

4. Der Karrierist

Seit 15 Jahren kenne ich Herrn F. und seinen Werdegang. Nicht dass er Karriere gemacht hat, ist hier erwähnenswert, sondern wie er seinen Aufstieg bewerkstelligte: Schon die Schüler waren Mittel zum Zweck aufzufallen, als Lehrer herauszuragen, auf sich aufmerksam zu machen; Konkurrenten galt es wegzuboxen, auszutricksen, notfalls anzuschwärzen; gegenüber Mächtigen war Wohlverhalten angezeigt, Devotheit, „Solidarität“ hieß das in der Regel. Schwächere erhalten, auch heute noch, Fußtritte, Gleichstarke müssen mit jedem Trick rechnen, und nach oben wird gekatzbuckelt. Für F. sind die anderen immer nur Mittel zum Zweck des Aufstiegs, der ihn bis heute nicht hat zur Ruhe kommen lassen. Theodor Storm hat einmal gedichtet:
Was du immer kannst zu werden, scheue Arbeit nicht und Wachen, aber hüte deine Seelevor dem Karrieremachen.
Just deshalb ist dies eine der pädagogischen Todsünden: Wer seine eigene Seele korrumpiert, ist als Erzieher gestorben. Denn niemand kann andere weiter bilden, als er selbst um Bildung sich bemüht. Wer aber will behaupten, gegen die Versuchung, sich auf Kosten anderer in Szene zu setzen, ein für allemal immun zu sein?

5. Der Nassauer

„Bei vollem Gehalt zehn Jahre die Schule geschwänzt“ – so textete Der Tagesspiegel (Nr. 14915, vom 19. Mai 1994, S. 9). Und der zuständige Stadtrat räumte ein: „Glauben Sie nicht, daß dies ein Einzelfall ist.“ Der 55jährige Hauptschullehrer aus Neukölln hat es tatsächlich geschafft, 10 Jahre lang Ruhestandsbezüge in Höhe von 63 Prozent seines Gehaltes zu kassieren. Einer Zwangspensionierung hat er sich mit Hilfe geschickter Anwälte immer wieder entziehen können. Bisheriger Schaden für die Staatskasse: 212.000 DM. Nun, dies ist gewiß ein drastisches Exempel. Jeder Schulrat, jede Schulleiterin weiß von Kollegen zu berichten, die sich bevorzugt montags oder freitags „erkälten“, zwei Tage vor den Ferien „eine Infektion“ einfangen, die Pausenaufsicht „glatt vergessen“, Klassenarbeiten wochenlang unkorrigiert liegenlassen u. a. m. Richten sie weniger Schaden an? Hier ist ein kollegiales Defizit gemeint, das nicht egozentrisch, wohl aber egoistisch auf Kosten anderer lebt. Es geht dabei also nicht um jene Kollegen, die erschöpft und erkrankt vom Kollegium eine Zeitlang „mitgeschleppt“ werden, sondern um solche, die ganz in der Nachfolge jener sind, die als Nicht-Nassauer den studentischen Freitisch in Göttingen nutzten, den der Fürst von Nassau seinen Landeskindern dort eingerichtet hatte, d. h.: die auf Kosten anderer leben. Charity begins at home.

6. Der Manipulateur

„Eine nicht auf volle Freigabe des Zöglings intendierte Erziehung ist nicht als solche anzusprechen. Für sie wären Begriffe wie Verführung, Affirmation von Abhängigkeit und Hörigkeit, Infantilisierung usw. eher geeignet“ – so heißt es bei H.-J. Gamm. Ein treffliches Beispiel dafür liefert der noch relativ junge Realschullehrer D. Mit Zuckerbrot und Peitsche regiert er in seinen Klassen: extreme Zuwendung, Freundlichkeit und Vergünstigungen bestechen die Gutwilligen, barsche Zurückweisung, Ablehnung und drakonische Strafen setzen den Starken zu. Er bringt es fertig, an einem Tag Schülern ein Pizza-Essen zu versprechen (und später auch einzuhalten) und andere mit Hilfe von Anrufen bei deren Eltern sowie durch maßloses Aufbauschen und „Schwarzsehen“ an den Rand der Verzweiflung zu treiben. Solche Verhaltensweisen sind schlimmer als professionelle und kollegiale Defizite. Als Ausdruck von mehr oder weniger folgenschweren Persönlichkeitsdefiziten zerstören sie letztlich das, was ein gutes Lehrer-SchülerVerhältnis geradezu konstituiert: Wechselseitiges Vertrauen nämlich. Lehrer D. will herrschen – um jeden Preis. Und auch hier wollen wir uns fragen, ob uns von einem solchen Lehrer alles trennt oder lediglich der Zusatz nach dem Gedankenstrich. Wenn dies stimmt, dann droht in jedem pädagogischen Milieu die hier herausgestellte Versuchung, anstelle von geduldigem Werben die bestechende oder unterdrückende Manipulation einzusetzen.

7. Der Schleimer

Auch wenn der folgende Satz auf Zurückweisung stößt, ist er deshalb noch nicht falsch: In jedem von uns steckt ein „Schleimer“. Vielleicht erhält er mehr Zustimmung, wenn ich folgende Szene aus dem 6. Schuljahr einer Berliner Grundschule berichte: Frau P., die Konrektorin, lebt in einem Dauerkon- flikt mit ihrer Schulleiterin und dem sie unterstützenden Teil des Kollegiums. Die Schüler wissen dies und nutzen es schamlos aus. Frauke beschwert sich über eine Ermahnung der Schulleiterin, „morgens doch pünktlich zum Unterricht zu erscheinen“. „Ach, weißt du, Frauke, mancher kann sich das nicht vorstellen, was es heißt, Alleinerziehende zu sein, Kinder zu versorgen, den Haushalt erledigen und noch arbeiten gehen zu müssen … Wer einen Arzt zum Mann hat, eine Haushälterin beschäftigt und einen dicken BMW fährt, hat natürlich viel Zeit, Mädchen am Schultor aufzulauern und … Nimm‘ das nicht so ernst!“ Frauke lächelt triumphierend, und die Lehrerin – sie will der Schulleiterin eins auswischen und auf Kosten anderer die Sympathie der Kinder haben. „Eigentlich“, so heißt es bei Muth, „deckt ein schmeichelnder Lehrer die Schwächen des Schülers zu, statt ihm zu helfen, darüber hin- wegzukommen.“ Den Schleimer, der sich bei den Schülern beliebt machen will, quält letztlich die Eifersucht. Er will beachtet, bewundert, geliebt werden – und zwar auf Kosten anderer. Zum Glück durchschauen die Schüler dies in der Regel, aber das nimmt ihnen nicht den Zwang, inmitten von double-binds, von Beziehungsfallen, mit gespaltener Zunge reden zu müssen.
Und wir? Sind wir wirklich frei von solchen Versuchungen? Vielleicht ist dem Beruf des Lehrer in seinen Gefährdungen kein anderer Beruf so verwandt wie der – des Schauspielers. Nicht weil beide etwas darstellen, „die Menschen stärken (und) die Sachen klären“ möchten, sondern weil wir am Ende unserer oft aufreibenden Bemühungen eines ersehnen: Anerkennung, Dank, Beifall. Wehe aber dem Schauspieler oder Lehrer, dem es dabei im Grunde nicht um die Sachen und die Menschen ging, sondern um sein eigenes beifallsüchtiges Bedürfnis! Er liquidiert sich als solcher.

8. Der Zyniker

Der letzte Vertreter der hier beschriebenen Lehrertypen bereitet mir die größten Schwierigkeiten. Besonders in KiFs und SchiLfs vermag er jede notwendige Reform zu Fall bringen, und oft tritt er, gestützt von einer starken Gruppe, gegen jeden und alles an, dem seine Ideologie entgegensteht. So auch OStR H., ein exzellenter Altphilologe, Fachleiter und Schulbuchautor, aber: „In den letzten 20 Jahren ist mehr Schrott ins Gymnasium gekommen als in den zurückliegenden 200 Jahren, wozu manche Schmusepädagogik mehr beigetragen hat als die Parolen der 68er. Der IQ ist nun mal zu 50 Prozent angeboren, und um den Unterschied zwischen Gerundium und Gerundivum zu kapieren, muß man wenigstens 100 Punkte haben …“ Sofort sekundiert der Mathematiklehrer, sich an mich wendend: „Auch eine Gleichung mit zwei Unbekannten läßt sich nicht mit einem IQ von 80 oder mit Ihren Entspannungsübungen lösen …“

Hartnäckig verteidigen solche Zyniker ihre mitunter menschenverachtende Anthropologie, nicht weil sie unbedingt verachten, sondern weil sie nicht zurückwollen zu ihrem einstigen Idealismus. In der Supervision kommt meist zutage, daß der Zyniker ursprünglich durchaus idealistisch gesonnen war (häufig sogar über die Maßen), dann aber in einem quälenden Burnout-Prozeß den Glauben an die Chancen des Menschen verloren hat und nun vehement darauf achtet, dass ihn niemand mehr dazu „verleitet“, neuerlich zu hoffen – er könnte eine zweite Enttäuschung nicht ertragen. Angst verbreitet der Zyniker und ist doch selber angefüllt mit Angst, die er hinter einer Maske aus Ironie, Sarkasmus und Zynismus zu verbergen sich bemüht. Und die Vermutung liegt nahe, dass die übermäßige Distanzierung „von solchen Lehrern“ (!) Ausdruck der eigenen Angst ist, irgendwann einmal auch den pädagogischen Optimismus zu verlieren. …

Sicherlich ist es schwer, gute Lehrer zu finden und in einem Kollegium als solche zu halten. Wesentlich schwerer ist es, schlechte Lehrer loszuwerden – noch dazu in einem Land, das auch die Lehrer zu Berufsbeamten gemacht hat. Und am schwersten ist es gewiß, schlechte Lehrer im Rahmen der Fortbildung ihrer selbst das leisten zu lehren, was Salzmann gefordert hatte: den Grund in sich selbst zu suchen. Dabei könnte uns die Fortsetzung seines Symbolum eigentlich mutig stimmen, denn dort heißt es: „Meine Meinung ist gar nicht, dass der Grund von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge in dem Erzieher wirklich läge, sondern ich will nur, daß er ihn in sich suchen soll.“ Suchen soll …

Frau Adriani aus Kurt Tucholskys „Schloß Gripsholm“ verkörperte gleich mehrere pädagogische Untugenden. Sie war zynisch und schleimend, sie manipulierte und war egomanisch. Ihre schlimme Pädagogik hat deshalb zu Recht die Deutsche Lehrerzeitung auf einer ganzen Seite in einer Textmontage dargestellt. Das muß – bei anderen und in uns selbst – „bekämpft“ (besser: weggebildet) werden. Wer den Film „Club der toten Dichter“ gesehen oder das entsprechende Buch von Kleinbaum gelesen hat, ahnt die Überwindung jener Untugenden, über die hier zu schreiben war … Der neue Englischlehrer Mr. Keating ist weder eine herausragende Gestalt, noch ist er ohne Fehler und Schwächen. Und doch bewährt er sich in einer alles entscheidenden Situation. Er, der seine Schüler zum Gebrauch der Freiheit anleitet, wird verdächtigt, mit seinen aufwiegelnden Ideen einen Schüler in den Tod getrieben zu haben. Und ehe John Keating vor den Unterdrückern und ihren Adlaten seinen Kotau macht, quittiert er den Dienst – er, der sich in einer Stunde sogar auf das Lehrerpult gestellt hatte, um seinen Schülern zu demonstrieren, dass man die Dinge immer auch von einer anderen Warte aus wahrnehmen muß.
Am letzten Tag, in seiner letzten Stunde, passiert es, bereits in Anwesenheit seines devoten Nachfolgers: „Todd propped one foot up on his desk, hoistet himself up onto it, and fighting back tears, faced Mr. Keating.“ (S.165) Dann stieg Knox auf seinen Tisch, es folgte Meeks … „one by one, and then in groups, others in the class followed their lead, standing on their desks in silence salute to Mr. Keating.“ (S. 166) Ist das nicht das schönste Geschenk, das Schüler uns machen können, wenn sie uns an das erinnern, was wir sie gelehrt haben? Und sei es, sich auf einen Tisch zu stellen, um die Dinge aus einer ganz anderen Sicht zu betrachten.
Vielleicht sehen und finden wir ja etwas, was uns sonst verborgen geblieben wäre?

Okt 2021 | Allgemein, Essay, Wissenschaft | Kommentieren