Es ist, als wäre da so etwas wie eine Stellenausschreibung: Retter der CDU. Das erwartet Sie, das sollten Sie mitbringen, das ist Ihr Weg zu uns: Eigentlich ist klar, wer den Job machen muss, nämlich der Parteivorsitzende. Das ist allerdings derzeit noch Armin Laschet, der glücklose Kanzlerkandidat, dem viele in der CDU eine Mitschuld an der Krise geben. Zwar hat Laschet angekündigt, einem neuen Parteichef nicht im Wege zu stehen. Aber wann und wie der kommen soll, ist offen. Mithin überlegen die Abgeordneten schon einmal selbst, wen – oder was – ihre Partei zukünftig brauchte. …
Zunächst mal eine Zustandsbeschreibung; denn von Art und Ausmaß der Probleme hängt schließlich ab, wer sie am besten lösen könnte.
Bundestagsabgeordnete der CDU beschreiben ihre Partei derzeit in düsteren Sätzen. Zum Beispiel: „Die CDU hängt komplett in der Luft“ oder „Die Partei zerlegt sich“. Oder auch: „Die CDU steht vor den Trümmern ihrer Existenz.“ Ein Abgeordneter vergleicht die Partei mit einer Erbsenschote, aus der jemand die Erbsen herausgelutscht habe. Ein anderer schätzt, es werde in jedem Fall Jahre dauern, bis die Partei wieder zu Kräften komme. Fast niemand glaubt daran, dass Jamaika doch noch zustande kommen könnte. Heißt also: Es ist ernst. Darauf immerhin können sich alle einigen. Doch schon bei der Frage danach, wie es so ernst werden konnte, gehen die Meinungen auseinander.
Niemand sieht das Problem allein in Laschet. Manche würden ihn sogar gern als Chef behalten. Es gibt Politiker, auch in der Parteispitze, die ihn als Kanzlerkandidaten unterstützten und jetzt bekunden, sie würden wieder so entscheiden. Nicht Laschet habe die Sache gegen die Wand gefahren, sondern jene, die ihn fortwährend sabotierten, weil sie lieber einen anderen gehabt oder es gleich selbst gemacht hätten. Andere räumen ein, Laschet habe zwar Fehler im Wahlkampf gemacht, doch eigentlich den richtigen Kurs gefahren. Diejenigen, die Laschet nie wollten, fühlen sich bestärkt. Doch auch sie beschreiben Laschet eher als Symptom denn als Ursache. Die liege tiefer beziehungsweise in der Vergangenheit.
Wie weit zurück, ist wiederum umstritten. Es gibt jene, denen Merkel als Parteichefin nie passte und die nur stillhielten, weil sie als Kanzlerin so erfolgreich war. Die sagen jetzt, in den Merkeljahren habe die CDU schleichend ihr Profil verloren. Die so reden, sind allerdings wenige. Schon mehr Abgeordnete vertreten die These, das Problem sei im Jahr 2018 entstanden. Damals gab Merkel den Parteivorsitz ab, blieb aber Bundeskanzlerin. Das habe den Raum eng gemacht, erst für Annegret Kramp-Karrenbauer, dann für Laschet. Dieser Keks ist, wie Robert Habeck sagen würde, gegessen. Aber die Krümel liegen noch herum. Viele in der CDU glauben, in diesen Jahren der geteilten Führung sei etwas geschehen, das jetzt noch nachwirke. Und zwar in Form einer Art Sinnkrise: Was zeichnet die Partei eigentlich aus?
Da sind sich alle Lager einig, Konservative und Liberale, Junge und Alte, Abgeordnete aus der Stadt und vom Land. Sie beklagen, die CDU sei inhaltlich ausgezehrt. Was heißt das? Je nach Blickwinkel etwas anderes. Konservative beklagen „Zeitgeistgequatsche“, Ostdeutsche klagen, der Osten werde nicht verstanden, Klimaleute finden, es gehe zu wenig um Nachhaltigkeit. Auch früher hatte in der CDU jeder irgendetwas auszusetzen. Aber da klang die Kritik oft versöhnlich, nach dem Motto: Ideal ist was anderes, aber gut sind wir schon. Jetzt sind die Fronten verhärtet. „Die Partei ist wahnsinnig aufgewühlt, viele fühlen sich nicht mitgenommen“, sagt einer aus dem Laschet-Lager. Es herrschten Illoyalität und Misstrauen. Je größer die Not, desto fieser werde es.
Doch die CDU-Leute sehen noch ein anderes Problem. Die Partei sei nicht nur sich selbst fremd geworden, sondern auch den Wählern. Die Zusammensetzung der Partei entspreche nicht der Zusammensetzung der Gesellschaft. Zum Beispiel sei die Basis deutlich älter und männlicher als die Wähler der Partei. Die Basis wolle einen Chef, der so sei wie sie, doch so jemand komme bei den Bürgern nicht an. Die CDU beschäftige sich mit sich selbst, vorbei an der Realität. Manche finden, die CDU rede zu viel übers Klima; aber die Bürger interessiere mehr, was das Benzin koste und wie viel Rente sie bekämen. Andere finden, die CDU rede im Gegenteil noch viel zu wenig übers Klima; das sei das Thema, was junge Menschen existenziell umtreibe. Die Junge Union wiederum muss auch einstecken: Sie werde nicht als jung wahrgenommen – darum seien auch FDP und Grüne beliebter bei Erstwählern. „Die sind schlicht und ergreifend nicht sympathisch“, sagt eine CDU-Frau. Die eigenen Kinder und deren Freunde hätten ganz andere Themen als die Parteijugend.
Die CDU will wieder sie selbst sein. Mehr eigene Ideen entwickeln, statt bloß die der anderen abzulehnen. So beschreiben es Parlamentarier verschiedener Lager. Aber wie gelingt das? Jedenfalls nicht von einem Tag auf den anderen. Viele sehen ihre Partei hin- und hergerissen: Im Südwesten sind die Grünen die größte Konkurrenz, im Nordosten ist es die SPD. Und in anderen Teilen des Ostens jagt die AfD der CDU Wähler ab. Gesucht wird also ein Kurs, der da gerade hindurchführt, statt schlingernd mal in die eine Richtung, mal in die andere. Ein CDU-Mann ahnt: „Sich da so zu positionieren, dass man überall die bessere Alternative ist, das ist eine verdammt schwierige Aktion.“ Die Voraussetzung dafür ist nach Meinung mancher mehr Durchmischung: Die CDU müsse mehr Frauen gewinnen, mehr jüngere Menschen, mehr Migranten. Andere dagegen sagen: Hört den Menschen im ländlichen Raum zu, statt euch danach zu richten, was in Berlin und auf Twitter angesagt ist. Auf jeden Fall, da ist man sich einig, müsse die CDU moderner werden. Aber das dürfe nicht verwechselt werden mit modisch. Es gehe um Glaubwürdigkeit.
Viele sprechen über das, was der Partei traditionell wichtig ist: das christliche Menschenbild, Vertrauen in das Leistungsprinzip, eine solide Wirtschaftspolitik, „Wohlstand für alle“, Sicherheit und Ordnung. Weibliche Abgeordnete kommen oft auch auf Gleichstellungsthemen zu sprechen, und solche, die aus dem Osten sind oder viele Kontakte dorthin haben, mahnen zu mehr Sensibilität im Umgang mit den Themen dort. Aber was sind Themen dort? Während ein westdeutscher Landesvorsitzender davon spricht, wieder stärker auf das Thema Migration zu setzen, hält ein ostdeutscher Landeschef dagegen: „Das Verhetzungspotential dieses Themas hat seinen Zenit überschritten.“ Er sei froh darüber. Oft ist auch die Rede von Werten; die seien gerade nicht mehr so erkennbar, wie es früher einmal der Fall gewesen sei.
Eigentlich ist es so wie immer, wenn Politiker einer Partei über Richtungsfragen sprechen: Jeder betont das, was ihm besonders wichtig ist aus einer Auswahl von Dingen, auf die sich alle einigen können. Doch das Vertrauen darauf, sich im Kompromiss wiederzufinden, ist gesunken. Die einen fürchten einen Rechtsruck mit starker Polarisierung, die anderen Beliebigkeit, resultierend aus dem Versuch, es allen recht zu machen. Einig sind sich alle, dass der Partei mehr Geschlossenheit guttun würde. Und jemand, der die widerstreitenden Lager zusammenhält. Armin Laschet galt immer als so einer. Jetzt muss es jemand besser können.
Wer aber könnte das sein? Wenn Konzerne Chefposten ausschreiben, steht in den Stellenanzeigen oft etwas von Führungserfahrung, Teamfähigkeit, Kompetenz. Und fast immer auch, dass man offen für alle sei: m/w/d. Männlich, weiblich, divers. Da beginnt das Problem. Die meisten CDU-Mitglieder sind weder weiblich noch divers, sondern ältere Männer. Die Leute, die CDU wählen sollen, sind aber zur Hälfte Frauen. Viele von ihnen sind jung, und wenn sie zuletzt CDU gewählt haben, dann oft wegen Merkel.
Die Union braucht also jemanden, der alles ist. „m/w/d“ in einem, konservativ und liberal, frisch, aber erfahren. Eine „eierlegende Wollmilchsau“ also, wie ein Abgeordneter sagt.
Die gibt es aber nicht. Dafür gibt es ein Schema, das zuletzt immer wiederkehrt. Es heißt: Merz gegen irgendjemanden. Mal Annegret Kramp-Karrenbauer, mal Laschet, immer aber jemand aus der liberalen Merkel-Strömung, während Merz für die Merkel-Kritiker stand.
Diesmal ist die Aufstellung anders. Merz ist im Spiel, wie immer. Aber auf der anderen Seite kommt nach Laschet niemand. Im Merkel-Flügel wissen sie das. „Wie weiter?“, fragt jemand aus dem inneren Kreis – und gibt gleich die Antwort: „Da fehlt mir gerade die Fantasie.“ Man hat hier zwar eine Personenbeschreibung, aber keine Person. Jemand „wie Laschet“ dürfte es sein, aber vielleicht ohne Laschets Fehler. Bloß: Der „Heilsbringer“ ist „nicht in Sicht“, sagt eine von denen, die sich „liberale Mitte“ nennen. Sie weiß nur, wer es nicht sein soll: So ein „schneidiger Alpha“ darf es nicht werden, so einer, der „mit Frauen nicht klarkommt“.
Mehr als einer denkt so. „Ich hoffe, dass die Partei so klug ist, einen aus der Mitte zu nehmen, nicht einen wie Merz“, sagt ein führender Abgeordneter. Sonst werde die CDU „zur Nischenpartei“. Bei der liberalen Mitte sammeln sie schon die Argumente gegen den „Merz aus dem Sauerland“, bevor der überhaupt seinen Hut in den Ring geworfen hat. Das Wichtigste: Merz habe eben immer nur „Niederlagen kassiert“. Und manchmal klingen Bosheiten durch. Dass dieser Mann nur deshalb immer wieder sinnlose Anläufe nehme, weil er seine Niederlage gegen Angela Merkel vor fast zwanzig Jahren nicht verkraftet habe. Dass er „getrieben ist von seinen Verletzungen“.
Die Merzianer sehen das anders. Ihr Matador hat zwar zweimal im inneren Machtkampf verloren, aber immer nur ganz knapp. Er hat die Sieger überlebt, und jetzt tut er alles, um das Negativbild vom „schneidigen Alpha“ zu widerlegen. Gleich mehrere, die zu ihm halten, malen mit viel Liebe das Bild eines Mannes, der alles andere als scharf ist auf die Bürde des Parteivorsitzes. Auch bei Merz habe die „persönliche Leidensfähigkeit“ Grenzen, meint einer. Ein anderer sagt, dass Merz eben auch sein Alter kenne. 2025, bei der nächsten Bundestagswahl, werde er siebzig sein. Wenn er dann gewinne und 2029 vielleicht wieder, sei er am Ende einer zweiten Amtszeit fast achtzig. Demonstrative Bescheidenheit also.
Bei einem aber sind die Merzianer gar nicht versöhnlich: bei Jens Spahn. Der will an die Spitze, das steht für sie fest. Er ist in Umfragen beliebter als Merz, und so suchen die Merz-Leute Angriffsflächen. Eine davon ist die Erzählung, vom Trickser, vom Mann ohne Loyalität. Als letzter Beweis gilt die Beobachtung, dass Spahn zwar lange so getan habe, als unterstütze er Laschet. Seit der Wahlniederlage aber demontiere er ihn mit seiner Forderung nach mehr Raum für die junge Generation. Bei den Merzianern fallen jedenfalls schlimme Worte. Ein „falscher Hund“ sei Spahn, einer, dem man nicht den Rücken zukehrt, „sonst hat man ein Messer in den Rippen“. Auch außerhalb des Merz-Umfelds hört man Süffisantes. Spahn komme jung daher, sagt einer, und dabei sei er jetzt schon fast zwanzig Jahre im Bundestag. „Das ist natürlich eine Nummer.“
Dass Spahn so viel Gift auf sich zieht, hat auch damit zu tun, dass er stark ist. Er wirkt über die Grenzen der Lager hinaus. Vielen Konservativen ist er sympathisch, seit er den UN-Migrationspakt kritisiert hat, angeblich ein Einfallstor für mehr Einwanderung. Einer von ihnen sagt, fast so gerne wie Merz hätte er Spahn. Aber auch manche von den Liberalen sehen „gute Ansätze“. Spahn bekennt sich offen zu seiner Homosexualität, das gefällt ihnen. Einer aus dem Merkel-Flügel sagt, auch wenn Spahns „moralisch-ethische Qualität“ ihn nicht überzeuge, habe der Gesundheitsminister mit der Pandemie doch eine „extrem große Herausforderung“ gemeistert.
Nicht einfach also für die CDU: die Liberalen ohne Führung, die Konservativen mit einem Merz, der zwar viele Freunde hat, aber auch viele Gegner. Dazwischen Spahn, dem aber viele nicht trauen. Manche wollen da Zeit gewinnen. Im März wird im Saarland gewählt, im Mai in Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein, im Oktober in Niedersachsen. Ende April kommt noch die Neuwahl des Fraktionsvorsitzenden im Bundestag. Da könnten neue Akteure aufs Feld treten. Die Ministerpräsidenten Daniel Günther, Tobias Hans und Hendrik Wüst aus Kiel, Saarbrücken oder Düsseldorf oder der Fraktionschef Ralph Brinkhaus. Jeder von ihnen wäre als Sieger ein unverbrauchter Bewerber für den CDU-Vorsitz. Ihr Problem: Die Partei braucht Führung, und zwar jetzt.
Manche finden, dass ein Treuhänder die Lösung sein könnte: einer an der Spitze, der Zeit gewinnt. Jemand ohne „eigennützige Motive“, wie ein CDU-Vorstandsmitglied sagt, der aber „das Regierungs- und Parlamentsgeschäft gut kennt“. Er müsste den Übergang moderieren und Weichen stellen. Doch auch so jemand ist schwer zu finden – und schwer durchzusetzen gegen jene, die gleich ranwollen. Die CDU sucht also weiter ihren Retter. Kein leichter Job.