Die Wenigsten werden heute die zweite Hälfte der 1950er Jahre als Zeit benennen, in der „cinema riots“ oder „Konzert-Krawalle“ Öffentlichkeit, Medien und Politik ausdauernd beschäftigten und Kriminologen, Psychologen und Soziologen zu umfangreichen Studien herausforderten. Bei mehr als 100 Halbstarken-Krawallen alleine in der Bundesrepublik zwischen August 1956 und September 1959 kann durchaus von einem Massenphänomen gesprochen werden: aufrührerische Zeiten in den vermeintlich so betulichen und biederbürgerlichen Fünfzigern!
Erinnerungskulturell präsenter sind da natürlich die Jahre der „Studentenbewegung“ in der zweiten Hälfte der 1960er, kurz „die 68er“. Gerade einmal zehn Jahre liegen beide Zeiträume auseinander – aber „zusammengedacht“ wurden sie eigentlich nie! Auch nicht von dem – 1968 geborenen Berliner Historiker Bodo Mrozek, der ein Jahr nach dem fünfzigsten „68er-Jubiläum“ in 2018 ein fulminantes Buch vorlegt, das ein Rezensent der einflussreichen „Historische Zeitschrift“ mit Recht bereits kurz nach Erscheinen „als Standardwerk“ geadelt hat.

Der Autor entwickelt eine asynchrone Periodisierung zur traditionellen Geschichtsschreibung insoferrn, als er „1956-1966: Das ungerade Jahrzehnt“  als Motor von Modernisierung, Westernisierung und Globalisierung ausruft. Da atmen Konservative ganz tief durch, endlich mal wieder jemand, der am „Mythos 68“ kratzt – auch durch leicht missverständliche Aussagen wie: „Um 1966 politisierte sich die populäre Kultur allmählich.“ Warum, muß gefragt werden dürfen, beendet er seine Untersuchung gerade dann, wenn es anfängt, noch spannender zu werden? Er antwortet in frappierender Offenheit: „Andererseits wurde mit dem Fluchtpunkt im Jahr 1966 die Fixierung der Geschichtsschreibung der 60er Jahre auf die Studentenproteste um 1968 vermieden.“ Solche Absetzbewegungen waren ja nicht selten und Bodo Mrozek verteidigt seinen Ansatz vehement: „Aus popgeschichtlicher Perspektive erscheinen die Jahre um 1956/57 als eine Zäsur, die zwischen erinnerungskulturell etablierten gesellschaftspolitischen Einschnitten wie 1945 oder 1968 liegt.“ (S.15) Diesem Vergleich sollte man im Falle „1945“ nicht unbedingt folgen, bei „1968“ allerdings lohnt dies.

Die Fülle beeindruckt und im Wesentlichen geht es darum: Seit 1953 deutet sich eine „Konfliktphase“ zwischen Jugend und Politik mithin der Erwachsenenwelt an, die in Gangbildungen und Jugend-Riots u.a. in New York, London und Berlin ein Ventil finden, in der Regel unverstanden bleiben und deshalb durch „Verpolizeilichung“ beantwortet und als „Delinquenzen“ behandelt werden. Durch wachsende Bedeutung von Film/Kino und Musik entsteht zwischen 1956 und 1958 eine „Fiktionalisierung“ dieser sozialen Spannungen, die zu dem internationalen Phänomen der „cinema riots“ führt, die gerade auch im Rhein-Neckar-Gebiet zu beobachten waren und die in der Regel durch Polizeieinsätze und harte Anwendung des Strafrechts gegen die sogenannten „Halbstarken“ zu „befrieden“ versucht wurden.

Die Zeit 1958 – 1961 mit neuen Kulturkämpfen im Zeichen von „Rhythm, Rock and Riots“ lassen diese staatlichen Reaktionen mählich als untauglich erscheinen und münden tatsächlich in einem zuvor undenkbaren Sieg: „Vom Beat zum Pop: Jugendkultur für Erwachsene“. Philipp Oehmke hat jüngst im „Spiegel“ über die damals beginnende popkulturelle Hegemonie angemerkt: „Ihr Hauptmerkmal war, verlässlich die Kulturgüter hervorzubringen, die die öffentliche Debatte bestimmten. Dieses Imperium umspannte die Periode von Elvis Presley über New Hollywood bis zu Madonna und vielleicht noch Britney Spears in den Nullerjahren. Danach, …, hat sich die Popkultur zunehmend verfranzt und verzweigt und ihre verbindende Kraft eingebüßt.“

Bodo Mrozek erarbeitet sich die Zeit von Bill Haley und Elvis Presley hin zu den Beatles und Rolling Stones anhand von umfangreichem und vielfältigem Archivmaterial aus Deutschland (BRD und DDR), Frankreich, Großbritannien, USA und auch Niederlande und Jamaika. Allein diese Aufzählung lässt erahnen, wie schwierig und komplex das gemeinsame Handling einer solchen Quellenvielfalt ist, gerade wenn man sich als Autor zur „Sozialgeschichte“ und der „Geschichte von unten“ bekennt und als Gemeinsamkeit mit dem eigenen Ansatz einer „Popgeschichte“ betont: „den Anspruch auf Repräsentativität einer Geschichte der ganzen Gesellschaft inklusive marginalisierter Schichten, etwa der Arbeiterklasse, sowie das Interesse an Ausformungen des Alltags jenseits der rein intellektuellen Sphäre.“(S.25) Eine Geschichte von unten, verbunden mit „Protestforschung“, bringt unscheinbare Individuen – scheinbar – zum Sprechen;  das in transnationalem Maßstab zu versuchen, ist eine Herkulesaufgabe!

Deutlich wird dieses Dilemma in einem kurzen Unterkapitel überschrieben mit „Lokale Ereignisse, internationale Konsequenzen“. Angesichts der Krawalle bei der „Nuit de la Nation“ in Paris 1963, der „Rumble in Brighton“ und der „Schlacht von Hastings“ 1964 sowie den gewalttätigen Tumulten beim Stones-Konzert auf der Berliner Waldbühne 1965 weist der Autor der neuen internationalisierten Popkultur zurecht eine zentrale Rolle „in der als vergleichsweise ‚ruhig‘ geltenden ersten Hälfte der sechziger Jahre“ zu. Allerdings scheinen mir die frühen sechziger Jahre alles andere als „ruhig“: Mauerbau 1961, Kuba-Krise und Spiegel-Affäre 1962, Streiks und Aussperrungen in Frankreich, Belgien und in der Bundesrepublik 1963 und der schon länger und bis 1968 währende „Kampf den Notstandsgesetzen“ lassen Jahre scharfer politischer Auseinandersetzungen und sozialer Spannungen erkennen, in denen die Konfliktereignisse der Popgeschichte nicht alleine standen und sogar Wechselwirkungen zwischen Politik- und Popgeschichte zu erkennen sind.
In Mannheim beispielsweise „modernisiert“ der DGB inmitten des Metallerstreiks und der Schleyer-Aussperrung 1963 seine traditionelle Maifeier mit einem Auftritt der – auf den Festivals der Burg Waldeck bekannt gewordenen – Folksängerin Fasia Jansen samt Skiffle-Group, umringt von jungen Gewerkschaftern mit Elvis-Tolle.

Während die Darstellung der Beat-Konflikte in der DDR  stets mit der politischen Dimension eines systemoppositionellen Habitus verbunden wird, bleibt das Konfliktszenario der BRD relativ unpolitisch. Aushelfen müssen da pauschale Zuschreibungen von Konfliktlagen in einzelnen Ländern, von nationalen Problemkomplexen: „in Frankreich dem der Dekolonialisierung, in Großbritannien dem der ‚Luxusverwahrlosung‘ und Drogenpolitik, in der Bundesrepublik dem der NS-Vergangenheit und in der DDR des Ost-West-Konflikts“. Diese doch statischen Zuschreibungen bilden die Komplexität der Konfliktlagen nicht ab; gerade für die Bundesrepublik galt ebenso die Dominanz des Ost-West-Konflikts und gänzlich grenzübergreifend waren die Debatten über den Einsatz von Militär im Inneren, in Großbritannien wie Frankreich praktiziert, in der Bundesrepublik in der Debatte um die Notstandsgesetze heftig diskutiert.

In all diesen Gemengelagen tummelt sich, was heute „Popmusik“ genannt wird – und damit verbunden neue Medienstile, die manchmal vom underground zum mainstream mutieren, alternative Lebensweisen, die zunächst als abartig und unmoralisch gegeißelt werden und sich trotzdem behaupten, freie und freche Modestile, die sowohl durch Pop als auch Politik begründet sind. All diese Entwicklungen verfolgt der Autor und entfaltet eine opulente und differenzierte Beschreibung des beginnenden internationalen Popzeitalters. Das notwendige Kapitel über „Hippies, Gammler, Langhaarige“ ergänzt Bodo Mrozek mit dem Zusatz „Kampf um Männlichkeit“. Dies scheint eine durch die Brille der heutigen Genderdebatten geprägte Einschätzung zu sein, dass der Kampf „um die Länge der Haare“ absichtsvoll „die traditionellen Geschlechterrollen ins Wanken“ brachte, „vor allem die Vorstellung, die Körper von Frauen und Männern seien grundsätzlich verschieden. In den Sechzigern wurden jugendliche Körper neu definiert, und zwar auf tendenzielle geschlechtsneutrale Weise.“  Bei aller Liebe, aber die Befreiung der Sexualität und die Forderung nach „freier Liebe“ waren alles andere als geschlechtsneutral.

Dem Autor ist absolut zuzustimmen, dass „Gammeln“ und „Langhaarigkeit“  eine „Abkehr vom soldatischen Männlichkeitsideal“  in den sechziger Jahren waren – damit waren sie auch „Protest“ und standen im Einklang mit politisch sein in Schüler- und Studentenbewegung. Wenn man 1967 in der Provinz, inspiriert auch durch Rock’n’Roll und Beat, erstmals eine Demo gegen die NPD organisierte und im Sommer beim Jazz- und Blues-Festival in Windsor Donovan zu Füßen saß und sein „Universal Soldier“ hörte, umgeben von vielfältigen Love-and-Peace-Symbolen, dann war das eine selbstverständliche Fortsetzung von Widerständigkeit im Jahrzehnt zuvor und auch kein Widerspruch zum manchmal puristischen politischen Aktivismus im Jahrzehnt danach. Das alles verschmolz zu einer Einheit – und gehört deshalb zur Geschichte von „1968“.

Pop beats APO – noch ein Abschied von „1968“?
Anmerkungen zu Bodo Mrozek: Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin: Suhrkamp 2019

Okt 2021 | Allgemein, Buchempfehlungen, Feuilleton, Junge Rundschau, Politik, Zeitgeschehen | Kommentieren